IZPR: Maßgeblichkeit des deliktischen
Gerichtsstands (Art. 5 Nr. 3 EuGVO) für negative Feststellungsklagen;
anderweitige Rechtshängigkeit (Art. 27 EuGVO)
EuGH v. 25.10.2012 - Rs. C-133/11
(Folien Fischer)
Fundstelle:
NJW 2013, 287
Tenor:
Art. 5 Nr. 3 der
Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die
gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von
Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass
eine negative Feststellungsklage mit dem Antrag, festzustellen, dass keine
Haftung aus einer unerlaubten Handlung oder einer Handlung, die einer
unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, besteht, unter diese Bestimmung
fällt.
Zentrale Probleme:
Es geht um die Frage, ob die Zuständigkeitsvorschrift des Art. 5 Nr. 3 EuGVO
für den deliktischen Gerichtsstand auch für negative Feststellungsklagen gilt. Der EuGH
bejaht diese Frage in einem auf Vorlage des BGH ergangenen Beschluss mit
überzeugender Begründung. Gegenstand ist eine klassische "Torpedoklage", mit
der einer Klage der anderen Seite mit Rechtshängigkeitssperre
entgegengewirkt werden soll. S, dazu jetzt auch
EuGH v. 3.4.2014 - Rs. C-438/12 (Weber).
©sl 2011
Urteil:
1 Das
Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Nr. 3 der
Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die
gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der
Folien Fischer AG (im Folgenden: Folien Fischer) und der Fofitec AG (im
Folgenden: Fofitec), beide mit Sitz in der Schweiz, auf der einen Seite und
der Ritrama SpA (im Folgenden: Ritrama) mit Sitz in Italien auf der anderen
Seite über den Antrag der beiden Erstgenannten auf negative Feststellung,
dass keine Haftung aus unerlaubter Handlung im Bereich des Kartellrechts
besteht.
Rechtlicher Rahmen
3 Nach ihrem zweiten Erwägungsgrund wird mit der Verordnung
Nr. 44/2001 im Interesse eines reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts
darauf abgezielt, „Bestimmungen zu erlassen, um die Vorschriften über die
internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen zu vereinheitlichen
und die Formalitäten im Hinblick auf eine rasche und unkomplizierte
Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen aus den durch diese
Verordnung gebundenen Mitgliedstaaten zu vereinfachen“.
4 Der elfte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001 lautet:
„Die Zuständigkeitsvorschriften müssen in hohem Maße vorhersehbar sein und
sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten, und diese
Zuständigkeit muss stets gegeben sein außer in einigen genau festgelegten
Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit
der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. Der Sitz
juristischer Personen muss in der Verordnung selbst definiert sein, um die
Transparenz der gemeinsamen Vorschriften zu stärken und Kompetenzkonflikte
zu vermeiden.“
5 Der zwölfte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001 sieht vor:
„Der Gerichtsstand des Wohnsitzes des Beklagten muss durch alternative
Gerichtsstände ergänzt werden, die entweder aufgrund der engen Verbindung
zwischen Gericht und Rechtsstreit oder im Interesse einer geordneten
Rechtspflege zuzulassen sind.“
6 Im 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001 heißt es:
„Im Interesse einer abgestimmten Rechtspflege müssen Parallelverfahren so
weit wie möglich vermieden werden, damit nicht in zwei Mitgliedstaaten
miteinander unvereinbare Entscheidungen ergehen. …“
7 Der 19. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001 lautet:
„Um die Kontinuität zwischen dem [Übereinkommen vom 27. September 1968 über
die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher
Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der
durch die aufeinanderfolgenden Übereinkommen über den Beitritt neuer
Mitgliedstaaten zu diesem Übereinkommen geänderten Fassung (im Folgenden:
Brüsseler Übereinkommen)] und dieser Verordnung zu wahren, sollten
Übergangsvorschriften vorgesehen werden. Dies gilt auch für die Auslegung
der Bestimmungen des Brüsseler Übereinkommens durch den Gerichtshof …“
8 Die Zuständigkeitsvorschriften sind in Kapitel II der Verordnung
Nr. 44/2001, in den Art. 2 bis 31, enthalten.
9 Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001, der zu Abschnitt 1
(„Allgemeine Vorschriften“) des Kapitels II gehört, bestimmt:
„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren
Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf
ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu
verklagen.“
10 Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001, der zu demselben Abschnitt
gehört, bestimmt:
„Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben,
können vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nur gemäß den
Vorschriften der Abschnitte 2 bis 7 dieses Kapitels verklagt werden.“
11 Art. 5 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001, der zu Abschnitt 2
(„Besondere Zuständigkeiten“) des Kapitels II gehört, sieht vor:
„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat,
kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:
…
3. wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer
unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer
solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des
Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten
droht“.
12 Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 lautet:
„(1) Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen
desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt
das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die
Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.
(2) Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht,
erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für
unzuständig.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
13 Folien Fischer, die in der Schweiz ansässig ist, befasst
sich mit der Entwicklung, der Herstellung und dem Verkauf beschichteter
Papierwaren und Folien. Sie vertreibt u. a. in Deutschland Trägermaterial
für Kartenformulare in Endlosform.
14 Fofitec, die ihren Geschäftssitz ebenfalls in der Schweiz hat und
zur Unternehmensgruppe von Folien Fischer gehört, ist Inhaberin von
Patenten, die bestimmte Formulare zur Übermittlung eines Anschreibens
zusammen mit einem Mitgliedsausweis oder dergleichen sowie das
Trägermaterial für diese Kartenformulare unter Schutz stellen.
15 Ritrama, die in Italien ansässig ist, entwickelt, produziert und
vertreibt Laminate und veredelte Folien
verschiedener Art.
16 Im März 2007 beanstandete Ritrama mit einem Schreiben das
Vertriebsverhalten von Folien Fischer und deren Weigerung, Patentlizenzen zu
erteilen, als kartellrechtswidrig.
17 Nach Erhalt dieses Schreibens erhoben Folien Fischer und
Fofitec beim Landgericht Hamburg (Deutschland) eine negative
Feststellungsklage, mit der sie beantragen, festzustellen, dass Folien
Fischer nicht verpflichtet ist, ihre Verkaufspraxis in Bezug auf die
Rabattierung und Ausgestaltung der Vertriebsverträge zu unterlassen, und
dass Ritrama hinsichtlich dieser Verkaufspraxis weder ein Beseitigungs‑ noch
ein Schadensersatzanspruch zusteht. Ferner beantragten Folien
Fischer und Fofitec die Feststellung, dass Fofitec nicht zur Gewährung einer
Lizenz in Bezug auf zwei ihr zustehende Patente, mit denen die Herstellung
von Formularen sowie Trägermaterialien für die Herstellung von Formularen
geschützt wird, verpflichtet ist.
18 Nach der Erhebung dieser negativen Feststellungsklage reichten
Ritrama und die Ritrama AG, eine in der Schweiz ansässige
Tochtergesellschaft, beim Tribunale di Milano (Italien) eine Leistungsklage
ein, mit der sie geltend machten, Folien Fischer und Fofitec verhielten sich
kartellrechtswidrig, und Schadensersatz sowie die Verurteilung von Fofitec
zur Erteilung von Lizenzen an den in Rede stehenden Patenten beantragten. In
der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof hat Ritrama erklärt, dass
dieses Verfahren ausgesetzt sei.
19 Die von Folien Fischer und Fofitec erhobene negative
Feststellungsklage wurde vom Landgericht Hamburg als unzulässig abgewiesen.
Das Urteil dieses Gerichts wurde im Berufungsverfahren durch das
Oberlandesgericht Hamburg (Deutschland) bestätigt.
20 Das Oberlandesgericht Hamburg verneinte in seiner Entscheidung die
Zuständigkeit der deutschen Gerichte mit der Begründung, dass der
Deliktsgerichtsstand nach Art. 5 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 für eine
negative Feststellungsklage wie die von Folien Fischer und Fofitec erhobene
nicht gegeben sei, da mit dieser geltend gemacht werde, dass gerade keine
unerlaubte Handlung begangen worden sei.
21 Der Bundesgerichtshof, der mit der von Folien Fischer und
Fofitec eingelegten Revision befasst ist, fragt sich, ob eine Zuständigkeit
nach Art. 5 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 auch dann gegeben ist, wenn der
potenzielle Schädiger eine negative Feststellungsklage erhebt, mit der er
die Feststellung beantragt, dass dem potenziellen Geschädigten keine
Ansprüche aus einer möglichen unerlaubten Handlung zustehen. Er hat
daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende
Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 5 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin gehend auszulegen,
dass der Gerichtsstand der unerlaubten Handlung auch für eine negative
Feststellungsklage eröffnet ist, mit der vom potenziellen Schädiger geltend
gemacht wird, dass dem potenziellen Geschädigten aus einem bestimmten
Lebenssachverhalt keine Ansprüche aus unerlaubter Handlung (hier: Verstoß
gegen kartellrechtliche Vorschriften) zustehen?
Zur Vorlagefrage
Zur Zulässigkeit
22 Ritrama bestreitet die Relevanz der Vorlagefrage für die
Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits. Ihr Schreiben vom März 2007, auf das
sich das vorlegende Gericht beziehe, stelle sich nicht als formale
Abmahnung, sondern als einfache Aufforderung zur Aufnahme von Verhandlungen
zur Lösung der Meinungsverschiedenheit dar. Dieses Schreiben sei im
prozessualen Sinne keine geeignete Grundlage und kein geeigneter Anlass
dafür, sie mit einer Klage zu überziehen. Folien Fischer und Fofitec fehle
somit das Feststellungsinteresse.
23 Ritrama macht ferner geltend, dass die streitige unerlaubte Handlung
nicht im prozessualen Sinne in Deutschland vorgenommen worden sein könne, da
sie in diesem Mitgliedstaat nicht mit Folien Fischer und Fofitec in
Wettbewerb stehe. Folglich könnten die deutschen Gerichte ihre Zuständigkeit
nicht auf Art. 5 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 stützen.
24 Insoweit ist zum einen festzustellen, dass Ritrama darauf abzielt,
das Rechtsschutzinteresse von Folien Fischer und Fofitec im Verfahren vor
dem vorlegenden Gericht in Frage zu stellen, und die Erheblichkeit der
Vorlagefrage rügt. Wie der Gerichtshof bereits dargelegt hat, ist
jedoch allein das vorlegende Gericht für die Feststellung und die Würdigung
des Sachverhalts des ihm vorliegenden Rechtsstreits und für die Auslegung
und die Anwendung des nationalen Rechts zuständig (vgl. Urteile vom
11. September 2008, Eckelkamp u. a., C‑11/07, Slg. 2008, I‑6845, Randnr. 32,
und vom 26. Mai 2011, Stichting Natuur en Milieu u. a., C‑165/09 bis
C‑167/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 47).
25 Zum anderen entspricht es jedenfalls ständiger
Rechtsprechung, dass nur das nationale Gericht im Hinblick auf die
Besonderheiten der bei ihm anhängigen Rechtssache sowohl die
Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als
auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu
beurteilen hat (Urteile vom 7. Dezember 2010, VEBIC, C‑439/08, Slg.
2010, I‑12471, Randnr. 41, und vom 16. Februar 2012, Eon Aset Menidjmunt,
C‑118/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 76
und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Die Entscheidung über eine von einem nationalen Gericht zur
Vorabentscheidung vorgelegte Frage kann nur dann abgelehnt werden, wenn die
erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang
mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn
das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über
die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine
zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind
(vgl. u. a. Urteile vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10
und C‑189/10, Slg. 2010, I‑5667, Randnr. 27, und vom 28. Februar 2012,
Inter-Environnement Wallonie und Terre wallonne, C‑41/11, noch nicht in der
amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 35).
27 Dies ist hier nicht der Fall, da das vorlegende Gericht klar
angegeben hat, aus welchen Gründen es das Vorabentscheidungsersuchen
vorgelegt hat und warum eine Beantwortung der Frage für die Entscheidung des
bei ihm anhängigen Rechtsstreits erforderlich ist.
28 Das Vorabentscheidungsersuchen ist daher zulässig.
Zur Beantwortung der Frage
29 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5
Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass eine negative
Feststellungsklage mit dem Antrag, festzustellen, dass keine Haftung aus
unerlaubter Handlung besteht, unter diese Bestimmung fällt.
Einleitende Bemerkungen
30 Erstens ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die
Bestimmungen der Verordnung Nr. 44/2001 autonom und unter Bezugnahme auf die
Systematik und die Zielsetzungen dieser Verordnung auszulegen sind
(vgl. u. a. Urteile vom 16. Juli 2009, Zuid-Chemie, C‑189/08, Slg. 2009,
I‑6917, Randnr. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 25.
Oktober 2011,
eDate Advertising und Martinez, C‑509/09 und C‑161/10,
noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 38).
31 Zum anderen gilt, da die Verordnung Nr. 44/2001 in den Beziehungen
der Mitgliedstaaten das Brüsseler Übereinkommen ersetzt, die Auslegung der
Bestimmungen dieses Übereinkommens durch den Gerichtshof auch für die
Bestimmungen der Verordnung, soweit die Bestimmungen dieser Rechtsakte als
gleichbedeutend angesehen werden können (Urteile Zuid-Chemie, Randnr. 18,
und eDate
Advertising und Martinez, Randnr. 39).
32 In den in der vorliegenden Rechtssache relevanten Bestimmungen der
Verordnung Nr. 44/2001, Art. 5 Nr. 3 und Art. 27, kommt die gleiche
Systematik zum Ausdruck wie in den Bestimmungen des Brüsseler
Übereinkommens, und sie haben darüber hinaus nahezu denselben Wortlaut. In
Anbetracht der derart festgestellten Bedeutungsgleichheit ist entsprechend
dem 19. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001 die Kontinuität bei der
Auslegung dieser beiden Rechtsakte zu wahren (vgl. Urteil Zuid-Chemie,
Randnr. 19).
33 Zweitens ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr.
44/2001 einen der Rechtssicherheit dienenden Zweck verfolgt, der darin
besteht, den Rechtsschutz der in der Europäischen Union ansässigen Personen
in der Weise zu verbessern, dass ein Kläger ohne Schwierigkeiten
festzustellen vermag, welches Gericht er anrufen kann, und ein Beklagter bei
vernünftiger Betrachtung vorhersehen kann, vor welchem Gericht er verklagt
werden kann (vgl. u. a. Urteil vom 23. April 2009, Falco Privatstiftung und
Rabitsch, C‑533/07, Slg. 2009, I‑3327, Randnr. 22 und die dort angeführte
Rechtsprechung, und vom 17. November 2011, Hypoteční banka, C‑327/10, noch
nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 44).
34 Zum anderen sind die Vorschriften der Verordnung Nr. 44/2001, in
denen besondere Zuständigkeiten vorgesehen sind, entsprechend dem zwölften
Erwägungsgrund dieser Verordnung unter Berücksichtigung des Ziels der
Förderung einer geordneten Rechtspflege auszulegen.
35 Art. 5 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 ist im Licht dieser
Erwägungen auszulegen.
Der Geltungsbereich von Art. 5 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001
36 Die in Art. 5 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 aufgestellte
besondere Zuständigkeitsregel ist nach dem Wortlaut dieser Vorschrift
allgemein für Fälle vorgesehen, in denen „eine unerlaubte Handlung
oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist,
oder … Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens
bilden". Diese Formulierung erlaubt es damit nicht, eine
negative Feststellungsklage ohne Weiteres vom Geltungsbereich dieser
Vorschrift auszuschließen.
37 Nach ständiger Rechtsprechung beruht die besondere
Zuständigkeitsregel, mit der in Art. 5 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 vom
Grundsatz der Zuständigkeit der Gerichte am Beklagtenwohnsitz abgewichen
wird, darauf, dass zwischen der Streitigkeit und den Gerichten des Ortes, an
dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht, eine
besonders enge Beziehung besteht, die aus Gründen einer geordneten
Rechtspflege und einer sachgerechten Gestaltung des Prozesses eine
Zuständigkeit dieser Gerichte rechtfertigt (vgl. Urteile Zuid-Chemie,
Randnr. 24, und
eDate Advertising und Martinez, Randnr. 40).
38 Bei unerlaubten Handlungen ist nämlich das Gericht des
Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten
droht, insbesondere wegen der Nähe zum Streitgegenstand und der leichteren
Beweisaufnahme in der Regel am besten in der Lage, den Rechtsstreit zu
entscheiden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Oktober 2002,
Henkel, C‑167/00, Slg. 2002, I‑8111, Randnr. 46, und Zuid-Chemie, Randnr.
24).
39 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Wendung „Ort, an dem
das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht“ in Art. 5
Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 sowohl den Ort der Verwirklichung des
Schadenserfolgs als auch den Ort des für den Schaden ursächlichen Geschehens
meint, so dass der Beklagte nach Wahl des Klägers vor dem Gericht eines
dieser beiden Orte verklagt werden kann (Urteil vom 19. April 2012,
Wintersteiger, C‑523/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung
veröffentlicht, Randnr. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Ein nationales Gericht muss daher einen dieser beiden
Anknüpfungspunkte feststellen, um sich für einen Rechtsstreit über eine
unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung
gleichgestellt ist, oder Ansprüche aus einer solchen Handlung für zuständig
erklären zu können.
41 Es geht also darum, zu bestimmen, ob die gerichtliche Zuständigkeit
für eine negative Feststellungsklage ungeachtet ihrer Besonderheit auf der
Grundlage der in Art. 5 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 aufgestellten
Kriterien eröffnet sein kann.
42 Hierzu ist festzustellen, dass die Besonderheit einer negativen
Feststellungsklage darin besteht, dass der Kläger die Feststellung begehrt,
dass die Voraussetzungen der Haftung, aus der sich für den Beklagten ein
Schadensersatzanspruch ergeben könnte, nicht gegeben sind.
43 Vor diesem Hintergrund hat eine negative Feststellungsklage, wie der
Generalanwalt in Nr. 46 seiner Schlussanträge dargelegt hat, daher zur
Folge, dass sich die im Deliktsrecht üblichen Rollen umkehren, da Kläger der
potenzielle Schuldner einer Forderung aus unerlaubter Handlung ist, während
Beklagter der potenzielle Geschädigte dieser Handlung ist.
44 Durch diese Umkehrung der Rollen wird eine negative
Feststellungsklage aber nicht vom Geltungsbereich des Art. 5 Nr. 3 der
Verordnung Nr. 44/2001 ausgeschlossen.
45 Die mit dieser Bestimmung verfolgten Ziele der Vorhersehbarkeit des
Gerichtsstands und der Rechtssicherheit, auf die in der Rechtsprechung
wiederholt hingewiesen wurde (vgl. Urteile vom 15. März 2012, G, C‑292/10,
noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 39, und
Wintersteiger, Randnr. 23), hängen nämlich weder mit der Verteilung der
Rollen von Kläger und Beklagtem noch mit dem Schutz von Kläger oder
Beklagtem zusammen.
46 Insbesondere wird mit Art. 5 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 nicht
wie mit den Zuständigkeitsvorschriften in den Abschnitten 3 bis 5 des
Kapitels II dieser Verordnung bezweckt, der schwächeren Partei einen
verstärkten Schutz zu gewährleisten (vgl. Urteil vom 20. Mai 2010, ČPP
Vienna Insurance Group, C‑111/09, Slg. 2010, I‑4545, Randnr. 30 und die dort
angeführte Rechtsprechung).
47 Wie Folien Fischer und Fofitec sowie die deutsche, die französische,
die niederländische und die portugiesische Regierung und die Europäische
Kommission zutreffend vortragen, hängt die Anwendung von Art. 5 Nr. 3 der
Verordnung Nr. 44/2001 daher nicht von der Voraussetzung ab, dass das
mutmaßliche Opfer die Klage erhoben hat.
48 Zwar unterscheiden sich die Interessen desjenigen, der eine negative
Feststellungsklage erhebt, und die Interessen desjenigen, der eine Klage
erhebt, die auf die Feststellung der Haftung des Beklagten für einen Schaden
und auf seine Verurteilung zu Schadensersatz gerichtet ist. In
beiden Fällen bezieht sich die von dem angerufenen Gericht vorgenommene
Prüfung aber im Wesentlichen auf dieselben tatsächlichen und rechtlichen
Aspekte.
49 Im Übrigen ergibt sich aus Randnr. 45 des Urteils vom 6. Dezember
1994, Tatry (C‑406/92, Slg. 1994, I‑5439), auch wenn dieses die Auslegung
von insbesondere Art. 21 des Brüsseler Übereinkommens über die
Rechtshängigkeit – jetzt Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 – betrifft,
dass eine Klage, die auf die Feststellung, dass der Beklagte für
einen Schaden haftet, und auf seine Verurteilung zur Zahlung von
Schadensersatz gerichtet ist, und eine von dem entsprechenden Beklagten
erhobene Klage auf Feststellung, dass er für diesen Schaden nicht haftet,
denselben Anspruch betreffen.
50 Zu präzisieren bleibt noch, dass das angerufene Gericht im Stadium
der Prüfung der internationalen Zuständigkeit weder die Zulässigkeit noch
die Begründetheit der negativen Feststellungsklage nach den Vorschriften des
nationalen Rechts prüft, sondern nur die Anknüpfungspunkte mit dem Staat des
Gerichtsstands ermittelt, die seine Zuständigkeit nach Art. 5 Nr. 3 der
Verordnung Nr. 44/2001 rechtfertigen.
51 Unter diesen Umständen wirkt sich die in Randnr. 42 des vorliegenden
Urteils dargelegte Besonderheit der negativen Feststellungsklage nicht auf
die Prüfung aus, die ein nationales Gericht im Hinblick auf die Bestimmung
seiner gerichtlichen Zuständigkeit für eine unerlaubte Handlung oder eine
Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder Ansprüche
aus einer solchen Handlung vorzunehmen hat, da es nur darum geht, das
Vorliegen eines Anknüpfungspunkts mit dem Staat des Gerichtsstands
festzustellen.
52 Wenn die Umstände, die bei einer negativen Feststellungsklage in
Rede stehen, eine Anknüpfung an den Staat rechtfertigen können, in dem sich
entweder das ursächliche Geschehen ereignet hat oder der Schaden eingetreten
ist oder einzutreten droht, kann sich somit das Gericht eines dieser beiden
Orte nach der in Randnr. 39 des vorliegenden Urteils angeführten
Rechtsprechung gemäß Art. 5 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 für diese Klage
zu Recht für zuständig erklären, ohne dass es darauf ankäme, ob die Klage
vom mutmaßlichen Opfer einer unerlaubten Handlung oder vom potenziellen
Schuldner einer Forderung aus dieser Handlung erhoben wurde.
53 Dagegen darf sich ein Gericht, das im Staat des Gerichtsstands
keinen der beiden in Randnr. 39 des vorliegenden Urteils genannten
Anknüpfungspunkte feststellen kann, nicht für zuständig erklären, da es
sonst die Ziele von Art. 5 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 missachten
würde.
54 Nach alledem ist eine negative Feststellungsklage im
Hinblick auf die Bestimmung der Zuständigkeit der nationalen Gerichte nicht
vom Geltungsbereich des Art. 5 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001
ausgeschlossen.
55 Folglich ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass
Art. 5 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass eine
negative Feststellungsklage mit dem Antrag, festzustellen, dass keine
Haftung aus einer unerlaubten Handlung oder einer Handlung, die einer
unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, besteht, unter diese Bestimmung
fällt.
Kosten
56 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren
ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen
Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die
Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem
Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 5 Nr. 3 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000
über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung
von Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass
eine negative Feststellungsklage mit dem Antrag, festzustellen, dass keine
Haftung aus einer unerlaubten Handlung oder einer Handlung, die einer
unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, besteht, unter diese Bestimmung
fällt.
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