IZPR: Sperrwirkung anderweitiger Rechtshängigkeit nach Art. 27 EuGVO; Begriff "desselben Anspruchs"; "Italienisches Torpedo" auch bei ausschließlicher Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts nach Art. 22 EuGVO? - Vorlagebeschluss an den EuGH


BGH, Beschluss vom 18. September 2013 - V ZB 163/12 - OLG Hamburg


Fundstelle:

noch nicht bekannt


Amtl. Leitsatz:

Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird nach Art. 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 27 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. EG 2000 Nr. L 12/1) dahin auszulegen, dass das später angerufene Gericht, das nach Art. 22 EuGVVO ausschließlich zuständig ist, gleichwohl das Verfahren aussetzen muss, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts, zu dessen Gunsten keine ausschließliche Zuständigkeit nach Art. 22 EuGVVO besteht, abschließend geklärt ist?


Zentrale Probleme:

Es geht um ein Klassikerproblem des IZPR: Wenn in einem Mitgliedsstaat eine Klage anhängig gemacht wird, die bereits bzgl. desselben Streitgegenstands zwischen denselben an einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats anhängig ist, hat nach Art. 27 I EuGVO (zur Vermeidung widersprechender Entscheidungen) das später angerufene Gericht das Verfahren auszusetzen, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht. Das kann eine Person, die erwartet, verklagt zu werden, dazu verleiten, den Streitgegenstand selbst (etwa im Wege einer negativen Feststellungsklage) vor einem Gericht geltend zu machen, dass unzuständig ist, bei welchem aber das Verfahren typischerweise lange dauert.
Mit diesem Mittel kann man quasi im Vorfeld eine Klage beim tatsächlich zuständigen Gericht blockieren ("torpedieren"). In der Praxis finden solche Klagen sehr häufig in Italien statt. Deshalb wird diese Vorgehensweise auch salopp das „italienische Torpedo“ genannt. Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH, die der Senat detailliert darlegt, kann einem solchen Vorgehen nicht mit dem Einwand des Rechtsmissbrauchs begegnet werden.
Der BGH legt nunmehr dem EuGH die Frage vor, ob dies auch dann dann zu gelten hat, wenn nach der EuGVO eine ausschließliche Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts besteht. Das Für und Wider wägt der Senat bereits selbst ab. Ein starkes Argument dafür, dass im Falle einer ausschließlichen Zuständigkeit der Einwand des Rechtsmissbrauchs statthaft sein sollte, ist, dass eine Entscheidung des zuerst angerufenen Gerichts hier nach Art. 35 Abs. 1 EuGVO ohnehin nicht anerkennungsfähig wäre (so jetzt auch in einem anderen Vorlageverfahren EuGH v. 3.4.2014 - Rs. C-438/12 - Weber). Im Anschluss an jene Entscheidung des EuGH hat der BGH die Vorlage an den EuGH mittlerweile zurückgenommen, s. Beschluss des EuGH v. 14.5.2014 und selbst entschieden, s. BGH v. 13.8.2014 - V ZB 163/12.

©sl 2013


Gründe:

I.
1 Die Beklagte ist Eigentümerin eines in Hamburg (Deutschland) belegenen Grundstücks, das mit einer Grundschuld belastet ist, aus der die Klägerin vollstrecken möchte. Mit ihrer seit dem 4. Mai 2011 bei dem Landgericht Hamburg rechtshängigen Klage möchte die Klägerin die Verurteilung der Beklagten erreichen, die Zwangsvollstreckung wegen einer Forderung über 155.000 € nebst Zinsen zu dulden.

2 Bereits am 2. Dezember 2010 hatte die Beklagte bei dem Landgericht Mailand (Italien) eine Klage sowohl gegen die Klägerin als auch gegen die in Italien ansässige P. I. SRL (im Folgenden: SRL) erhoben mit dem Ziel festzustellen, dass die Grundschuld nicht wirksam an die Klägerin abgetreten worden, die zwischen den Parteien geschlossene Sicherungszweckerklärung unwirksam und die Beklagte daher nicht zur Duldung der Zwangsvollstreckung verpflichtet sei. Mit Blick auf die mitverklagte SRL macht sie geltend, sie wolle sich an diesem Unternehmen beteiligen und die Investition mithilfe italienischer Banken finanzieren; die dafür erforderlichen Sicherheiten könne sie nicht aufbringen, wenn die Stellung der Sicherheit zu Gunsten der Klägerin wirksam sei. Mit Urteil vom 8. Mai 2012 verneinte das Landgericht Mailand die Zuständigkeit der italienischen Gerichte. Die gegen die SRL erhobene Klage diene offensichtlich nur dazu, in missbräuchlicher Weise die italienische Gerichtsbarkeit zu beanspruchen. Eine Entscheidung über die gegen das Urteil eingelegte Berufung steht noch aus.

3 In dem vorliegenden Rechtstreit möchte die Beklagte zunächst eine Aussetzung des Verfahrens nach Art. 27 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. EG 2000 Nr. L 12/1; im Folgenden: EuGVVO) wegen anderweitiger Rechtshängigkeit erreichen. Ihr dahingehender Antrag ist in beiden Vorinstanzen erfolglos geblieben. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Beklagte den Aussetzungsantrag weiter.

II.

4 Das Beschwerdegericht verneint die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Rechtsstreits mit der Begründung, der Beklagten gehe es mit der in Italien erhobenen Klage ausschließlich darum, rechtsmissbräuchlich einen Gerichtsstand zu erschleichen, um auf diese Weise die Aussetzung des in Deutschland geführten Rechtsstreits nach Art. 27 EuGVVO zu erreichen. Vor diesem Hintergrund sei bei wertender Betrachtung davon auszugehen, dass sich der vorliegende Rechtstreit weder auf denselben Anspruch noch auf dieselben Parteien wie das in Italien angestrengte Verfahren beziehe. Es stünde im klaren und offenkundigen Widerspruch zum Zweck der EuGVVO, wenn eine Partei die Aussetzung durch Erhebung einer willkürlich konstruierten Klage erreichen könnte, die keinerlei materiellen internationalen Bezug aufweise. Derartige Feststellungen zu treffen, seien die deutschen Gerichte nicht gehindert. Entschieden werde nicht über die Zulässigkeit der in Italien anhängigen Klage - wofür keine Prüfungskompetenz bestehe -, sondern allein über das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 27 EuGVVO.

III.

5 Die Begründetheit der nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthaften und nach § 575 ZPO auch im Übrigen zulässigen Rechtsbeschwerde hängt in entscheidungserheblicher Weise von der Beantwortung der im Tenor formulierten Vorlagefrage durch den Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) ab.

6 1. Der Anwendungsbereich der EuGVVO ist eröffnet. Das ergibt sich bereits aus der - sei es auch rechtsmissbräuchlichen - Klageerhebung in zwei Mitgliedstaaten (vgl. EuGH, C-116/02 - Gasser, Slg 2003, I-14693 Rn. 41; Jenard-Bericht, ABl. EG 1979 Nr. C 59/1, S. 8; Stein/Jonas/Wagner, ZPO, 22. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rn. 11).

7 2. Die vorliegende Klage und das in Italien geführte Verfahren betreffen denselben Anspruch i.S.v. Art. 27 Abs. 1 EuGVVO. Der Begriff „desselben Anspruchs" ist im Rahmen der EuGVVO autonom und weit auszulegen, um einander widersprechende Urteile i.S.v. Art. 34 Nr. 3 EuGVVO zu vermeiden. Maßgeblich ist, ob der Kernpunkt beider Streitigkeiten derselbe ist. Das ist etwa im Verhältnis zwischen negativer Feststellungs- und entsprechender Leistungsklage der Fall (EuGH, 144/86 - Gubisch, Slg 1987, 4861 = NJW 1989, 665 Rn. 11, 16, 18 f.; C-406/92 - Tatry, Slg 1994, I-5439 = ZIP 1995, 943 Rn. 45, 48; BGH, Urteil vom 8. Februar 1995 - VIII ZR 14/94, NJW 1995, 1758 f.; Urteil vom 11. Dezember 1996 - VIII ZR 154/95, BGHZ 134, 201, 210, jeweils zu Art. 21 EuGVÜ; kritisch Stein/Jonas/Wagner, ZPO, 22. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rn. 45).

8 So liegt es auch hier. Die Klage in Italien richtet sich unter anderem auf die Feststellung, dass keine Verpflichtung zur Duldung der Zwangsvollstreckung aus der Grundschuld bestehe. Mit der vorliegenden Klage soll eben diese Duldung erreicht werden. Dass es im italienischen Verfahren noch um weitere Feststellungen geht, ist für die Identität des Streitgegenstands unerheblich. Kernpunkt ist jeweils die Frage, ob die Klägerin aus der Grundschuld vorgehen darf; jedenfalls ist der Streitgegenstand des vorliegenden Rechtsstreits voll- ständig vom italienischen Verfahren abgedeckt. Im Übrigen beschränkt sich der Gegenstand der Klage in Italien nicht auf die Einbeziehung der SRL.

9 3. Beide Verfahren sind zwischen identischen Parteien anhängig. Dabei ist die Identität unabhängig von der jeweiligen Parteistellung. Auch ist unschädlich, wenn in einem Verfahren zusätzlich Dritte beteiligt sind. Das hat lediglich zur Folge, dass sich die Rechtsfolgen des Art. 27 EuGVVO auf diejenigen Parteien beschränken, zwischen denen mehrere Verfahren anhängig sind (vgl. EuGH, C-406/92 - Tatry, Slg 1994, I-5439 = ZIP 1995, 943 Rn. 31, 33).

10 4. Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts kann von einer Aussetzung nach Art. 27 Abs. 1 EuGVVO zumindest grundsätzlich nicht unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs abgesehen werden. Dies ist durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bereits hinreichend geklärt.

11 In der Rechtssache Gasser (C-116/02, Slg 2003, I-14693) hat der Gerichtshof festgestellt, dass von der Aussetzungspflicht auch dann nicht abgewichen werden darf, wenn die Verfahrensdauer in dem Mitgliedstaat des Erstgerichts allgemein unvertretbar lang ist. Der Anregung in dem dortigen Verfahren, eine Ausnahme für den Fall zuzulassen, dass eine Klage bösgläubig und mit Blockadeabsicht vor einem unzuständigen Gericht erhoben wird, ist der Gerichtshof nicht gefolgt (aaO, Rn. 63; vgl. auch BGH, Vorlagebeschluss vom 1. Februar 2011 - KZR 8/10, ZIP 2011, 975 Rn. 20). In der Rechtsache Turner (C-159/02, Slg 2004, I-3565 = EWS 2004, 334) hat der Gerichtshof entschieden, einer Partei könne die Betreibung eines Gerichtsverfahrens in einem anderen Vertragsstaat nicht mit der Begründung untersagt werden, mit der Klage werde wider Treu und Glauben der Zweck verfolgt, das Verfahren in einem anderen Mitgliedstaat zu behindern. Die Beurteilung der Angemessenheit der Klageerhebung sei den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats grundsätzlich entzogen.

12 5. Durch den Gerichtshof klärungsbedürftig ist jedoch, ob die formale Betrachtungsweise auch dann anzustellen ist, wenn nur das später angerufene Gericht nach Art. 22 EuGVVO ausschließlich zuständig ist.

13 a) Vorliegend besteht zugunsten der deutschen Gerichte der ausschließliche Gerichtsstand der belegenen Sache nach Art. 22 Nr. 1 EuGVVO; für eine ebenfalls bestehende ausschließliche Zuständigkeit (dazu Art. 29 EuGVVO) auch der italienischen Gerichte ist nichts ersichtlich.

14 aa) Unter die - autonom und eng auszulegende - Vorschrift des Art. 22 Nr. 1 EuGVVO fallen u.a. Klagen, die darauf abzielen, Umfang oder Bestand eines dinglichen Rechts an einer unbeweglichen Sache zu bestimmen und den Inhabern dieser Rechte den Schutz der mit ihrer Rechtsstellung verbundenen Vorrechte zu sichern (vgl. Senat, Urteil vom 18. Juli 2008 - V ZR 11/08, NJW 2008, 3502 Rn. 8 ff.; EuGH, C-115/88 - Reichert, Slg 1990, I-27, Rn. 11; C-343/04 - Land Oberösterreich, Slg 2006, I-4557 = EWS 2006, 383 Rn. 30).

15 bb) Diese Voraussetzungen sind bei einer Klage, die auf die Verurteilung zur Duldung der Zwangsvollstreckung aus einer Grundschuld gerichtet ist, nach allgemeiner Meinung erfüllt (Geimer/Schütze, EuZVR, 3. Aufl., Art. 22 EuGVVO Rn. 90; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 22 EuGVO Rn. 15; Adolphsen, Europäisches Zivilverfahrensrecht, S. 114; Lehmann/Sänchez Lorenzo, IPRax 2007, 190, 194; vgl. auch Thiel/Tschauner in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr, Stand: Oktober 2011, Art. 22 EuGVVO Rn. 17; Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 22 Brüssel I-VO Rn. 7; Stein/Jonas/Wagner, ZPO, 22. Aufl., Art. 22 EuGVVO Rn. 14 f.; Borräs/Hausmann, unalex Kommentar Brüssel I-VO, Art. 22 Rn. 11. - Zur Pfandklage nach § 466 des österreichischen ABGB ebenso: OGH, Beschluss vom 23. November 1999 - 7 Ob 286/99f, veröffentl. unter
www.ris.bka.gv.at, S. 3 u., und ZfRV 2008, 77 m. zust. Anm. Pröbsting; Tiefenthaler in Czernich/Tiefen-thaler/Kodek, Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsrecht, 2. Aufl., Art. 22 EuGVO Rn. 14; Mayr, EuZPR, Rn. II/129; Simotta in Fasching/Konecny, Zivilprozeßgesetze, 2. Aufl., Art. 22 Rn. 32, 37, auch für die umgekehrte Klage auf Feststellung des Nichtbestehens eines Grundpfandrechts).

16 Bei der Grundschuld handelt es sich um ein Grundpfandrecht, also ein beschränktes dingliches Recht an einem Grundstück, aufgrund dessen an denjenigen, zu dessen Gunsten die Belastung erfolgt, eine Geldsumme zu zahlen ist (§ 1191 BGB). Die Grundschuld berechtigt den Gläubiger, sich im Wege der Zwangsvollstreckung aus dem Grundstück zu befriedigen (§ 1192 Abs. 1, § 1147 BGB). Dieser Duldungsanspruch gegen den Grundstückseigentümer stützt sich allein auf das dingliche Recht, nicht hingegen auf eine persönliche Forderung. Mit der Duldungsklage will sich die Klägerin den Schutz der Vorrechte sichern, die mit der Rechtsstellung als Inhaberin der Grundschuld verbunden sind.

17 b) Damit kommt es auf die Frage an, ob die Aussetzungspflicht nach Art. 27 Abs. 1 EuGVVO auch dann gilt, wenn (nur) zugunsten des Zweitgerichts eine ausschließliche Zuständigkeit nach Art. 22 EuGVVO besteht. Ist die Frage zu bejahen, so ist die Rechtsbeschwerde begründet und das Verfahren in der Hauptsache auszusetzen; ist sie zu verneinen, so ist die Rechtsbeschwerde unbegründet und das Verfahren in der Hauptsache fortzuführen.

18 aa) Die Frage der Aussetzungspflicht bei Bestehen einer ausschließlichen Zuständigkeit nur des Zweitgerichts ist in Rechtsprechung und Literatur ernsthaft umstritten (die Frage verneinend Juzgado de Primera Instancia Madrid, unalex ES-61; Court of Appeal [Civil Division] England and Wales, unalex UK-70; Cour de cassation [Frankreich], unalex FR-92; Schlussantrag GA Léger, C-116/02 - Gasser, Slg 2003, I-14693, Rn. 51 ff. [ebenso die Auffassung der Kommission, wiedergegeben in EuGH, aaO Rn. 36, 40]; Magnus/Mankowski/Fentiman, Brussels I Regulation, 2. Aufl., Introduction to Arts. 27-30 Rn. 57; Simons, unalex Kommentar Brüssel I-VO, Art. 27 Rn. 9 f.; Försterling in Ge-imer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr, Stand: Oktober 2011, Art. 27 EuGVVO Rn. 33; Tiefenthaler in Czer-nich/Tiefenthaler/Kodek, Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsrecht, 2. Aufl., Art. 27 EuGVO Rn. 14; Dohm, Die Einrede ausländischer Rechtshängigkeit, S. 168 ff., 174; Gaudemet-Tallon, Compétence et exécution des jugements en Europe, 4. Aufl., Rn. 338-1; Bernheim, SJZ 1994, 133, 140; Rauscher/Gutknecht, IPRax 1993, 21, 24; zu Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ in der Fassung des Übereinkommens vom 27. September 1968 [ABl. EG 1972 Nr. L 299/32, S. 36], nach dem sich das Zweitgericht grundsätzlich für unzuständig erklären musste, auch: OLG Köln, NJW 1991, 1427, 1428 [obiter dictum]; Kaye, Civil Jurisdiction and Enforcement of Foreign Judgments, S. 1221 f., 1232; O'Malley/Layton, European Civil Practice, Rn. 23.08; eingeschränkt Droz, Pratique de la Convention des Bruxelles du 27 Septembre 1968, Rn. 115; eine Aussetzungspflicht bejahend OLG München, Beschluss vom 16. Februar 2012 - 21 W 1098/11, juris Rn. 18 (14); Geimer/Schütze, EuZVR, 3. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rn. 18; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 27 Rn. 19; Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 27 Brüssel I-VO Rn. 16b; Musielak/Stadler, ZPO, 9. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rn. 7; Mayr in Fasching/Konecny, Zivilprozeßgesetze, 2. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rn. 24 a.E.; Weller in Hess/Pfeiffer/Schlosser, The Brussels I-Regulation (EC) No 44/2001 (Heidelberg Report), Rn. 356, 403; Carl, Torpedoklagen, S. 193 ff.; McGuire, Verfahrenskoordination, S. 122 ff.; Schmehl, Pa rallelverfahren, S. 385 ff.; zum EuGVÜ bzw. LugÜ vgl. auch Gothot/Holleaux, La Convention de Bruxelles du 27 Septembre 1968, Rn. 219 ff.; Isenburg-Epple, Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit nach dem EuGVÜ, S. 87, 89; BaslerKommentar-LugÜ/Mabillard, Art. 27 Rn. 52, 54; Dasser/Oberhammer - Dasser, LugÜ, Art. 21 Rn. 35).

19 bb) Der Gerichtshof hat ausdrücklich offen gelassen, ob auch in solchen Fällen nach Art. 16 EuGVÜ (jetzt Art. 22 EuGVVO) der formalen Betrachtungsweise der Vorzug zu geben ist (C-116/02 - Gasser, Slg 2003, I-14693 Rn. 44 f., 52; C-351/89 - Overseas Union Insurance, Slg 1991, I-3317 = NJW 1992, 3221 Rn. 20 f.; ebenso BGH, Urteil vom 8. Februar 1995 - VIII ZR 14/94, NJW 1995, 1758, 1759).

20 cc) Davon abgesehen lassen sich für beide Auffassungen gute Argumente ins Feld führen.

21 (1) In Übereinstimmung mit dem Wortlaut von Art. 27 EuGVVO, der auch bei Bestehen einer ausschließlichen Zuständigkeit keinen Anhaltspunkt für eine einschränkende Auslegung bietet, neigt der Senat zur Bejahung einer Aussetzungspflicht auch in Konstellationen der vorliegenden Art. Hinzu kommt, dass den Prozessparteien durch eine Aussetzung des Zweitprozesses in aller Regel kein unzumutbarer Nachteil entsteht. Durch die Klärung der Zuständigkeitsfrage wird die Erlangung effektiven Rechtsschutzes in der Regel allenfalls verzögert, nicht aber endgültig verhindert (vgl. auch EuGH, C-163/95 - von Horn, Slg 1997, I-5451 = IPRax 1999, 100 Rn. 22 zu intertemporalen Zuständigkeitskonflikten). Bei paralleler Prozessführung besteht demgegenüber die Gefahr eines positiven Kompetenzkonflikts und damit auch die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen. Dies gilt umso mehr, als die Prüfung, ob eine ausschließliche Zuständigkeit vorliegt, ihrerseits nicht stets eindeutig zu beantworten ist, und damit auch mit guten Gründen über die Frage gestritten werden kann, ob ein Rechtsmissbrauch gegeben ist, wenn eine Klage in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen erhoben wird, für den eine ausschließliche Zuständigkeit in Betracht kommt.

22 (2) Allerdings spricht für die Gegenauffassung, dass die Aussetzungspflicht nach Art. 27 EuGVVO nach ihrem Sinn und Zweck zwar vermeiden soll, dass Gerichtsentscheidungen nach Art. 34 Nr. 3 bzw. 4 EuGVVO wegen widersprechender Entscheidungen zur selben Sache nicht anerkannt werden können (vgl. insoweit EuGH, 144/86 - Gubisch, Slg 1987, 4861 = NJW 1989, 665 Rn. 8; C-116/02 - Gasser, Slg 2003, I-14693 Rn. 41), dieser Zweck aber im Fall einer ausschließlichen Zuständigkeit des Zweitgerichts nach Art. 22 EuGVVO nicht einschlägig ist. Denn eine unter Verkennung dieser ausschließlichen Zuständigkeit ergehende Sachentscheidung des Erstgerichts wäre nach Art. 35 Abs. 1 EuGVVO ohnehin nicht anerkennungsfähig; anders verhält es sich nur bei einer Sachentscheidung unter Verkennung einer Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 23 EuGVVO. Zudem muss sich das Erstgericht nach Art. 25 EuGVVO von Amts wegen für unzuständig erklären, wenn eine ausschließliche Zuständigkeit des Zweitgerichts nach Art. 22 EuGVVO besteht. Davon kann weder aufgrund Gerichtsstandsvereinbarung noch aufgrund rügeloser Einlassung des Beklagten abgewichen werden (Art. 23 Abs. 5, Art. 24 Satz 2 EuGVVO; vgl. insoweit auch EuGH, C-616/10 - Solvay, EWS 2012, 347 Rn. 44; C-4/03 - GAT, Slg 2006, I-6509 = EWS 2006, 382, Rn. 24). Zwar ist die EuGVVO von dem Anliegen getragen, grundsätzlich eine wechselseitige Überprüfung der Zuständigkeit zwischen Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten zu vermeiden (vgl. dazu EuGH, C-351/89 - Overseas Union Insurance, Slg 1991, I-3317 = NJW 1992, 3221 Rn. 24). Indessen setzt die Anwendung der Regelung des Art. 29 EuGVVO, nach der sich das Zweitgericht bei doppelter ausschließlicher Zuständigkeit für unzuständig erklären muss, eine solche Prüfung durch das Zweitgericht ohnehin voraus. Dasselbe gilt im Rahmen der Anerkennung und Vollstreckung (Art. 35 Abs. 1, Art. 45 Abs. 1 EuGVVO).

23 6. Auch wenn die Vorlagefrage bereits Teil eines beim Gerichtshof anhängigen Vorabentscheidungsersuchens ist (C-438/12; vgl. OLG München, Beschluss vom 16. Februar 2012 - 21 W 1098/11, juris), erscheint eine erneute Vorlage sachdienlich. Zwar kommt in solchen Fällen eine Aussetzung wegen Vorgreiflichkeit entsprechend § 148 ZPO in Betracht (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Juli 2012 - VIII ZR 13/12, juris Rn. 11 f.; Beschluss vom 30. März 2005 - X ZB 26/04, BGHZ 162, 373, 378; OLG Düsseldorf, NJW 1993, 1661; für eine uneingeschränkte Vorlagepflicht dagegen: Zöller/Greger, ZPO, 29. Aufl., § 148 Rn. 3b).

24 Dagegen spricht hier aber, dass sich die maßgebliche Rechtsfrage in dem beim Gerichtshof bereits anhängigen Verfahren nur unter Bedingungen stellt. Dort ist nämlich zunächst zu klären, ob überhaupt ein Fall doppelter Rechtshängigkeit i.S.v. Art. 27 EuGVVO vorliegt und ob eine ausschließliche Zuständigkeit nach Art. 22 EuGVVO besteht. Sollte der Gerichtshof auch nur eine dieser Vorfragen verneinen, käme es auf die hier maßgebende Frage nicht mehr an. Bei einer Aussetzung entsprechend § 148 ZPO müsste das vorliegende Verfahren erst wieder aufgenommen und sodann zur Vorlage gebracht werden, was die Beantwortung der Frage nur verzögerte.