IZPR: Keine Rechtshängigkeitssperre nach Art. 27
EuGVO bei ausschließlicher internationaler Zuständigkeit des später
angerufenen Gerichts ("italienischer Torpedo")
EuGH v. 3.4.2014 - Rs. C-438/12 (Weber)
Fundstelle:
NJW 2014, 1871
Tenor:
1. Art. 22 Nr. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001
des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die
Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
ist dahin auszulegen, dass zur Kategorie der Rechtsstreitigkeiten, „welche
dingliche Rechte an unbeweglichen Sachen … zum Gegenstand haben“, im Sinne
dieser Vorschrift eine Klage gehört, die – wie die hier bei dem Gericht
eines anderen Mitgliedstaats erhobene – auf Feststellung der Ungültigkeit
der Ausübung eines Vorkaufsrechts gerichtet ist, das an diesem Grundstück
besteht und gegenüber jedermann wirkt.
2. Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 ist dahin auszulegen, dass das
später angerufene Gericht, bevor es das Verfahren gemäß dieser Vorschrift
aussetzt, prüfen muss, ob eine etwaige Sachentscheidung des zuerst
angerufenen Gerichts nach Art. 35 Abs. 1 dieser Verordnung wegen Verletzung
der in ihrem Art. 22 Nr. 1 vorgesehenen ausschließlichen Zuständigkeit in
den übrigen Mitgliedstaaten nicht anerkannt würde.
Zentrale Probleme:
Es geht um ein Verfahren auf Vorlage des OLG München
(zu einer Vorlage bzgl einer ganz ähnlichen Problematik s.
BGH v. 18.8.2013 - V ZB 163/12).
Im Mittelpunkt steht um ein Klassikerproblem des IZPR: Wenn in einem
Mitgliedsstaat eine Klage anhängig gemacht wird, die bereits bzgl. desselben
Streitgegenstands zwischen denselben an einem Gericht eines anderen
Mitgliedstaats anhängig ist, hat nach Art. 27 I EuGVO (zur Vermeidung
widersprechender Entscheidungen) das später angerufene Gericht das Verfahren
auszusetzen, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.
Das kann eine Person, die erwartet, verklagt zu werden, dazu verleiten, den
Streitgegenstand selbst (etwa im Wege einer negativen Feststellungsklage, s. BGH v. 18.8.2013 - V ZB 163/12) vor
einem Gericht geltend zu machen, dass unzuständig ist, bei welchem aber das
Verfahren typischerweise lange dauert.
Mit diesem Mittel kann man quasi im
Vorfeld eine Klage beim tatsächlich zuständigen Gericht blockieren
("torpedieren"). In der
Praxis finden solche Klagen sehr häufig in Italien statt. Deshalb wird diese
Vorgehensweise auch salopp als der „italienische Torpedo“ bezeichnet. Dass es dem
vorliegenden Gericht gerade um diese Frage ging, erkennt man sehr gut an der
Vorlagefrage Nr. 7a.
Nach der
bisherigen Rechtsprechung des EuGH, die der Senat detailliert darlegt, kann
einem solchen Vorgehen nicht mit dem Einwand des Rechtsmissbrauchs begegnet
werden (EuGH v. 25.10.2012 -
Rs. C-133/11 Folien Fischer). Hier geht es jetzt darum, ob dies auch zu gelten hat, wenn das
zuletzt angerufene Gericht nach der EuGVO ausschließlich
zuständig ist. Es ging nämlich um eine Klage auf Feststellung der
Nichtausübung eines dinglichen Vorkaufsrechts, die der Gerichtshof als
dingliche Klage i.S.v. Art. 22 Nr. 1 EuGVO qualifiziert (s. bei
Rn. 42 ff). Damit besteht ein ausschließlicher
Gerichtsstand am Belegenheitsort, hier also in Deutschland.
Im Ergebnis verneint der EuGH hier eine Rechtshängigkeitssperre.
Zentrales Argument ist, dass eine Sachentscheidung des zunächst angerufenen
Gerichts nach Art. 35 EuGVO nicht anerkennungsfähig wäre, weil ein
ausschließlicher Gerichtsstand verletzt worden wäre (s. dazu
Rn. 48 ff). Damit entspreche es nicht einer geordneten Rechtspflege, dem
später angerufenen, ausschließlich zuständigen Gericht eine Sachentscheidung
zu versagen. Die ratio des Art. 27 EuGVO, sich widersprechende, im
jeweiligen Land gleichermaßen gültige Sachentscheidung zu vermeiden, trifft
in dieser Konstellation nicht zu.
Von allgemeinem Interesse in Bezug auf die Vorlageverfahren nach Art. 267
AEUV sind die Ausführungen zur Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage
(s. bei Rn. 34 f): Diese prüft
der EuGH nach ständiger Rechtsprechung nur in seltenen Ausnahmefällen. Im
Grundsatz ist dies eine Frage, die das vorlegende Gericht alleine nach
nationalem Recht zu beantworten hat.
©sl 2014
Urteil:
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 22 Nr. 1,
27 und 28 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000
über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung
von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem Frau
Irmengard Weber (im Folgenden: Frau I. Weber) die Verurteilung ihrer
Schwester Frau Mechthilde Weber (im Folgenden: Frau M. Weber) zur
Bewilligung der Eintragung von Frau I. Weber als Eigentümerin in das
Grundbuch begehrt.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Im zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001 heißt es:
„Die Unterschiede zwischen bestimmten einzelstaatlichen Vorschriften über
die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen
erschweren das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts. Es ist daher
unerlässlich, Bestimmungen zu erlassen, um die Vorschriften über die
internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen zu vereinheitlichen
und die Formalitäten im Hinblick auf eine rasche und unkomplizierte
Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen aus den durch diese
Verordnung gebundenen Mitgliedstaaten zu vereinfachen.“
4 Der 15. Erwägungsgrund dieser Verordnung lautet:
„Im Interesse einer abgestimmten Rechtspflege müssen Parallelverfahren so
weit wie möglich vermieden werden, damit nicht in zwei Mitgliedstaaten
miteinander unvereinbare Entscheidungen ergehen. Es sollte eine klare und
wirksame Regelung zur Klärung von Fragen der Rechtshängigkeit und der im
Zusammenhang stehenden Verfahren sowie zur Verhinderung von Problemen
vorgesehen werden, die sich aus der einzelstaatlich unterschiedlichen
Festlegung des Zeitpunkts ergeben, von dem an ein Verfahren als rechtshängig
gilt. Für die Zwecke dieser Verordnung sollte dieser Zeitpunkt autonom
festgelegt werden.“
5 Im 16. Erwägungsgrund der Verordnung heißt es:
„Das gegenseitige Vertrauen in die Justiz im Rahmen der [Union]
rechtfertigt, dass die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen,
außer im Falle der Anfechtung, von Rechts wegen, ohne ein besonderes
Verfahren, anerkannt werden.“
6 Art. 22 Nr. 1 der Verordnung, der zu Abschnitt 6 („Ausschließliche
Zuständigkeiten“) ihres Kapitels II gehört, sieht vor:
„Ohne Rücksicht auf den Wohnsitz sind ausschließlich zuständig:
1. für Klagen, welche dingliche Rechte an unbeweglichen Sachen sowie die
Miete oder Pacht von unbeweglichen Sachen zum Gegenstand haben, die Gerichte
des Mitgliedstaats, in dem die unbewegliche Sache belegen ist.
…“
7 Art. 25 der Verordnung Nr. 44/2001, der zu Abschnitt 8 („Prüfung der
Zuständigkeit und der Zulässigkeit des Verfahrens“) ihres Kapitels II
gehört, bestimmt:
„Das Gericht eines Mitgliedstaats hat sich von Amts wegen für unzuständig zu
erklären, wenn es wegen einer Streitigkeit angerufen wird, für die das
Gericht eines anderen Mitgliedstaats aufgrund des Artikels 22 ausschließlich
zuständig ist.“
8 Art. 27 dieser Verordnung, der zu Abschnitt 9 („Rechtshängigkeit und im
Zusammenhang stehende Verfahren“) ihres Kapitels II gehört, lautet:
„(1)Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen
desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt
das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die
Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.
(2) Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht,
erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für
unzuständig.“
9 Art. 28 der Verordnung, der im Zusammenhang stehende Verfahren regelt,
bestimmt:
„(1) Sind bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen, die im
Zusammenhang stehen, anhängig, so kann jedes später angerufene Gericht das
Verfahren aussetzen.
…
(3) Klagen stehen im Sinne dieses Artikels im Zusammenhang, wenn zwischen
ihnen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung
und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten
Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.“
10 Art. 34 der Verordnung sieht vor:
„Eine Entscheidung wird nicht anerkannt, wenn
1. die Anerkennung der öffentlichen Ordnung (ordre public) des
Mitgliedstaats, in dem sie geltend gemacht wird, offensichtlich
widersprechen würde;
2. dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das
verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück
nicht so rechtzeitig und in einer Weise zugestellt worden ist, dass er sich
verteidigen konnte, es sei denn, der Beklagte hat gegen die Entscheidung
keinen Rechtsbehelf eingelegt, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte;
3. sie mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die zwischen denselben
Parteien in dem Mitgliedstaat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird,
ergangen ist;
4. sie mit einer früheren Entscheidung unvereinbar ist, die in einem anderen
Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat zwischen denselben Parteien in einem
Rechtsstreit wegen desselben Anspruchs ergangen ist, sofern die frühere
Entscheidung die notwendigen Voraussetzungen für ihre Anerkennung in dem
Mitgliedstaat erfüllt, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird.“
11 Art. 35 der Verordnung Nr. 44/2001 bestimmt:
„(1) Eine Entscheidung wird ferner nicht anerkannt, wenn die Vorschriften
der Abschnitte 3, 4 und 6 des Kapitels II verletzt worden sind oder wenn ein
Fall des Artikels 72 vorliegt.
(2) Das Gericht oder die sonst befugte Stelle des Mitgliedstaats, in dem die
Anerkennung geltend gemacht wird, ist bei der Prüfung, ob eine der in Absatz
1 angeführten Zuständigkeiten gegeben ist, an die tatsächlichen
Feststellungen gebunden, aufgrund deren das Gericht des
Ursprungsmitgliedstaats seine Zuständigkeit angenommen hat.
(3) Die Zuständigkeit der Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats darf,
unbeschadet der Bestimmungen des Absatzes 1, nicht nachgeprüft werden. Die
Vorschriften über die Zuständigkeit gehören nicht zur öffentlichen Ordnung
(ordre public) im Sinne des Artikels 34 Nummer 1.“
Deutsches Recht
12 In § 1094 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) ist das
dingliche Vorkaufsrecht wie folgt definiert:
„Ein Grundstück kann in der Weise belastet werden, dass derjenige, zu dessen
Gunsten die Belastung erfolgt, dem Eigentümer gegenüber zum Vorkauf
berechtigt ist.“
13 Die Ausübung des dinglichen Vorkaufsrechts ist in den §§ 463 und 464 BGB
geregelt.
14 § 463 BGB bestimmt:
„Wer in Ansehung eines Gegenstandes zum Vorkauf berechtigt ist, kann das
Vorkaufsrecht ausüben, sobald der Verpflichtete mit einem Dritten einen
Kaufvertrag über den Gegenstand geschlossen hat.“
15 § 464 BGB lautet:
„(1) Die Ausübung des Vorkaufsrechts erfolgt durch Erklärung gegenüber dem
Verpflichteten. Die Erklärung bedarf nicht der für den Kaufvertrag
bestimmten Form.
(2) Mit der Ausübung des Vorkaufsrechts kommt der Kauf zwischen dem
Berechtigten und dem Verpflichteten unter den Bestimmungen zustande, welche
der Verpflichtete mit dem Dritten vereinbart hat.“
16 § 873 Abs. 1 BGB, der die Voraussetzungen für die Übertragung des
Eigentums an einem Grundstück regelt, sieht vor:
„Zur Übertragung des Eigentums an einem Grundstück … ist die Einigung des
Berechtigten und des anderen Teils über den Eintritt der Rechtsänderung und
die Eintragung der Rechtsänderung in das Grundbuch erforderlich, soweit
nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt.“
17 § 19 der Grundbuchordnung lautet:
„Eine Eintragung erfolgt, wenn derjenige sie bewilligt, dessen Recht von ihr
betroffen wird.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
18 Frau I. Weber und Frau M. Weber, zwei Schwestern im Alter von 82 und 78
Jahren, sind zu sechs Zehnteln und vier Zehnteln Miteigentümerinnen eines
Grundstücks in München (Deutschland).
19 Aufgrund eines notariellen Vertrags vom 20. Dezember 1971 wurde zugunsten
von Frau I. Weber ein dingliches Vorkaufsrecht am 4/10‑Miteigentumsanteil
von Frau M. Weber im Grundbuch eingetragen.
20 Mit notariellem Vertrag vom 28. Oktober 2009 verkaufte Frau M. Weber
ihren Anteil von vier Zehnteln an die Gesellschaft deutschen Rechts Z. GbR,
zu deren Geschäftsführern ihr Sohn, Herr Calmetta, ein in Mailand (Italien)
niedergelassener Rechtsanwalt, gehört. Dieser Vertrag enthielt eine
Klausel, mit der sich Frau M. Weber als Verkäuferin ein Rücktrittsrecht
vorbehielt, das bis zum 28. März 2010 befristet war und bestimmten
Bedingungen unterlag.
21 Nachdem Frau I. Weber von dem Notar, der den genannten Vertrag in München
beurkundet hatte, informiert worden war, übte sie mit Schreiben vom 18.
Dezember 2009 ihr Vorkaufsrecht an diesem Miteigentumsanteil aus.
22 Mit einem am 25. Februar 2010 vor demselben Notar geschlossenen
Vertrag erkannten Frau I. Weber und Frau M. Weber die wirksame Ausübung
dieses Vorkaufsrechts durch Frau I. Weber nochmals ausdrücklich an und
trafen eine Einigung hinsichtlich des Eigentumsübergangs auf Frau I. Weber
zu dem Preis, der in dem von Frau M. Weber mit der Z. GbR geschlossenen
Kaufvertrag vereinbart worden war. Die beiden Parteien wiesen den
Notar jedoch an, die Eintragung ins Grundbuch gemäß § 873 Abs. 1 BGB erst
dann zu veranlassen, wenn Frau M. Weber ihm schriftlich erklärt hat, dass
sie ihr Rücktrittsrecht aus dem mit der Z. GbR geschlossenen Vertrag
innerhalb der dort geregelten Frist, die am 28. März 2010 ablief, nicht
ausgeübt oder darauf verzichtet hat. Am 2. März 2010 zahlte Frau I. Weber
den vereinbarten Kaufpreis in Höhe von 4 Mio. Euro.
23 Mit Schreiben vom 15. März 2010 erklärte Frau M. Weber, dass sie
ihr Rücktrittsrecht betreffend Frau I. Weber aus dem Vertrag vom 28. Oktober
2009 ausübe.
24 Mit Klageschrift vom 29. März 2010 erhob die Z. GbR beim
Tribunale ordinario di Milano (Zivilgericht Mailand) Klage gegen Frau
I. Weber und Frau M. Weber auf Feststellung der Ungültigkeit der Ausübung
des Vorkaufsrechts durch Frau I. Weber und der Gültigkeit des zwischen Frau
M. Weber und der Z. GbR geschlossenen Vertrags.
25 Am 15. Juli 2010 erhob Frau I. Weber beim Landgericht München I Klage mit
dem Antrag, Frau M. Weber zu verurteilen, die Eintragung der Übertragung des
fraglichen 4/10-Miteigentumanteils in das Grundbuch zu bewilligen. Zur
Begründung führte Frau I. Weber insbesondere aus, dass das zwischen der Z. GbR
und Frau M. Weber vereinbarte Rücktrittsrecht nicht zu den auch für sie
geltenden Vertragsklauseln gehöre.
26 Unter Berufung auf Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 und,
hilfsweise, auf Art. 28 Abs. 1 und 3 dieser Verordnung setzte das
Landgericht München I das bei ihm geführte Verfahren im Hinblick auf das
bereits beim Tribunale ordinario di Milano anhängige Verfahren aus. Dagegen
legte Frau I. Weber beim Oberlandesgericht München Berufung ein.
27 Das Oberlandesgericht München, das die Voraussetzungen von Art. 27 Abs. 1
der Verordnung Nr. 44/2001, zumindest aber die von Art. 28 Abs. 1 und 3 der
Verordnung grundsätzlich für gegeben hält, hat das Verfahren ausgesetzt und
dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Erstreckt sich der Anwendungsbereich von
Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 auch auf Fallkonstellationen, bei denen
zwei Parteien in dem einen Rechtsstreit jeweils die Parteirolle als Beklagte
innehaben, weil beide Parteien von einem Dritten mit einer Klage überzogen
wurden, und in dem anderen Rechtsstreit die Parteirollen als Kläger und
Beklagter einnehmen? Handelt es sich bei einer solchen Fallkonstellation um
einen Rechtsstreit „zwischen denselben Parteien“, oder sind die
verschiedenen in dem einen Verfahren vom Kläger gegen die beiden Beklagten
geltend gemachten Anträge getrennt zu prüfen mit der Folge, dass nicht von
einem Rechtsstreit „zwischen denselben Parteien“ auszugehen ist?
2. Liegt eine Klage wegen „desselben Anspruchs“ im Sinne von Art. 27 der
Verordnung Nr. 44/2001 vor, wenn die Klageanträge und die Klagebegründungen
in beiden Verfahren zwar unterschiedlich sind, aber
a) für die Entscheidung beider Verfahren jeweils dieselbe Vorfrage gelöst
werden muss oder
b) in einem Verfahren im Rahmen eines Hilfsantrags Feststellung zu einem
Rechtsverhältnis begehrt wird, das in dem anderen Verfahren als Vorfrage
eine Rolle spielt?
3. Handelt es sich um eine Klage, welche im Sinne von Art. 22 Nr. 1 der
Verordnung Nr. 44/2001 ein dingliches Recht an einer unbeweglichen Sache zum
Gegenstand hat, wenn die Feststellung beantragt wird, der Beklagte habe sein
unstreitig nach deutschem Recht bestehendes dingliches Vorkaufsrecht an
einem in Deutschland belegenen Grundstück nicht wirksam ausgeübt?
4. Ist das später angerufene Gericht im Rahmen seiner Entscheidung nach
Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 und damit noch vor einer
Entscheidung der Zuständigkeitsfrage durch das zuerst angerufene Gericht
gehalten zu prüfen, ob das zuerst angerufene Gericht wegen Art. 22 Nr. 1
unzuständig ist, weil eine derartige Unzuständigkeit des zuerst angerufenen
Gerichts nach Art. 35 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 dazu führen würde,
dass eine etwaige Entscheidung des zuerst angerufenen Gerichts nicht
anerkannt wird? Ist Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 für das später
angerufene Gericht unanwendbar, wenn das später angerufene Gericht zu der
Meinung gelangt, dass das zuerst angerufene Gericht wegen Art. 22 Nr. 1
unzuständig ist?
5. Ist das später angerufene Gericht im Rahmen seiner Entscheidung nach
Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 und damit noch vor einer
Entscheidung der Zuständigkeitsfrage durch das zuerst angerufene Gericht
gehalten, den Vorwurf einer Partei zu prüfen, die andere habe durch Anrufung
des zuerst angerufenen Gerichts rechtsmissbräuchlich gehandelt? Ist Art. 27
Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 für das später angerufene Gericht
unanwendbar, wenn das später angerufene Gericht zu der Meinung gelangt, dass
die Anrufung des zuerst angerufenen Gerichts rechtsmissbräuchlich erfolgt
ist?
6. Setzt die Anwendung von Art. 28 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 voraus,
dass das später angerufene Gericht zuvor entschieden hat, dass im konkreten
Fall Art. 27 Abs. 1 der Verordnung keine Anwendung findet?
7. Darf im Rahmen der Ausübung des Ermessens, das durch Art. 28 Abs. 1 der
Verordnung Nr. 44/2001 eingeräumt wird, berücksichtigt werden,
a) dass das zuerst
angerufene Gericht in einem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem Verfahren
statistisch gesehen erheblich länger dauern als in dem Mitgliedstaat, in dem
das später angerufene Gericht ansässig ist,
b) dass nach Einschätzung des später angerufenen Gerichts das Recht des
Mitgliedstaats anzuwenden ist, in dem das später angerufene Gericht ansässig
ist,
c) das Alter einer Partei,
d) die Erfolgsaussichten der Klage vor dem zuerst angerufenen Gericht?
8. Ist bei Auslegung und Anwendung der Art. 27 und 28 der Verordnung
Nr. 44/2001 außer dem Zweck, unvereinbare bzw. widersprechende
Entscheidungen zu vermeiden, auch der Justizgewährungsanspruch des
Zweitklägers zu berücksichtigen?
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
28 Mit Schriftsatz vom 11. Februar 2014, der am 21. Februar 2014 bei der
Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat Frau M. Weber auf die am 30.
Januar 2014 vorgetragenen Schlussanträge des Generalanwalts hin die
Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt, da die Schlussanträge
sachliche und rechtliche Fehler enthielten.
29 Der Gerichtshof kann gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung auf Antrag
der Parteien die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens anordnen, wenn er
sich für unzureichend unterrichtet hält oder ein zwischen den Parteien nicht
erörtertes Vorbringen als entscheidungserheblich ansieht (vgl. in diesem
Sinne Urteil vom 27. Februar 2014, Pohotovost’, C‑470/12, noch nicht in der
amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 21 und die dort angeführte
Rechtsprechung).
30 So verhält es sich hier jedoch nicht. Der Gerichtshof ist nämlich der
Auffassung, dass er über alle Angaben verfügt, die für seine Entscheidung
erforderlich sind. Da er nicht an die Schlussanträge des Generalanwalts
gebunden ist, ist eine Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens nicht stets
dann unerlässlich, wenn der Generalanwalt einen Gesichtspunkt aufwirft, den
die Parteien des Ausgangsverfahrens anders beurteilen.
31 Demnach ist nach Anhörung des Generalanwalts dem Antrag auf
Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens nicht stattzugeben.
Zu den Vorlagefragen
Zur dritten Frage
32 Mit dieser Frage, die an erster Stelle zu prüfen ist, möchte das
vorlegende Gericht wissen, ob Art. 22 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin
auszulegen ist, dass zur Kategorie der Rechtsstreitigkeiten, „welche
dingliche Rechte an unbeweglichen Sachen … zum Gegenstand haben“, im Sinne
dieser Vorschrift eine Klage gehört, die – wie die hier bei dem Gericht
eines anderen Mitgliedstaats erhobene – auf Feststellung der Ungültigkeit
der Ausübung eines Vorkaufsrechts gerichtet ist, das an diesem Grundstück
besteht und gegenüber jedermann wirkt.
Zur Zulässigkeit
33 Frau M. Weber hält diese Frage für unzulässig, da sie einen Gesichtspunkt
betreffe, der zwar im Verfahren vor dem zuerst angerufenen italienischen
Gericht eine Rolle spielen könne, nicht aber im Verfahren vor dem später
angerufenen deutschen Gericht. Insbesondere sei das später
angerufene Gericht nicht berechtigt, die Zuständigkeit des zuerst
angerufenen Gerichts zu prüfen. Diese Frage sei daher für die
Aussetzungsentscheidung, die das vorlegende Gericht gemäß den Art. 27 und 28
der Verordnung Nr. 44/2001 treffen könnte, irrelevant.
34 Insoweit
ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des
Verfahrens nach Art. 267 AEUV, das auf einer klaren Aufgabentrennung
zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, allein das
nationale Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des
Ausgangsrechtsstreits sowie die Auslegung und Anwendung des nationalen
Rechts zuständig ist. Ebenso hat nur das
nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen
Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf
die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit als auch die
Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen.
Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm
vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts
betreffen (vgl. u. a. Urteil vom 21. Februar 2013, ProRail,
C‑332/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 30 und
die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines
nationalen Gerichts somit nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung
des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder
dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem
hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und
rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der
ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne
u. a. Urteil vom 5. Dezember 2013, Asociación de Consumidores Independientes
de Castilla y León, C‑413/12, noch nicht in der amtlichen Sammlung
veröffentlicht, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Dies ist in der vorliegenden Rechtssache jedoch nicht der Fall.
37 Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts ergibt sich nämlich eindeutig,
dass es sich veranlasst sehen kann, die Frage der Gültigkeit der Ausübung
eines dinglichen Vorkaufsrechts durch Frau I. Weber zu prüfen, die
Gegenstand eines anderen, bei einem italienischen Gericht anhängigen
Rechtsstreits ist. Die Auslegung von Art. 22 Nr. 1 der Verordnung
Nr. 44/2001 durch den Gerichtshof wird es dem vorlegenden Gericht daher
ermöglichen, zu erfahren, ob der bei ihm anhängige Rechtsstreit zur
Kategorie der Rechtsstreitigkeiten, „welche dingliche Rechte an
unbeweglichen Sachen … zum Gegenstand haben“, gehört, und ihn zu
entscheiden.
38 Unter diesen Umständen ist die dritte Frage als zulässig anzusehen.
Zur Beantwortung der Frage
39 Nach Art. 22 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 sind die Gerichte
des Mitgliedstaats, in dem die unbewegliche Sache belegen ist, für Klagen,
welche dingliche Rechte an unbeweglichen Sachen zum Gegenstand haben,
ausschließlich zuständig (forum rei sitae).
40 Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung zu Art. 16 Nr. 1 Buchst. a
des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche
Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil-
und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32, im Folgenden: Brüsseler
Übereinkommen), die auch für die Auslegung von Art. 22 Nr. 1 der Verordnung
Nr. 44/2001 gilt, bereits ausgeführt, dass der Ausdruck „welche dingliche
Rechte an unbeweglichen Sachen … zum Gegenstand haben“ im Unionsrecht
autonom zu definieren ist, um sicherzustellen, dass sich aus diesem
Übereinkommen für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen so weit wie
möglich gleiche und einheitliche Rechte und Pflichten ergeben (vgl. in
diesem Sinne Urteil vom 10. Januar 1990, Reichert und Kockler, C‑115/88, Slg.
1990, I‑27, Rn. 8 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Hauptgrund für die ausschließliche
Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem die unbewegliche Sache
belegen ist, darin besteht, dass das Gericht des Belegenheitsstaats wegen
der räumlichen Nähe am besten in der Lage ist, sich eine gute Kenntnis der
Sachverhalte zu verschaffen und die insoweit geltenden Regeln und Gebräuche
anzuwenden, die im allgemeinen die des Belegenheitsstaats sind (Urteil
Reichert und Kockler, Rn. 10).
42 Der Gerichtshof
hat bereits entschieden, dass Art. 16 des Brüsseler Übereinkommens, und
damit Art. 22 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001, dahin auszulegen ist,
dass die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte des
Belegenheitsstaats nicht alle Klagen umfasst, die dingliche Rechte an
unbeweglichen Sachen zum Gegenstand haben, sondern nur solche, die sowohl in
den Anwendungsbereich dieses Übereinkommens bzw. dieser Verordnung fallen
als auch darauf gerichtet sind, zum einen den Umfang oder den Bestand einer
unbeweglichen Sache oder das Eigentum, den Besitz oder das Bestehen anderer
dinglicher Rechte an ihr zu bestimmen und zum anderen den Inhabern dieser
Rechte den Schutz der mit ihrer Rechtsstellung verbundenen Vorrechte zu
sichern (Urteil vom 3. Oktober 2013, Schneider, C‑386/12, noch
nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 21 und die dort
angeführte Rechtsprechung).
43 Unter Bezugnahme auf den Bericht von P. Schlosser zu dem Übereinkommen
über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten
Königreichs Großbritannien und Nordirland zum Übereinkommen über die
gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sowie zum Protokoll betreffend
die Auslegung dieses Übereinkommens durch den Gerichtshof (ABl. 1979, C 59,
S. 71, Nr. 166) hat der Gerichtshof ferner darauf hingewiesen, dass
der Unterschied zwischen einem dinglichen Recht und einem persönlichen
Anspruch darin besteht, dass das dingliche Recht an einer Sache gegenüber
jedermann wirkt, während der persönliche Anspruch nur gegen den Schuldner
geltend gemacht werden kann (vgl. Beschluss vom 5. April 2001,
Gaillard, C‑518/99, Slg. 2001, I‑2771, Rn. 17).
44 Was die vorliegende Rechtssache betrifft, so gehört, wie der
Generalanwalt in Nr. 31 seiner Schlussanträge ausgeführt hat und wie das
vorlegende Gericht, Frau I. Weber, die deutsche Regierung und die
Europäische Kommission geltend machen, eine Klage, mit der – wie mit
der Klage der Z. GbR beim italienischen Gericht – die Feststellung begehrt
wird, dass ein dingliches Vorkaufsrecht an einem in Deutschland belegenen
Grundstück nicht wirksam ausgeübt wurde, zur Kategorie der Klagen, die im
Sinne von Art. 22 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 dingliche Rechte an
unbeweglichen Sachen zum Gegenstand haben.
45 Wie sich nämlich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten
ergibt, wirkt ein Vorkaufsrecht wie das des § 1094 BGB, das an einem
Grundstück besteht und im Grundbuch eingetragen ist, nicht nur gegenüber dem
Schuldner, sondern sichert den Anspruch des Vorkaufsberechtigten auf
Übertragung des Eigentums auch gegenüber Dritten, so dass, wenn ein
Kaufvertrag zwischen einem Dritten und dem Eigentümer des belasteten
Grundstücks geschlossen wird, die wirksame Ausübung des Vorkaufsrechts dazu
führt, dass der Kauf dem Vorkaufsberechtigten gegenüber unwirksam ist und
als zwischen ihm und dem Grundstückseigentümer unter den Bestimmungen
zustande gekommen gilt, welche Letzterer mit dem Dritten vereinbart hat.
46 Bestreitet der Dritte die Wirksamkeit der Ausübung des Vorkaufsrechts im
Rahmen einer Klage, wie sie beim Tribunale ordinario di Milano anhängig ist,
soll mit dieser Klage daher im Wesentlichen festgestellt werden, ob die
Ausübung des Vorkaufsrechts dem Berechtigten den Anspruch auf Übertragung
des streitbefangenen Grundstücks hat sichern können. In einem solchen Fall
betrifft der Rechtsstreit, wie sich aus Nr. 166 des in Rn. 43 des
vorliegenden Urteils angeführten Schlosser-Berichts ergibt, ein dingliches
Recht an einer unbeweglichen Sache und fällt unter die ausschließliche
Zuständigkeit des forum rei sitae.
47 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 22 Nr. 1
der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass zur Kategorie der
Rechtsstreitigkeiten, „welche dingliche Rechte an unbeweglichen Sachen … zum
Gegenstand haben“, im Sinne dieser Vorschrift eine Klage gehört, die – wie
die hier bei dem Gericht eines anderen Mitgliedstaats erhobene – auf
Feststellung der Ungültigkeit der Ausübung eines Vorkaufsrechts gerichtet
ist, das an diesem Grundstück besteht und gegenüber jedermann wirkt.
Zur vierten Frage
48 Mit
dieser Frage, die an zweiter Stelle zu prüfen ist, möchte das vorlegende
Gericht wissen, ob Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin
auszulegen ist, dass das später angerufene Gericht, bevor es das Verfahren
gemäß dieser Vorschrift aussetzt, prüfen muss, ob eine etwaige
Sachentscheidung des zuerst angerufenen Gerichts nach Art. 35 Abs. 1 dieser
Verordnung wegen Verletzung der in ihrem Art. 22 Nr. 1 vorgesehenen
ausschließlichen Zuständigkeit in den übrigen Mitgliedstaaten nicht
anerkannt würde.
49 Nach Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 muss das später
angerufene Gericht bei Rechtshängigkeit das Verfahren von Amts wegen
aussetzen, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht,
und sich, sobald diese feststeht, zugunsten dieses Gerichts für unzuständig
erklären.
50 Der Gerichtshof, der über die Frage zu entscheiden hatte, ob Art. 21 des
Brüsseler Übereinkommens, dem Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 entspricht,
das später angerufene Gericht ermächtigt oder verpflichtet, die
Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts zu prüfen, hat ausgeführt,
dass – vorbehaltlich einer ausschließlichen Zuständigkeit des später
angerufenen Gerichts nach dem Brüsseler Übereinkommen und insbesondere nach
dessen Art. 16 – Art. 21, der die Rechtshängigkeit betrifft, dahin
auszulegen ist, dass im Fall einer Rüge der mangelnden Zuständigkeit des
zuerst angerufenen Gerichts das später angerufene Gericht, sofern es sich
nicht für unzuständig erklärt, lediglich befugt ist, seine Entscheidung
auszusetzen, ohne selbst die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts
prüfen zu dürfen (vgl. Urteil vom 27. Juni 1991, Overseas Union
Insurance u. a., C‑351/89, Slg. 1991, I‑3317, Rn. 20 und 26).
51 Mangels Geltendmachung einer
ausschließlichen Zuständigkeit des im Ausgangsrechtsstreit später
angerufenen Gerichts hat der Gerichtshof folglich die Auslegung von Art. 21
des Brüsseler Übereinkommens für den vorbehaltenen Fall schlicht offen
gelassen (Urteile
vom 9. Dezember 2003, Gasser, C‑116/02, Slg. 2003, I‑14693, Rn. 45,
und vom 27. Februar 2014,
Cartier parfums – lunettes und Axa Corporate Solutions assurances, C‑1/13,
noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 26).
52 Als der Gerichtshof später mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen
Art. 21 des Brüsseler Übereinkommens und dessen die ausschließliche
Zuständigkeit aufgrund einer Gerichtsstandsvereinbarung betreffenden
Art. 17, dem Art. 23 der Verordnung Nr. 44/2001 entspricht, befasst wurde,
hat er zwar im Urteil Gasser entschieden, dass die Geltendmachung
einer Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts nach Art. 17 des
Übereinkommens die Anwendung der Verfahrensregel in Art. 21 des
Übereinkommens, die sich klar und ausschließlich auf die zeitliche Abfolge
stützt, in der die betreffenden Gerichte angerufen worden sind, nicht in
Frage stellen kann.
53 In der vorliegenden Rechtssache ist jedoch – wie in Rn. 47 des
vorliegenden Urteils ausgeführt und anders als in der Rechtssache, in der
das Urteil Gasser ergangen ist – eine ausschließliche Zuständigkeit
des später angerufenen Gerichts nach Art. 22 Nr. 1 der Verordnung
Nr. 44/2001, der zu Abschnitt 6 ihres Kapitels II gehört, gegeben.
54 Art. 35 Abs. 1 der Verordnung sieht vor, dass eine in einem
Mitgliedstaat ergangene Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat nicht
anerkannt wird, wenn die Vorschriften von Abschnitt 6 des Kapitels II der
Verordnung über die ausschließliche Zuständigkeit verletzt worden sind.
55 Daraus folgt, dass eine Entscheidung, die das zuerst angerufene Gericht
in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens unter Verletzung von Art. 22
Nr. 1 der Verordnung erlässt, im Mitgliedstaat des später angerufenen
Gerichts nicht anerkannt werden kann.
56 Unter diesen Umständen ist das später angerufene Gericht nicht
mehr berechtigt, das Verfahren auszusetzen oder sich für unzuständig zu
erklären, sondern es muss in der Sache über die bei ihm erhobene Klage
entscheiden, um die Einhaltung dieser Regel ausschließlicher Zuständigkeit
zu gewährleisten.
57 Jede andere Auslegung widerspräche den der Systematik der
Verordnung Nr. 44/2001 zugrunde liegenden Zielen, etwa der abgestimmten
Rechtspflege unter Vermeidung negativer Zuständigkeitskonflikte oder dem
freien Verkehr der Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, insbesondere
ihrer Anerkennung.
58 Es entspräche nämlich, wie der Generalanwalt in Nr. 41 seiner
Schlussanträge ebenfalls im Wesentlichen ausgeführt hat, nicht dem Gebot
einer geordneten Rechtspflege, wenn das später angerufene, nach Art. 22
Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 ausschließlich zuständige Gericht gemäß
Art. 27 der Verordnung das Verfahren aussetzen würde, bis die Zuständigkeit
des zuerst angerufenen Gerichts feststünde, und sich dann gegebenenfalls zu
dessen Gunsten für unzuständig erklären würde.
59 Darüber hinaus würde im konkreten Kontext einer ausschließlichen
Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts nach Art. 22 Nr. 1 dieser
Verordnung das mit ihrem Art. 27 verfolgte Ziel beeinträchtigt, das darin
besteht, zu verhindern, dass eine Entscheidung nicht anerkannt wird, weil
sie mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die zwischen denselben Parteien
in dem Staat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist.
60 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 27
Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass das später
angerufene Gericht, bevor es das Verfahren gemäß dieser Vorschrift aussetzt,
prüfen muss, ob eine etwaige Sachentscheidung des zuerst angerufenen
Gerichts nach Art. 35 Abs. 1 dieser Verordnung wegen Verletzung der in ihrem
Art. 22 Nr. 1 vorgesehenen ausschließlichen Zuständigkeit in den übrigen
Mitgliedstaaten nicht anerkannt würde.
Zu den Fragen 1, 2 und 5 bis 8
61 Die Fragen 1, 2 und 5 bis 8 betreffen zum einen den Anwendungsbereich des
Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 und die vom später angerufenen Gericht zu
berücksichtigenden Gesichtspunkte, wenn es bei Rechtshängigkeit beschließt,
das Verfahren auszusetzen, und zum anderen das Verhältnis zwischen den
Art. 27 und 28 dieser Verordnung sowie die Kriterien, die das später
angerufene Gericht im Rahmen seiner Ermessensausübung bei im Zusammenhang
stehenden Verfahren heranziehen kann.
62 Wie der Generalanwalt in Nr. 20 seiner Schlussanträge im Wesentlichen
ausgeführt hat, kann das später angerufene Gericht, das nach Art. 22 Nr. 1
der Verordnung Nr. 44/2001 ausschließlich zuständig ist, nicht verpflichtet
sein, die Frage zu prüfen, ob die materiellen Kriterien der Rechtshängigkeit
bei einem Rechtsstreit, mit dem es als zweites Gericht befasst wurde,
erfüllt sind.
63 Eine solche Prüfung wäre nämlich unnötig, da das später angerufene
Gericht befugt ist, bei seiner Entscheidung nach Art. 27 der Verordnung
Nr. 44/2001 zu berücksichtigen, dass eine etwaige Entscheidung des zuerst
angerufenen Gerichts nach Art. 35 Abs. 1 der Verordnung wegen Verletzung der
in ihrem Art. 22 Nr. 1 vorgesehenen ausschließlichen Zuständigkeit in den
übrigen Mitgliedstaaten nicht anerkannt würde.
64 Die Frage, welche Gesichtspunkte das später angerufene Gericht
beim Erlass seiner Entscheidung im Fall der Rechtshängigkeit berücksichtigen
könnte, stellt sich daher nicht mehr.
65 Gleiches gilt für die Fragen zum Verhältnis zwischen den Art. 27 und 28
der Verordnung Nr. 44/2001 und für die Kriterien, die das später angerufene
Gericht im Rahmen seiner Ermessensausübung bei im Zusammenhang stehenden
Verfahren heranziehen kann. Ist das später angerufene Gericht wie im
Ausgangsverfahren ausschließlich zuständig, können die Art. 27 und 28 dieser
Verordnung nämlich nicht in Konkurrenz zueinander treten.
66 Nach alledem ist festzustellen, dass die Fragen 1, 2 und 5 bis 8 in
Anbetracht der Antworten auf die Fragen 3 und 4 nicht zu beantworten sind.
Kosten
67 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein
Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit;
die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer
Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht
erstattungsfähig.
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