IZPR: Sperrwirkung anderweitiger Rechtshängigkeit
nach Art. 27 EuGVO; Begriff "desselben Anspruchs"; "Italienisches Torpedo"
auch bei ausschließlicher Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts nach
Art. 22 EuGVO? - Vorlagebeschluss an den EuGH
BGH, Beschluss vom 18. September 2013
- V ZB 163/12 - OLG Hamburg
Fundstelle:
noch nicht bekannt
Amtl. Leitsatz:
Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird nach
Art. 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 27 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.
Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und
Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. EG 2000
Nr. L 12/1) dahin auszulegen, dass das später angerufene Gericht, das nach
Art. 22 EuGVVO ausschließlich zuständig ist, gleichwohl das Verfahren
aussetzen muss, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts, zu
dessen Gunsten keine ausschließliche Zuständigkeit nach Art. 22 EuGVVO
besteht, abschließend geklärt ist?
Zentrale Probleme:
Es geht um ein Klassikerproblem des IZPR: Wenn in einem
Mitgliedsstaat eine Klage anhängig gemacht wird, die bereits bzgl. desselben
Streitgegenstands zwischen denselben an einem Gericht eines anderen
Mitgliedstaats anhängig ist, hat nach Art. 27 I EuGVO (zur Vermeidung
widersprechender Entscheidungen) das später angerufene Gericht das Verfahren
auszusetzen, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.
Das kann eine Person, die erwartet, verklagt zu werden, dazu verleiten, den
Streitgegenstand selbst (etwa im Wege einer negativen Feststellungsklage) vor
einem Gericht geltend zu machen, dass unzuständig ist, bei welchem aber das
Verfahren typischerweise lange dauert.
Mit diesem Mittel kann man quasi im
Vorfeld eine Klage beim tatsächlich zuständigen Gericht blockieren
("torpedieren"). In der
Praxis finden solche Klagen sehr häufig in Italien statt. Deshalb wird diese
Vorgehensweise auch salopp das „italienische Torpedo“ genannt. Nach der
bisherigen Rechtsprechung des EuGH, die der Senat detailliert darlegt, kann
einem solchen Vorgehen nicht mit dem Einwand des Rechtsmissbrauchs begegnet
werden.
Der BGH legt
nunmehr dem EuGH die Frage vor, ob dies auch dann dann zu gelten hat, wenn nach
der EuGVO eine ausschließliche Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts
besteht. Das Für und Wider
wägt der Senat bereits selbst ab.
Ein starkes Argument dafür, dass im Falle einer ausschließlichen Zuständigkeit
der Einwand des Rechtsmissbrauchs statthaft sein sollte, ist, dass eine
Entscheidung des zuerst angerufenen Gerichts hier nach Art. 35 Abs. 1 EuGVO
ohnehin nicht anerkennungsfähig wäre (so jetzt auch in einem anderen
Vorlageverfahren EuGH v. 3.4.2014 - Rs. C-438/12 -
Weber). Im Anschluss an jene Entscheidung des EuGH hat der BGH die
Vorlage an den EuGH mittlerweile zurückgenommen, s.
Beschluss des EuGH v. 14.5.2014 und selbst entschieden, s.
BGH v. 13.8.2014 - V ZB 163/12.
©sl 2013
Gründe:
I.
1 Die Beklagte ist Eigentümerin eines in Hamburg (Deutschland) belegenen
Grundstücks, das mit einer Grundschuld belastet ist, aus der die Klägerin
vollstrecken möchte. Mit ihrer seit dem 4. Mai 2011 bei dem Landgericht
Hamburg rechtshängigen Klage möchte die Klägerin die Verurteilung der
Beklagten erreichen, die Zwangsvollstreckung wegen einer Forderung über
155.000 € nebst Zinsen zu dulden.
2 Bereits am 2. Dezember 2010 hatte die Beklagte bei dem Landgericht Mailand
(Italien) eine Klage sowohl gegen die Klägerin als auch gegen die in Italien
ansässige P. I. SRL (im Folgenden: SRL) erhoben mit dem Ziel festzustellen,
dass die Grundschuld nicht wirksam an die Klägerin abgetreten worden, die
zwischen den Parteien geschlossene Sicherungszweckerklärung unwirksam und
die Beklagte daher nicht zur Duldung der Zwangsvollstreckung verpflichtet
sei. Mit Blick auf die mitverklagte SRL macht sie geltend, sie wolle sich an
diesem Unternehmen beteiligen und die Investition mithilfe italienischer
Banken finanzieren; die dafür erforderlichen Sicherheiten könne sie nicht
aufbringen, wenn die Stellung der Sicherheit zu Gunsten der Klägerin wirksam
sei. Mit Urteil vom 8. Mai 2012 verneinte das Landgericht Mailand die
Zuständigkeit der italienischen Gerichte. Die gegen die SRL erhobene Klage
diene offensichtlich nur dazu, in missbräuchlicher Weise die italienische
Gerichtsbarkeit zu beanspruchen. Eine Entscheidung über die gegen das Urteil
eingelegte Berufung steht noch aus.
3 In dem vorliegenden Rechtstreit möchte die Beklagte zunächst eine
Aussetzung des Verfahrens nach Art. 27 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des
Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die
Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
(ABl. EG 2000 Nr. L 12/1; im Folgenden: EuGVVO) wegen anderweitiger
Rechtshängigkeit erreichen. Ihr dahingehender Antrag ist in beiden
Vorinstanzen erfolglos geblieben. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde
verfolgt die Beklagte den Aussetzungsantrag weiter.
II.
4 Das Beschwerdegericht verneint die Voraussetzungen für eine Aussetzung des
Rechtsstreits mit der Begründung, der Beklagten gehe es mit der in Italien
erhobenen Klage ausschließlich darum, rechtsmissbräuchlich einen
Gerichtsstand zu erschleichen, um auf diese Weise die Aussetzung des in
Deutschland geführten Rechtsstreits nach Art. 27 EuGVVO zu erreichen. Vor
diesem Hintergrund sei bei wertender Betrachtung davon auszugehen, dass sich
der vorliegende Rechtstreit weder auf denselben Anspruch noch auf dieselben
Parteien wie das in Italien angestrengte Verfahren beziehe. Es stünde im
klaren und offenkundigen Widerspruch zum Zweck der EuGVVO, wenn eine Partei
die Aussetzung durch Erhebung einer willkürlich konstruierten Klage
erreichen könnte, die keinerlei materiellen internationalen Bezug aufweise.
Derartige Feststellungen zu treffen, seien die deutschen Gerichte nicht
gehindert. Entschieden werde nicht über die Zulässigkeit der in Italien
anhängigen Klage - wofür keine Prüfungskompetenz bestehe -, sondern allein
über das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 27 EuGVVO.
III.
5 Die Begründetheit der nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthaften und
nach § 575 ZPO auch im Übrigen zulässigen Rechtsbeschwerde hängt in
entscheidungserheblicher Weise von der Beantwortung der im Tenor
formulierten Vorlagefrage durch den Gerichtshof der Europäischen Union (im
Folgenden: Gerichtshof) ab.
6 1. Der Anwendungsbereich der EuGVVO ist eröffnet.
Das ergibt sich bereits aus der - sei es auch rechtsmissbräuchlichen -
Klageerhebung in zwei Mitgliedstaaten (vgl. EuGH, C-116/02 -
Gasser, Slg 2003, I-14693 Rn. 41; Jenard-Bericht, ABl. EG 1979 Nr. C 59/1,
S. 8; Stein/Jonas/Wagner, ZPO, 22. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rn. 11).
7 2. Die vorliegende Klage und das in Italien geführte Verfahren
betreffen denselben Anspruch i.S.v. Art. 27 Abs. 1 EuGVVO.
Der Begriff „desselben Anspruchs" ist im Rahmen der EuGVVO autonom und weit
auszulegen, um einander widersprechende Urteile i.S.v. Art. 34 Nr. 3 EuGVVO
zu vermeiden. Maßgeblich ist, ob der Kernpunkt beider Streitigkeiten
derselbe ist. Das ist etwa im Verhältnis zwischen negativer Feststellungs-
und entsprechender Leistungsklage der Fall (EuGH, 144/86 - Gubisch,
Slg 1987, 4861 = NJW 1989, 665 Rn. 11, 16, 18 f.; C-406/92 - Tatry, Slg
1994, I-5439 = ZIP 1995, 943 Rn. 45, 48; BGH, Urteil vom 8. Februar 1995 -
VIII ZR 14/94, NJW 1995, 1758 f.; Urteil vom 11. Dezember 1996 - VIII ZR
154/95, BGHZ 134, 201, 210, jeweils zu Art. 21 EuGVÜ; kritisch
Stein/Jonas/Wagner, ZPO, 22. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rn. 45).
8 So liegt es auch hier. Die Klage in Italien richtet sich unter anderem auf
die Feststellung, dass keine Verpflichtung zur Duldung der
Zwangsvollstreckung aus der Grundschuld bestehe. Mit der vorliegenden Klage
soll eben diese Duldung erreicht werden. Dass es im italienischen Verfahren
noch um weitere Feststellungen geht, ist für die Identität des
Streitgegenstands unerheblich. Kernpunkt ist jeweils die Frage, ob die
Klägerin aus der Grundschuld vorgehen darf; jedenfalls ist der
Streitgegenstand des vorliegenden Rechtsstreits voll- ständig vom
italienischen Verfahren abgedeckt. Im Übrigen beschränkt sich der Gegenstand
der Klage in Italien nicht auf die Einbeziehung der SRL.
9 3. Beide Verfahren sind zwischen identischen Parteien anhängig.
Dabei ist die Identität unabhängig von der jeweiligen Parteistellung. Auch
ist unschädlich, wenn in einem Verfahren zusätzlich Dritte beteiligt sind.
Das hat lediglich zur Folge, dass sich die Rechtsfolgen des Art. 27 EuGVVO
auf diejenigen Parteien beschränken, zwischen denen mehrere Verfahren
anhängig sind (vgl. EuGH, C-406/92 - Tatry, Slg 1994, I-5439 = ZIP 1995, 943
Rn. 31, 33).
10 4. Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts kann von einer
Aussetzung nach Art. 27 Abs. 1 EuGVVO zumindest grundsätzlich nicht unter
dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs abgesehen werden. Dies ist durch die
Rechtsprechung des Gerichtshofs bereits hinreichend geklärt.
11 In der Rechtssache Gasser (C-116/02, Slg 2003, I-14693) hat der
Gerichtshof festgestellt, dass von der Aussetzungspflicht auch dann nicht
abgewichen werden darf, wenn die Verfahrensdauer in dem Mitgliedstaat des
Erstgerichts allgemein unvertretbar lang ist. Der Anregung in dem dortigen
Verfahren, eine Ausnahme für den Fall zuzulassen, dass eine Klage bösgläubig
und mit Blockadeabsicht vor einem unzuständigen Gericht erhoben wird, ist
der Gerichtshof nicht gefolgt (aaO, Rn. 63; vgl. auch BGH,
Vorlagebeschluss vom 1. Februar 2011 - KZR 8/10, ZIP 2011, 975 Rn. 20).
In der Rechtsache Turner (C-159/02, Slg 2004, I-3565 = EWS 2004,
334) hat der Gerichtshof entschieden, einer Partei könne die Betreibung
eines Gerichtsverfahrens in einem anderen Vertragsstaat nicht mit der
Begründung untersagt werden, mit der Klage werde wider Treu und Glauben der
Zweck verfolgt, das Verfahren in einem anderen Mitgliedstaat zu behindern.
Die Beurteilung der Angemessenheit der Klageerhebung sei den Gerichten eines
anderen Mitgliedstaats grundsätzlich entzogen.
12 5. Durch den Gerichtshof klärungsbedürftig ist jedoch, ob die
formale Betrachtungsweise auch dann anzustellen ist, wenn nur das später
angerufene Gericht nach Art. 22 EuGVVO ausschließlich zuständig ist.
13 a) Vorliegend besteht zugunsten der deutschen Gerichte der
ausschließliche Gerichtsstand der belegenen Sache nach Art. 22 Nr. 1 EuGVVO;
für eine ebenfalls bestehende ausschließliche Zuständigkeit (dazu Art. 29
EuGVVO) auch der italienischen Gerichte ist nichts ersichtlich.
14 aa) Unter die - autonom und eng auszulegende - Vorschrift des Art. 22 Nr.
1 EuGVVO fallen u.a. Klagen, die darauf abzielen, Umfang oder Bestand eines
dinglichen Rechts an einer unbeweglichen Sache zu bestimmen und den Inhabern
dieser Rechte den Schutz der mit ihrer Rechtsstellung verbundenen Vorrechte
zu sichern (vgl. Senat, Urteil vom 18. Juli 2008 - V ZR 11/08, NJW 2008,
3502 Rn. 8 ff.; EuGH, C-115/88 - Reichert, Slg 1990, I-27, Rn. 11; C-343/04
- Land Oberösterreich, Slg 2006, I-4557 = EWS 2006, 383 Rn. 30).
15 bb) Diese Voraussetzungen sind bei einer Klage, die auf die Verurteilung
zur Duldung der Zwangsvollstreckung aus einer Grundschuld gerichtet ist,
nach allgemeiner Meinung erfüllt (Geimer/Schütze, EuZVR, 3. Aufl., Art. 22
EuGVVO Rn. 90; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 22 EuGVO Rn. 15;
Adolphsen, Europäisches Zivilverfahrensrecht, S. 114; Lehmann/Sänchez
Lorenzo, IPRax 2007, 190, 194; vgl. auch Thiel/Tschauner in Geimer/Schütze,
Internationaler Rechtsverkehr, Stand: Oktober 2011, Art. 22 EuGVVO Rn. 17;
Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 22 Brüssel I-VO Rn. 7;
Stein/Jonas/Wagner, ZPO, 22. Aufl., Art. 22 EuGVVO Rn. 14 f.; Borräs/Hausmann,
unalex Kommentar Brüssel I-VO, Art. 22 Rn. 11. - Zur Pfandklage nach § 466
des österreichischen ABGB ebenso: OGH, Beschluss vom 23. November 1999 - 7
Ob 286/99f, veröffentl. unter
www.ris.bka.gv.at,
S. 3 u., und ZfRV 2008, 77 m. zust. Anm. Pröbsting; Tiefenthaler in Czernich/Tiefen-thaler/Kodek,
Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsrecht, 2. Aufl., Art. 22
EuGVO Rn. 14; Mayr, EuZPR, Rn. II/129; Simotta in Fasching/Konecny,
Zivilprozeßgesetze, 2. Aufl., Art. 22 Rn. 32, 37, auch für die umgekehrte
Klage auf Feststellung des Nichtbestehens eines Grundpfandrechts).
16 Bei der Grundschuld handelt es sich um ein Grundpfandrecht, also ein
beschränktes dingliches Recht an einem Grundstück, aufgrund dessen an
denjenigen, zu dessen Gunsten die Belastung erfolgt, eine Geldsumme zu
zahlen ist (§ 1191 BGB). Die Grundschuld berechtigt den Gläubiger, sich im
Wege der Zwangsvollstreckung aus dem Grundstück zu befriedigen (§ 1192 Abs.
1, § 1147 BGB). Dieser Duldungsanspruch gegen den Grundstückseigentümer
stützt sich allein auf das dingliche Recht, nicht hingegen auf eine
persönliche Forderung. Mit der Duldungsklage will sich die Klägerin den
Schutz der Vorrechte sichern, die mit der Rechtsstellung als Inhaberin der
Grundschuld verbunden sind.
17 b) Damit kommt es auf die Frage an, ob die Aussetzungspflicht nach Art.
27 Abs. 1 EuGVVO auch dann gilt, wenn (nur) zugunsten des Zweitgerichts eine
ausschließliche Zuständigkeit nach Art. 22 EuGVVO besteht. Ist die Frage zu
bejahen, so ist die Rechtsbeschwerde begründet und das Verfahren in der
Hauptsache auszusetzen; ist sie zu verneinen, so ist die Rechtsbeschwerde
unbegründet und das Verfahren in der Hauptsache fortzuführen.
18 aa) Die Frage der Aussetzungspflicht bei Bestehen einer ausschließlichen
Zuständigkeit nur des Zweitgerichts ist in Rechtsprechung und Literatur
ernsthaft umstritten (die Frage verneinend Juzgado de Primera Instancia
Madrid, unalex ES-61; Court of Appeal [Civil Division] England and Wales,
unalex UK-70; Cour de cassation [Frankreich], unalex FR-92; Schlussantrag GA
Léger, C-116/02 - Gasser, Slg 2003, I-14693, Rn. 51 ff. [ebenso die
Auffassung der Kommission, wiedergegeben in EuGH, aaO Rn. 36, 40]; Magnus/Mankowski/Fentiman,
Brussels I Regulation, 2. Aufl., Introduction to Arts. 27-30 Rn. 57; Simons,
unalex Kommentar Brüssel I-VO, Art. 27 Rn. 9 f.; Försterling in Ge-imer/Schütze,
Internationaler Rechtsverkehr, Stand: Oktober 2011, Art. 27 EuGVVO Rn. 33;
Tiefenthaler in Czer-nich/Tiefenthaler/Kodek, Europäisches Gerichtsstands-
und Vollstreckungsrecht, 2. Aufl., Art. 27 EuGVO Rn. 14; Dohm, Die Einrede
ausländischer Rechtshängigkeit, S. 168 ff., 174; Gaudemet-Tallon, Compétence
et exécution des jugements en Europe, 4. Aufl., Rn. 338-1; Bernheim, SJZ
1994, 133, 140; Rauscher/Gutknecht, IPRax 1993, 21, 24; zu Art. 21 Abs. 1
EuGVÜ in der Fassung des Übereinkommens vom 27. September 1968 [ABl. EG 1972
Nr. L 299/32, S. 36], nach dem sich das Zweitgericht grundsätzlich für
unzuständig erklären musste, auch: OLG Köln, NJW 1991, 1427, 1428 [obiter
dictum]; Kaye, Civil Jurisdiction and Enforcement of Foreign Judgments, S.
1221 f., 1232; O'Malley/Layton, European Civil Practice, Rn. 23.08;
eingeschränkt Droz, Pratique de la Convention des Bruxelles du 27 Septembre
1968, Rn. 115; eine Aussetzungspflicht bejahend OLG München, Beschluss vom
16. Februar 2012 - 21 W 1098/11, juris Rn. 18 (14); Geimer/Schütze, EuZVR,
3. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rn. 18; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art.
27 Rn. 19; Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 27 Brüssel I-VO Rn.
16b; Musielak/Stadler, ZPO, 9. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rn. 7; Mayr in
Fasching/Konecny, Zivilprozeßgesetze, 2. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rn. 24 a.E.;
Weller in Hess/Pfeiffer/Schlosser, The Brussels I-Regulation (EC) No 44/2001
(Heidelberg Report), Rn. 356, 403; Carl, Torpedoklagen, S. 193 ff.; McGuire,
Verfahrenskoordination, S. 122 ff.; Schmehl, Pa rallelverfahren, S. 385 ff.;
zum EuGVÜ bzw. LugÜ vgl. auch Gothot/Holleaux, La Convention de Bruxelles du
27 Septembre 1968, Rn. 219 ff.; Isenburg-Epple, Die Berücksichtigung
ausländischer Rechtshängigkeit nach dem EuGVÜ, S. 87, 89;
BaslerKommentar-LugÜ/Mabillard, Art. 27 Rn. 52, 54; Dasser/Oberhammer -
Dasser, LugÜ, Art. 21 Rn. 35).
19 bb) Der Gerichtshof hat ausdrücklich offen gelassen, ob auch in solchen
Fällen nach Art. 16 EuGVÜ (jetzt Art. 22 EuGVVO) der formalen
Betrachtungsweise der Vorzug zu geben ist (C-116/02 - Gasser, Slg 2003,
I-14693 Rn. 44 f., 52; C-351/89 - Overseas Union Insurance, Slg 1991, I-3317
= NJW 1992, 3221 Rn. 20 f.; ebenso BGH, Urteil vom 8. Februar 1995 - VIII ZR
14/94, NJW 1995, 1758, 1759).
20 cc) Davon abgesehen lassen sich für beide Auffassungen gute Argumente ins
Feld führen.
21 (1) In Übereinstimmung mit dem Wortlaut von Art. 27 EuGVVO, der
auch bei Bestehen einer ausschließlichen Zuständigkeit keinen Anhaltspunkt
für eine einschränkende Auslegung bietet, neigt der Senat zur Bejahung einer
Aussetzungspflicht auch in Konstellationen der vorliegenden Art. Hinzu
kommt, dass den Prozessparteien durch eine Aussetzung des Zweitprozesses in
aller Regel kein unzumutbarer Nachteil entsteht. Durch die Klärung der
Zuständigkeitsfrage wird die Erlangung effektiven Rechtsschutzes in der
Regel allenfalls verzögert, nicht aber endgültig verhindert (vgl.
auch EuGH, C-163/95 - von Horn, Slg 1997, I-5451 = IPRax 1999, 100 Rn. 22 zu
intertemporalen Zuständigkeitskonflikten). Bei paralleler Prozessführung
besteht demgegenüber die Gefahr eines positiven Kompetenzkonflikts und damit
auch die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen. Dies gilt umso mehr, als
die Prüfung, ob eine ausschließliche Zuständigkeit vorliegt, ihrerseits
nicht stets eindeutig zu beantworten ist, und damit auch mit guten
Gründen über die Frage gestritten werden kann, ob ein Rechtsmissbrauch
gegeben ist, wenn eine Klage in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen
erhoben wird, für den eine ausschließliche Zuständigkeit in Betracht kommt.
22 (2) Allerdings spricht für die Gegenauffassung, dass die
Aussetzungspflicht nach Art. 27 EuGVVO nach ihrem Sinn und Zweck zwar
vermeiden soll, dass Gerichtsentscheidungen nach Art. 34 Nr. 3 bzw. 4 EuGVVO
wegen widersprechender Entscheidungen zur selben Sache nicht anerkannt
werden können (vgl. insoweit EuGH, 144/86 - Gubisch, Slg 1987, 4861 = NJW
1989, 665 Rn. 8; C-116/02 - Gasser, Slg 2003, I-14693 Rn. 41),
dieser Zweck aber im Fall einer ausschließlichen Zuständigkeit des
Zweitgerichts nach Art. 22 EuGVVO nicht einschlägig ist. Denn eine unter
Verkennung dieser ausschließlichen Zuständigkeit ergehende Sachentscheidung
des Erstgerichts wäre nach Art. 35 Abs. 1 EuGVVO ohnehin nicht
anerkennungsfähig; anders verhält es sich nur bei einer
Sachentscheidung unter Verkennung einer Gerichtsstandsvereinbarung nach Art.
23 EuGVVO. Zudem muss sich das Erstgericht nach Art. 25 EuGVVO von Amts
wegen für unzuständig erklären, wenn eine ausschließliche Zuständigkeit des
Zweitgerichts nach Art. 22 EuGVVO besteht. Davon kann weder aufgrund
Gerichtsstandsvereinbarung noch aufgrund rügeloser Einlassung des Beklagten
abgewichen werden (Art. 23 Abs. 5, Art. 24 Satz 2 EuGVVO; vgl. insoweit auch
EuGH, C-616/10 - Solvay, EWS 2012, 347 Rn. 44; C-4/03 - GAT, Slg 2006,
I-6509 = EWS 2006, 382, Rn. 24). Zwar ist die EuGVVO von dem Anliegen
getragen, grundsätzlich eine wechselseitige Überprüfung der Zuständigkeit
zwischen Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten zu vermeiden (vgl. dazu
EuGH, C-351/89 - Overseas Union Insurance, Slg 1991, I-3317 = NJW 1992, 3221
Rn. 24). Indessen setzt die Anwendung der Regelung des Art. 29 EuGVVO, nach
der sich das Zweitgericht bei doppelter ausschließlicher Zuständigkeit für
unzuständig erklären muss, eine solche Prüfung durch das Zweitgericht
ohnehin voraus. Dasselbe gilt im Rahmen der Anerkennung und Vollstreckung
(Art. 35 Abs. 1, Art. 45 Abs. 1 EuGVVO).
23 6. Auch wenn die Vorlagefrage bereits Teil eines beim Gerichtshof
anhängigen Vorabentscheidungsersuchens ist (C-438/12; vgl. OLG München,
Beschluss vom 16. Februar 2012 - 21 W 1098/11, juris), erscheint eine
erneute Vorlage sachdienlich. Zwar kommt in solchen Fällen eine Aussetzung
wegen Vorgreiflichkeit entsprechend § 148 ZPO in Betracht (vgl. BGH,
Beschluss vom 17. Juli 2012 - VIII ZR 13/12, juris Rn. 11 f.; Beschluss vom
30. März 2005 - X ZB 26/04, BGHZ 162, 373, 378; OLG Düsseldorf, NJW 1993,
1661; für eine uneingeschränkte Vorlagepflicht dagegen: Zöller/Greger, ZPO,
29. Aufl., § 148 Rn. 3b).
24 Dagegen spricht hier aber, dass sich die maßgebliche Rechtsfrage in dem
beim Gerichtshof bereits anhängigen Verfahren nur unter Bedingungen stellt.
Dort ist nämlich zunächst zu klären, ob überhaupt ein Fall doppelter
Rechtshängigkeit i.S.v. Art. 27 EuGVVO vorliegt und ob eine ausschließliche
Zuständigkeit nach Art. 22 EuGVVO besteht. Sollte der Gerichtshof auch nur
eine dieser Vorfragen verneinen, käme es auf die hier maßgebende Frage nicht
mehr an. Bei einer Aussetzung entsprechend § 148 ZPO müsste das vorliegende
Verfahren erst wieder aufgenommen und sodann zur Vorlage gebracht werden,
was die Beantwortung der Frage nur verzögerte.
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