Internationale Zuständigkeit bei deliktischen
Ansprüchen nach Art. 5 Nr. 3 EuGVVO bei Streudelikten
(Persönlichkeitsrechtsverletzung im Internet): Deliktischer Gerichtsstand am
Mittelpunkt der Lebensinteressen des Geschädigten, keine "Mosaikbetrachtung";
Bedeutung des Herkunftslandprinzips nach Art.
3 II der
"e-commerce Richtlinie"
EuGH, Urteil v. 25.10.2011 - verb. Rs. C-509/09 und
C-161/10 (eDate Advertising GmbH und Martinez)
Fundstelle:
NJW 2012, 137
Tenor:
1. Art. 5 Nr. 3 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001
des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die
Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
ist dahin auszulegen, dass im Fall der Geltendmachung einer Verletzung von
Persönlichkeitsrechten durch Inhalte, die auf einer Website veröffentlicht
worden sind, die Person, die sich in ihren Rechten verletzt fühlt, die
Möglichkeit hat, entweder bei den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem der
Urheber dieser Inhalte niedergelassen ist, oder bei den Gerichten des
Mitgliedstaats, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Interessen befindet, eine
Haftungsklage auf Ersatz des gesamten entstandenen Schadens zu erheben.
Anstelle einer Haftungsklage auf Ersatz des gesamten entstandenen Schadens
kann diese Person ihre Klage auch vor den Gerichten jedes Mitgliedstaats
erheben, in dessen Hoheitsgebiet ein im Internet veröffentlichter Inhalt
zugänglich ist oder war. Diese sind nur für die Entscheidung über den
Schaden zuständig, der im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats des angerufenen
Gerichts verursacht worden ist.
2. Art. 3 der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der
Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs,
im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“) ist
dahin auszulegen, dass er keine Umsetzung in Form einer speziellen
Kollisionsregel verlangt. Die Mitgliedstaaten müssen jedoch vorbehaltlich
der bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie
2001/31 gestatteten Ausnahmen im koordinierten Bereich sicherstellen, dass
der Anbieter eines Dienstes des elektronischen Geschäftsverkehrs keinen
strengeren Anforderungen unterliegt, als sie das im Sitzmitgliedstaat dieses
Anbieters geltende Sachrecht vorsieht.
Zentrale Probleme:
Es geht u.a. um die Entscheidung des Vorlageverfahrens
aufgrund eines Vorlagebeschlusses des BGH (s.
BGH v. 10.11.2009 - VI ZR 217/08). Partei ist u.a.
der "Sedlmayer-Mörder", der sich schon in mehreren Verfahren gegen die
Nennung seines Namens in Internetarchiven wehrt (s. die Nachweise in
BGH v. 9.2.2010 - VI ZR 243/08).
Die Entscheidung ergänzt oder korrigiert in gewisser Weise die berühmte
"Fiona Shevill"-Entscheidung des EuGH (NJW 1995, 1881) zur internationalen
(Delikts-)Zuständigkeit bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch die
Presse. In jener Entscheidung (referiert bei
Tz. 42) hatte
der EuGH die sog. "Mosaikbetrachtung" eingeführt: Danach konnte sich der
Betroffene an jedem Ort, an dem die Presseveröffentlichung verbreitet wird,
gegen diese wehren, aber jeweils nur für den betreffenden Staat (daher:
"Mosaik": Man muss dann in jedem Staat, in dem der Presseartikel verbreitet
wird, gesondert klagen). Einen allgemeinen Gerichtsstand, der die gesamte
Verbreitung betraf, hatte man nur am Sitz des Verlegers (Art. 2 I EuGVO).
Ein Betroffener hat bei Ehrverletzungen durch einen in mehreren
Mitgliedstaaten verbreiteten Artikel in Printmedien für die Erhebung einer
Schadensersatzklage gegen den Herausgeber also zwei Möglichkeiten: Er kann
nach Art. 2 I EuGVO die Gerichte des Staates anrufen, in dem der Herausgeber
ansässig ist, wobei diese Gerichte für die Entscheidung über den Ersatz
sämtlicher durch die Ehrverletzung entstandener Schäden zuständig sind. Zum
anderen kann er sich an die Gerichte jedes Mitgliedstaats wenden, in dem die
Veröffentlichung verbreitet worden ist und in dem das Ansehen des
Betroffenen nach dessen Vorbringen beeinträchtigt worden ist (Ort der
Verwirklichung des Schadenserfolgs, Art. 5 Nr. 3 EuGVO). In diesem Fall sind
die nationalen Gerichte jedoch nur für die Entscheidung über den Ersatz der
Schäden zuständig, die in dem Staat verursacht worden sind, in dem sie ihren
Sitz haben.
Für Internetveröffentlichungen gibt der EuGH jetzt einen solchen
deliktischen Gerichtsstand nach Art. 5 Nr. 3 EuGVO jetzt auch am Ort des
"Mittelpunkts seiner Interessen", und zwar für den gesamten entstandenen
Schaden (also keine Mosaikbetrachtung). Zentrales Argument ist die
"Ubiquität" von Internetveröffentlichungen (s.
Tz. 45 ff):
Die Rechtsverletzung ist an jedem Ort der Welt zugänglich. Dieser Ort ist im
Regelfall der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Betroffenen. Daneben
bleibt weiter die Möglichkeit, in jedem Staat zu klagen, in welchem die
Veröffentlichung zugänglich ist, dort aber jeweils nur für den dort
entstandenen Schaden.
Die
zweite
Vorlagefrage betrifft das anwendbare Recht. Dieses unterliegt nicht der
an sich für deliktische Ansprüche geltenden
Rom II-Verordnung,
weil deren Art. 1 II lit. g Persönlichkeitsrechtsverletzungen vom
Anwendungsbereich ausnimmt. Sie ist also weiter nach autonomen IPR (Art. 40
EGBGB) zu beantworten. Es stellt sich aber die Frage, ob Art.
3 II der
"e-commerce
Richtlinie" mit dem sog. "Herkunftslandsprinzip"
eine kollisionsrechtliche Bedeutung hat.
Die Bedeutung dieser Norm ist streitig. Wenn sie besagt, dass ein
e-commerce-Anbieter alles tun darf, was er in dem Land seines Sitzes
darf, kann die Norm entweder kollisionsrechtlichen oder sachrechtlichen
Charakter haben. Die Richtlinie selbst behauptet in der Begründungserwägung
Nr. 23, keine Kollisionsnormen zu enthalten. Im konkreten Fall war die
Veröffentlichung nämlich nach dem zumindest in Deutschland gem. Art. 40
EGBGB anwendbaren deutschen Recht unzulässig, nach österreichischem Recht
(Sitz des Dienstanbieters) aber u.U. zulässig. Der EuGH qualifiziert die
Regelung als sachrechtlich, nicht kollisionsrechtlich. Die Mitgliedstaaten
müssen also nicht ihr Kollisionsrecht ändern (das hier zur Anwendung
deutschen Rechts führt), sondern auf der Ebene des materiellen (hier:
deutschen) Rechts dafür sorgen, dass keine Persönlichkeitsrechtsverletzung
bejaht wird, wenn das Handeln des Anbieters nach dem Recht seines
Sitzstaates erlaubt ist. Das kann man auf der Ebene des deutschen Rechts
etwa im Rahmen der bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen ja gesondert
festzustellenden, d.h. nicht indizierten Rechtswidrigkeit tun.
Wichtig ist: Der EuGH meint mit dem Recht des Sitzstaates nur das
Sachrecht, nicht dessen IPR (s.
Tz. 68): Es ist
also hier nur zu prüfen, ob das Handeln des Anbieters nach österreichischem
materiellem Recht zulässig ist, nicht, ob aus österreichischer Sicht
ebenfalls deutsches Recht anwendbar wäre und die Veröffentlichung ebenfalls
unzulässig wäre. Spielte der Sachverhalt vor einem österreichischen Gericht
und käme dieses aufgrund des österreichischen Kollisionsrechts zur
Anwendbarkeit deutschen Rechts, müsste es auf der Eben des deutschen
Sachrechts also ebenso entscheiden, weil das deutsche Recht aufgrund der
Richtlinie in entsprechender richtlinienkonfomer Auslegung des deutschen
Rechts zur Zulässigkeit der Veröffentlichung kommen müsste.
Zur Endentscheidung des Falles s.
BGH v. 8.5.2012 - VI ZR 217/08.
©sl 2011
Urteil:
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung
von Art. 5 Nr. 3 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember
2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und
Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001,
L 12, S. 1, im Folgenden: Verordnung) und von Art. 3 Abs. 1 und 2 der
Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni
2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der
Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs,
im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“) (ABl.
L 178, S. 1, im Folgenden: Richtlinie).
2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten, eines
Rechtsstreits zwischen Herrn X und der eDate Advertising GmbH (im Folgenden:
eDate Advertising) sowie eines Rechtsstreits zwischen Herrn Olivier Martinez
und Herrn Robert Martinez auf der einen Seite und der MGN Limited (im
Folgenden: MGN) auf der anderen Seite, wegen der zivilrechtlichen Haftung
der Beklagten im Zusammenhang mit im Internet veröffentlichten Informationen
und Fotos.
Rechtlicher Rahmen
Die Verordnung
3 Der elfte Erwägungsgrund der Verordnung lautet:
„Die Zuständigkeitsvorschriften müssen in hohem Maße vorhersehbar sein und
sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten, und diese
Zuständigkeit muss stets gegeben sein, außer in einigen genau festgelegten
Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit
der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. Der Sitz
juristischer Personen muss in der Verordnung selbst definiert sein, um die
Transparenz der gemeinsamen Vorschriften zu stärken und Kompetenzkonflikte
zu vermeiden.“
4 Art. 2 Abs. 1 der Verordnung, der zu Abschnitt 1 („Allgemeine
Vorschriften“) des Kapitels II („Zuständigkeit“) gehört, sieht vor:
„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren
Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf
ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu
verklagen.“
5 Art. 3 Abs. 1 der Verordnung bestimmt:
„Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben,
können vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nur gemäß den
Vorschriften der Abschnitte 2 bis 7 dieses Kapitels verklagt werden.“
6 In Art. 5 Nr. 3, der zu Abschnitt 2 („Besondere Zuständigkeiten“) des
Kapitels II gehört, heißt es:
„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat,
kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:
…
3. wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten
Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung
den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem das
schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht.“
Die Richtlinie
7 Der vierte Satz des 22. Erwägungsgrundes der Richtlinie lautet:
„Um den freien Dienstleistungsverkehr und die Rechtssicherheit für Anbieter
und Nutzer wirksam zu gewährleisten, sollten die Dienste der
Informationsgesellschaft zudem grundsätzlich dem Rechtssystem desjenigen
Mitgliedstaates unterworfen werden, in dem der Anbieter niedergelassen ist.“
8 Im 23. Erwägungsgrund der Richtlinie heißt es:
„Diese Richtlinie zielt weder darauf ab, zusätzliche Regeln im Bereich des
internationalen Privatrechts hinsichtlich des anwendbaren Rechts zu
schaffen, noch befasst sie sich mit der Zuständigkeit der Gerichte;
Vorschriften des anwendbaren Rechts, die durch Regeln des Internationalen
Privatrechts bestimmt sind, dürfen die Freiheit zur Erbringung von Diensten
der Informationsgesellschaft im Sinne dieser Richtlinie nicht einschränken.“
9 Der 25. Erwägungsgrund der Richtlinie lautet:
„Nationale Gerichte, einschließlich Zivilgerichte, die mit privatrechtlichen
Streitigkeiten befasst sind, können im Einklang mit den in dieser Richtlinie
festgelegten Bedingungen Maßnahmen ergreifen, die von der Freiheit der
Erbringung von Diensten der Informationsgesellschaft abweichen.“
10 Nach ihrem Art. 1 Abs. 1 soll die Richtlinie „einen Beitrag zum
einwandfreien Funktionieren des Binnenmarktes leisten, indem sie den freien
Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft zwischen den
Mitgliedstaaten sicherstellt“.
11 Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie schafft weder zusätzliche Regeln im Bereich des
internationalen Privatrechts, noch befasst sie sich mit der Zuständigkeit
der Gerichte.“
12 Art. 2 Buchst. h Ziff. i der Richtlinie sieht vor:
„Der koordinierte Bereich betrifft vom Diensteanbieter zu erfüllende
Anforderungen in Bezug auf
– die Aufnahme der Tätigkeit eines Dienstes der Informationsgesellschaft,
beispielsweise Anforderungen betreffend Qualifikationen, Genehmigung oder
Anmeldung;
– die Ausübung der Tätigkeit eines Dienstes der Informationsgesellschaft,
beispielsweise Anforderungen betreffend das Verhalten des Diensteanbieters,
Anforderungen betreffend Qualität oder Inhalt des Dienstes, einschließlich
der auf Werbung und Verträge anwendbaren Anforderungen, sowie Anforderungen
betreffend die Verantwortlichkeit des Diensteanbieters.“
13 Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie lautet:
„(1) Jeder Mitgliedstaat trägt dafür Sorge, dass die Dienste der
Informationsgesellschaft, die von einem in seinem Hoheitsgebiet
niedergelassenen Diensteanbieter erbracht werden, den in diesem
Mitgliedstaat geltenden innerstaatlichen Vorschriften entsprechen, die in
den koordinierten Bereich fallen.
(2) Die Mitgliedstaaten dürfen den freien Verkehr von Diensten der
Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat nicht aus Gründen
einschränken, die in den koordinierten Bereich fallen.“
14 Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie nennt die Voraussetzungen, unter denen die
Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen können, die im Hinblick auf einen Dienst
der Informationsgesellschaft von Absatz 2 abweichen.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rechtssache C‑509/09
15 Der in Deutschland wohnhafte X wurde im Jahr 1993 zusammen mit
seinem Bruder von einem deutschen Gericht wegen Mordes an einem bekannten
Schauspieler zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Im Januar
2008 wurde er auf Bewährung entlassen.
16 Die in Österreich niedergelassene eDate Advertising betreibt unter der
Adresse „www.rainbow.at“ ein Internetportal. In der Rubrik „Info-News“ hielt
die Beklagte bis zum 18. Juni 2007 auf den für Altmeldungen vorgesehenen
Seiten eine auf den 23. August 1999 datierte Meldung zum Abruf bereit. Darin
wurde unter Nennung des Namens des X sowie seines Bruders mitgeteilt, die
beiden hätten beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (Deutschland)
Beschwerde gegen ihre Verurteilung eingelegt. Neben einer kurzen
Beschreibung der im Jahr 1990 begangenen Tat wurde der von den Verurteilten
beauftragte Anwalt mit den Worten zitiert, sie wollten beweisen, dass
mehrere Hauptbelastungszeugen im Prozess nicht die Wahrheit gesagt hätten.
17 X forderte eDate Advertising zur Unterlassung der Berichterstattung sowie
zur Abgabe einer Unterlassungsverpflichtungserklärung auf. eDate Advertising
antwortete auf dieses Schreiben nicht, entfernte aber am 18. Juni 2007 die
beanstandete Meldung aus ihrem Internetauftritt.
18 Mit seiner Klage vor den deutschen Gerichten verlangt X von eDate
Advertising, es zu unterlassen, über ihn im Zusammenhang mit der Tat unter
voller Namensnennung zu berichten. eDate Advertising rügte in erster Linie
die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte. Da die Klage in den
beiden Vorinstanzen Erfolg hatte, verfolgt sie ihren Antrag auf
Klageabweisung vor dem Bundesgerichtshof weiter.
19 Der Bundesgerichtshof führt aus, der Erfolg dieser Klage hänge davon ab,
ob die Vorinstanzen ihre internationale Zuständigkeit zur Entscheidung des
Rechtsstreits nach Art. 5 Nr. 3 der Verordnung zu Recht bejaht hätten.
20 Falls die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte gegeben
sei, stelle sich die Frage, ob deutsches oder österreichisches Recht
anzuwenden sei. Dies hänge von der Auslegung des Art. 3 Abs. 1 und 2 der
Richtlinie ab.
21 Zum einen könnte das Herkunftslandprinzip ein Korrektiv auf
materiell-rechtlicher Ebene darstellen. Das sachlich-rechtliche Ergebnis des
nach den Kollisionsregeln des Gerichtsstaats für anwendbar erklärten Rechts
werde im konkreten Fall gegebenenfalls inhaltlich modifiziert und auf die
weniger strengen Anforderungen des Herkunftslandrechts reduziert. Nach
dieser Deutung ließe das Herkunftslandprinzip die nationalen
Kollisionsregeln des Gerichtsstaates unberührt und käme – wie die
Grundfreiheiten des EG-Vertrags – erst im Rahmen eines konkreten
Günstigkeitsvergleichs auf materiell-rechtlicher Ebene zum Einsatz.
22 Zum anderen könnte durch Art. 3 der Richtlinie ein allgemeines
kollisionsrechtliches Prinzip etabliert werden, das unter Verdrängung der
nationalen kollisionsrechtlichen Regelungen zur alleinigen Anwendung des im
Herkunftsland geltenden Rechts führe.
23 Sehe man das Herkunftslandprinzip als sachlich-rechtliche
Rechtsanwendungsschranke, wäre deutsches internationales Privatrecht
anwendbar, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Klage endgültig
abzuweisen, da ein Unterlassungsanspruch des Klägers nach deutschem Recht zu
verneinen wäre. Messe man dem Herkunftslandprinzip dagegen
kollisionsrechtlichen Charakter bei, wäre der Unterlassungsanspruch des X
nach österreichischem Recht zu beurteilen.
24 Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof das Verfahren ausgesetzt
und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist die Wendung „Ort, an dem das schädigende Ereignis einzutreten
droht“ in Art. 5 Nr. 3 der Verordnung bei (drohenden)
Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch Inhalte auf einer Internet-Website
dahin gehend auszulegen, dass der Betroffene eine Unterlassungsklage gegen
den Betreiber der Website unabhängig davon, in welchem Mitgliedstaat der
Betreiber niedergelassen ist, auch bei den Gerichten jedes Mitgliedstaats
erheben kann, in dem die Website abgerufen werden kann,
oder
setzt die Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats, in dem
der Betreiber der Website nicht niedergelassen ist, voraus, dass ein über
die technisch mögliche Abrufbarkeit hinausgehender besonderer Bezug der
angegriffenen Inhalte oder der Website zum Gerichtsstaat (Inlandsbezug)
besteht?
2. Wenn ein solcher besonderer Inlandsbezug erforderlich ist:
Nach welchen Kriterien bestimmt sich dieser Bezug?
Kommt es darauf an, ob sich die angegriffene Website gemäß der Bestimmung
des Betreibers zielgerichtet (auch) an die Internetnutzer im Gerichtsstaat
richtet, oder genügt es, dass die auf der Website abrufbaren Informationen
objektiv einen Bezug zum Gerichtsstaat in dem Sinne aufweisen, dass eine
Kollision der widerstreitenden Interessen – Interesse des Klägers an der
Achtung seines Persönlichkeitsrechts und Interesse des Betreibers an der
Gestaltung seiner Website und an der Berichterstattung – nach den Umständen
des konkreten Falls, insbesondere aufgrund des Inhalts der beanstandeten
Website, im Gerichtsstaat tatsächlich eingetreten sein kann oder eintreten
kann?
Kommt es für die Feststellung des besonderen Inlandsbezugs maßgeblich auf
die Anzahl der Abrufe der beanstandeten Website vom Gerichtsstaat aus an?
3. Wenn es für die Bejahung der Zuständigkeit keines besonderen
Inlandsbezugs bedarf oder wenn es für die Annahme eines solchen genügt, dass
die beanstandeten Informationen objektiv einen Bezug zum Gerichtsstaat in
dem Sinne aufweisen, dass eine Kollision der widerstreitenden Interessen im
Gerichtsstaat nach den Umständen des konkreten Falls, insbesondere aufgrund
des Inhalts der beanstandeten Website, tatsächlich eingetreten sein kann
oder eintreten kann, und die Annahme eines besonderen Inlandsbezugs nicht
die Feststellung einer Mindestanzahl von Abrufen der beanstandeten Website
vom Gerichtsstaat aus voraussetzt:
Ist Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie dahin gehend auszulegen,
dass diesen Bestimmungen ein kollisionsrechtlicher Charakter in dem Sinne
beizumessen ist, dass sie auch für den Bereich des Zivilrechts unter
Verdrängung der nationalen Kollisionsnormen die alleinige Anwendung des im
Herkunftsland geltenden Rechts anordnen,
oder
handelt es sich bei diesen Vorschriften um ein Korrektiv auf
materiell-rechtlicher Ebene, durch das das sachlich-rechtliche Ergebnis des
nach den nationalen Kollisionsnormen für anwendbar erklärten Rechts
inhaltlich modifiziert und auf die Anforderungen des Herkunftslandes
reduziert wird?
Für den Fall, dass Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie kollisionsrechtlichen
Charakter hat:
Ordnen die genannten Bestimmungen lediglich die alleinige Anwendung des im
Herkunftsland geltenden Sachrechts oder auch die Anwendung der dort
geltenden Kollisionsnormen an mit der Folge, dass ein renvoi des Rechts des
Herkunftslands auf das Recht des Bestimmungslands möglich bleibt?
Rechtssache C‑161/10
25 Der französische Schauspieler Olivier Martinez und sein Vater
Robert Martinez rügen vor dem Tribunal de grande instance de Paris, ihr
Privatleben und das Recht am eigenen Bild von Olivier Martinez seien dadurch
verletzt worden, dass auf der Internetseite „www.sundaymirror.co.uk“ ein in
englischer Sprache abgefasster, nach der vorgelegten, nicht beanstandeten
französischen Übersetzung mit „Kylie Minogue est de nouveau avec Olivier
Martinez“ (Kylie Minogue ist wieder mit Olivier Martinez zusammen)
überschriebener Text vom 3. Februar 2008 mit Details zu ihrem Treffen
eingestellt worden sei.
26 Die Klage, die auf Art. 9 des französischen Code civil gestützt wird,
nach dem „jeder … das Recht auf Achtung seines Privatlebens [hat]“, richtet
sich gegen die Gesellschaft englischen Rechts MGN, die die Website der
britischen Zeitung Sunday Mirror betreibt. Diese Gesellschaft macht geltend,
das Tribunal de grande instance de Paris sei nicht zuständig, da kein
hinreichender Bezug zwischen der streitigen Veröffentlichung im Internet und
dem geltend gemachten Schaden im französischen Hoheitsgebiet bestehe,
während die Kläger die Auffassung vertreten, ein solcher Bezug sei nicht
erforderlich und jedenfalls gegeben.
27 Das vorlegende Gericht führt aus, bei einem schädigenden Ereignis, das
auf einer Verbreitung über das Internet beruhe, könne nur dann angenommen
werden, dass es im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingetreten sei, wenn
ein hinreichender, wesentlicher oder signifikanter Bezug zu diesem
Hoheitsgebiet bestehe.
28 Die Beantwortung der Frage, ob ein Gericht eines Mitgliedstaats für die
Entscheidung über eine Verletzung von Persönlichkeitsrechten zuständig sei,
die im Internet mittels einer von einer Person mit Wohnsitz in einem anderen
Mitgliedstaat betriebenen und im Wesentlichen für die Öffentlichkeit in
diesem anderen Staat bestimmten Website begangen worden sei, gehe nicht
eindeutig aus dem Wortlaut der Art. 2 und 5 Nr. 3 der Verordnung hervor.
29 Unter diesen Umständen hat das Tribunal de grande instance de Paris das
Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur
Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind die Art. 2 und 5 Nr. 3 der Verordnung dahin gehend auszulegen,
dass sie dem Gericht eines Mitgliedstaats die Zuständigkeit für die
Entscheidung über eine Klage wegen einer Verletzung von
Persönlichkeitsrechten, die möglicherweise durch die Veröffentlichung von
Informationen und/oder Fotografien auf einer in einem anderen Mitgliedstaat
von einer Gesellschaft mit Sitz in diesem Staat – oder auch in einem anderen
Mitgliedstaat, jedenfalls nicht im erstgenannten Mitgliedstaat – betriebenen
Internet-Website begangen worden ist, verleihen,
– sei es allein deshalb, weil diese Website vom erstgenannten Staat aus
konsultiert werden kann,
– sei es nur dann, wenn zwischen dem schädigenden Ereignis und dem Gebiet
des erstgenannten Staates eine hinreichende, wesentliche oder signifikante
Verknüpfung besteht, wobei sich dann die Frage stellt, ob sich diese
Verknüpfung ergeben kann aus
– dem Umfang der Aufrufe der streitigen Seite vom erstgenannten
Mitgliedstaat aus, absolut oder im Verhältnis zu allen Aufrufen dieser
Seite,
– dem Wohnort oder der Staatsangehörigkeit der Person, die eine Verletzung
ihrer Persönlichkeitsrechte rügt, oder allgemein der betroffenen Personen,
– der Sprache, in der die streitige Information verbreitet wird, oder jedem
anderen Umstand, der geeignet ist, den Willen des Betreibers der Website zu
belegen, sich speziell an die Öffentlichkeit im erstgenannten Staat zu
wenden,
– dem Ort, an dem sich der beschriebene Sachverhalt abgespielt hat und/oder
an dem die gegebenenfalls veröffentlichten Fotografien aufgenommen worden
sind,
– anderen Kriterien?
30 Mit Beschluss vom 29. Oktober 2010 hat der Präsident des
Gerichtshofs gemäß Art. 43 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs die
Rechtssachen C‑509/09 und C‑161/10 zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung und
Entscheidung verbunden.
Zur Zulässigkeit
31 Nach Ansicht der italienischen Regierung sind die in der
Rechtssache C‑509/09 vorgelegten Fragen mangels Erheblichkeit für das
Ausgangsverfahren für unzulässig zu erklären. Die Unterlassungsklage stelle
eine gerichtliche Dringlichkeitsmaßnahme dar und setze daher den
Gegenwartsbezug des schadensverursachenden Verhaltens voraus. Aus der
Darstellung des Sachverhalts ergebe sich jedoch, dass das angeblich
schädigende Verhalten zum Zeitpunkt der Erhebung der Unterlassungsklage
nicht mehr gegeben gewesen sei, da der Betreiber der Website die streitige
Meldung bereits vor Beginn des Verfahrens entfernt habe.
32 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung
in einem Verfahren nach Art. 267 AEUV nur das nationale Gericht, das mit dem
Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu
erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der
Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den
Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof
vorzulegenden Fragen zu beurteilen hat. Daher ist der Gerichtshof
grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese
die Auslegung des Unionsrechts betreffen (vgl. Urteil vom 17. Februar 2011,
TeliaSonera Sverige, C‑52/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung
veröffentlicht, Randnr. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Der Gerichtshof kann es nämlich nur dann ablehnen, über das
Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts zu befinden, wenn die
erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem
Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits
steht, insbesondere wenn das Problem hypothetischer Natur ist (vgl.
Urteil TeliaSonera Sverige, Randnr. 16).
34 Es ist aber nicht ersichtlich, dass die Unterlassungsklage im
Ausgangsverfahren gegenstandslos geworden wäre, weil der Betreiber der
Website die streitige Meldung bereits vor Beginn des Verfahrens
zurückgezogen hat. Wie nämlich in Randnr. 18 des vorliegenden Urteils
ausgeführt, hatte die Unterlassungsklage in den beiden unteren Instanzen
Erfolg.
35 Jedenfalls hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 5 Nr. 3 der
Verordnung nach seinem Wortlaut nicht voraussetzt, dass der Schaden
gegenwärtig vorliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Oktober 2002,
Henkel, C‑167/00, Slg. 2002, I‑8111, Randnrn. 48 und 49). Daher fällt eine
Klage, mit der verhindert werden soll, dass sich ein als rechtswidrig
angesehenes Verhalten wiederholt, unter diese Bestimmung.
36 Das Vorabentscheidungsersuchen ist mithin als zulässig anzusehen.
Zu den Vorlagefragen
Zur Auslegung des Art. 5 Nr. 3 der Verordnung
37 Mit den ersten beiden Fragen in der Rechtssache C‑509/09 und der
einzigen Frage in der Rechtssache C‑161/10, die gemeinsam zu prüfen sind,
möchten die vorlegenden Gerichte wissen, wie die Wendung „Ort, an dem das
schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht“ in Art. 5 Nr. 3
der Verordnung im Fall der Geltendmachung einer
Persönlichkeitsrechtsverletzung durch Inhalte einer Website auszulegen ist.
38 Zur Beantwortung dieser Fragen ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die
Bestimmungen der Verordnung nach ständiger Rechtsprechung autonom und unter
Berücksichtigung ihrer Systematik und ihrer Zielsetzungen auszulegen sind
(vgl. u. a. Urteil vom 16. Juli 2009, Zuid-Chemie, C‑189/08, Slg. 2009,
I‑6917, Randnr. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Da zum anderen die Verordnung in den Beziehungen der Mitgliedstaaten das
Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und
die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl.
1972, L 299, S. 32) in der Fassung der Übereinkommen über den Beitritt neuer
Mitgliedstaaten zu diesem Übereinkommen (im Folgenden: Brüsseler
Übereinkommen) ersetzt hat, gilt die Auslegung der Bestimmungen dieses
Übereinkommens durch den Gerichtshof auch für die der Verordnung, soweit die
Bestimmungen dieser Gemeinschaftsrechtsakte als gleichbedeutend angesehen
werden können (Urteil Zuid-Chemie, Randnr. 18).
40 Nach ständiger Rechtsprechung beruht die besondere Zuständigkeitsregel,
mit der in Art. 5 Nr. 3 der Verordnung vom Grundsatz der Zuständigkeit der
Gerichte am Beklagtenwohnsitz abgewichen wird, darauf, dass zwischen der
Streitigkeit und den Gerichten des Ortes, an dem das schädigende Ereignis
eingetreten ist, eine besonders enge Beziehung besteht, die aus Gründen
einer geordneten Rechtspflege und einer sachgerechten Gestaltung des
Prozesses eine Zuständigkeit dieser Gerichte rechtfertigt (vgl. Urteil Zuid-Chemie,
Randnr. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Ferner ist zu beachten, dass die Wendung „Ort, an dem das schädigende
Ereignis eingetreten ist“ sowohl den Ort des ursächlichen Geschehens als
auch den Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs meint. Diese beiden Orte
können unter dem Aspekt der gerichtlichen Zuständigkeit eine signifikante
Verknüpfung begründen, da jeder von beiden je nach Lage des Falles für die
Beweiserhebung und für die Gestaltung des Prozesses einen besonders
sachgerechten Anhaltspunkt liefern kann (Urteil vom 7. März 1995, Shevill
u. a., C‑68/93, Slg. 1995, I‑415, Randnrn. 20 und 21).
42 Zur Anwendung dieser beiden Anknüpfungskriterien bei Klagen auf Ersatz
eines immateriellen Schadens, der durch eine ehrverletzende Veröffentlichung
verursacht worden sein soll, hat der Gerichtshof entschieden, dass bei
Ehrverletzungen durch einen in mehreren Vertragsstaaten verbreiteten
Presseartikel der Betroffene eine Schadensersatzklage gegen den Herausgeber
sowohl bei den Gerichten des Vertragsstaats, in dem der Herausgeber der
ehrverletzenden Veröffentlichung niedergelassen ist, als auch bei den
Gerichten jedes Vertragsstaats erheben kann, in dem die Veröffentlichung
verbreitet worden ist und in dem das Ansehen des Betroffenen nach dessen
Behauptung beeinträchtigt worden ist; dabei sind die erstgenannten Gerichte
für die Entscheidung über den Ersatz sämtlicher durch die Ehrverletzung
entstandener Schäden und die letztgenannten Gerichte nur für die
Entscheidung über den Ersatz der Schäden zuständig, die in dem Staat des
angerufenen Gerichts verursacht worden sind (Urteil Shevill u. a., Randnr. 33).
43 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof zudem festgestellt, dass zwar
die Beschränkung der Zuständigkeit der Gerichte des Verbreitungsstaats auf
die im Gerichtsstaat verursachten Schäden Nachteile mit sich bringt, der
Kläger jedoch stets die Möglichkeit hat, seinen Anspruch insgesamt entweder
bei dem für den Wohnsitz des Beklagten zuständigen Gericht oder bei dem
Gericht anhängig zu machen, das für den Ort der Niederlassung des
Herausgebers der ehrverletzenden Veröffentlichung zuständig ist (Urteil Shevill u. a., Randnr. 32).
44 Diese Erwägungen lassen sich, wie der Generalanwalt in Nr. 39 seiner
Schlussanträge ausgeführt hat, auf andere Medien und Kommunikationsmittel
übertragen und auf vielfältige in den verschiedenen Rechtsordnungen bekannte
Verletzungen von Persönlichkeitsrechten erstrecken, zu denen auch die von
den Klägern der Ausgangsverfahren gerügten gehören.
45 Wie jedoch sowohl die vorlegenden Gerichte als auch die Mehrzahl der
Parteien und Beteiligten, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben
haben, vortragen, unterscheidet sich die Veröffentlichung von Inhalten auf
einer Website von der gebietsabhängigen Verbreitung eines Mediums wie eines
Druckerzeugnisses dadurch, dass es grundsätzlich auf die Ubiquität dieser
Inhalte abzielt. Die Inhalte können von einer unbestimmten Zahl von
Internetnutzern überall auf der Welt unmittelbar abgerufen werden,
unabhängig davon, ob es in der Absicht ihres Urhebers lag, dass sie über
seinen Sitzmitgliedstaat hinaus abgerufen werden, und ohne dass er Einfluss
darauf hätte.
46 Das Internet schränkt also den Nutzen des Verbreitungskriteriums ein, da
die Reichweite der Verbreitung im Internet veröffentlichter Inhalte
grundsätzlich weltumspannend ist. Auch ist es nicht immer technisch möglich,
diese Verbreitung sicher und zuverlässig für einen konkreten Mitgliedstaat
zu quantifizieren und so den ausschließlich in diesem Mitgliedstaat
verursachten Schaden zu beziffern.
47 Die Schwierigkeiten bei der Übertragung des im Urteil Shevill u. a.
aufgestellten Kriteriums der Verwirklichung des Schadenserfolgs auf den
Bereich des Internets kontrastieren, wie der Generalanwalt in Nr. 56 seiner
Schlussanträge ausgeführt hat, mit der Schwere der Verletzung, die der
Inhaber eines Persönlichkeitsrechts erleiden kann, der feststellt, dass ein
dieses Recht verletzender Inhalt an jedem Ort der Welt zugänglich ist.
48 Daher sind die in Randnr. 42 des vorliegenden Urteils angeführten
Anknüpfungskriterien dahin gehend anzupassen, dass das Opfer einer mittels
des Internets begangenen Verletzung eines Persönlichkeitsrechts nach Maßgabe
des Ortes, an dem sich der Erfolg des in der Europäischen Union durch diese
Verletzung verursachten Schadens verwirklicht hat, einen Gerichtsstand für
den gesamten Schaden in Anspruch nehmen kann. Da die Auswirkungen eines im
Internet veröffentlichten Inhalts auf die Persönlichkeitsrechte einer Person
am besten von dem Gericht des Ortes beurteilt werden können, an dem das
mutmaßliche Opfer den Mittelpunkt seiner Interessen hat, entspricht die
Zuweisung der Zuständigkeit an dieses Gericht dem in Randnr. 40 des
vorliegenden Urteils angeführten Ziel einer geordneten Rechtspflege.
49 Der Ort, an dem eine Person den Mittelpunkt ihrer Interessen hat,
entspricht im Allgemeinen ihrem gewöhnlichen Aufenthalt. Jedoch kann eine
Person den Mittelpunkt ihrer Interessen auch in einem anderen Mitgliedstaat
haben, in dem sie sich nicht gewöhnlich aufhält, sofern andere Indizien wie
die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit einen besonders engen Bezug zu
diesem Staat herstellen können.
50 Die Zuständigkeit des Gerichts des Ortes, an dem das mutmaßliche Opfer
den Mittelpunkt seiner Interessen hat, steht mit dem Ziel der
Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften im Einklang (vgl. Urteil vom
12. Mai 2011, BVG, C‑144/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung
veröffentlicht, Randnr. 33), und zwar auch hinsichtlich des Beklagten, da
der Urheber eines verletzenden Inhalts zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser
Inhalt im Internet veröffentlicht wird, in der Lage ist, den Mittelpunkt der
Interessen der Personen zu erkennen, um die es geht. Daher ermöglicht es das
Kriterium des Mittelpunkts der Interessen sowohl dem Kläger, ohne
Schwierigkeiten festzustellen, welches Gericht er anrufen kann, als auch dem
Beklagten, vorherzusehen, vor welchem Gericht er verklagt werden kann (vgl.
Urteil vom 23. April 2009, Falco Privatstiftung und Rabitsch, C‑533/07, Slg.
2009, I‑3327, Randnr. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Anstelle einer Haftungsklage auf Ersatz des gesamten Schadens sind nach
dem im Urteil Shevill u. a. aufgestellten Kriterium der Verwirklichung des
Schadenserfolgs ferner die Gerichte jedes Mitgliedstaats zuständig, in
dessen Hoheitsgebiet ein im Internet veröffentlichter Inhalt zugänglich ist
oder war. Diese sind nur für die Entscheidung über den Schaden zuständig,
der im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats des angerufenen Gerichts verursacht
worden ist.
52 Daher ist auf die ersten beiden Fragen in der Rechtssache C‑509/09 und
auf die einzige Frage in der Rechtssache C‑161/10 zu antworten, dass Art. 5
Nr. 3 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass im Fall der Geltendmachung
einer Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch Inhalte, die auf einer
Website veröffentlicht worden sind, die Person, die sich in ihren Rechten
verletzt fühlt, die Möglichkeit hat, entweder bei den Gerichten des
Mitgliedstaats, in dem der Urheber dieser Inhalte niedergelassen ist, oder
bei den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem sich der Mittelpunkt ihrer
Interessen befindet, eine Haftungsklage auf Ersatz des gesamten entstandenen
Schadens zu erheben. Anstelle einer Haftungsklage auf Ersatz des gesamten
entstandenen Schadens kann diese Person ihre Klage auch vor den Gerichten
jedes Mitgliedstaats erheben, in dessen Hoheitsgebiet ein im Internet
veröffentlichter Inhalt zugänglich ist oder war. Diese sind nur für die
Entscheidung über den Schaden zuständig, der im Hoheitsgebiet des
Mitgliedstaats des angerufenen Gerichts verursacht worden ist.
Zur Auslegung des Art. 3 der Richtlinie 2000/31
53 Mit seiner dritten Frage in der Rechtssache C‑509/09 möchte der
Bundesgerichtshof wissen, ob die Bestimmungen des Art. 3 Abs. 1 und 2 der
Richtlinie kollisionsrechtlichen Charakter in dem Sinne haben, dass sie auch
für den Bereich des Zivilrechts unter Verdrängung der nationalen
Kollisionsnormen für die Dienste der Informationsgesellschaft die alleinige
Anwendung des im Herkunftsland geltenden Rechts anordnen oder ob es sich bei
diesen Bestimmungen um ein Korrektiv des nach den nationalen
Kollisionsnormen für anwendbar erklärten Rechts handelt, um dieses gemäß den
Anforderungen des Herkunftslands inhaltlich zu modifizieren.
54 Bei der Prüfung dieser Bestimmungen sind nicht nur ihr Wortlaut, sondern
auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der
Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden (vgl. Urteile vom 19.
September 2000, Deutschland/Kommission, C‑156/98, Slg. 2000, I‑6857, Randnr. 50,
vom 7. Dezember 2006, SGAE, C‑306/05, Slg. 2006, I‑11519, Randnr. 34, und
vom 7. Oktober 2010, Lassal, C‑162/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung
veröffentlicht, Randnr. 49).
55 In diesem Sinne ist der verfügende Teil eines Unionsrechtsakts untrennbar
mit seiner Begründung verbunden und erforderlichenfalls unter
Berücksichtigung der Gründe auszulegen, die zu seinem Erlass geführt haben
(Urteile vom 29. April 2004, Italien/Kommission, C‑298/00 P, Slg. 2004,
I‑4087, Randnr. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung, und Lassal,
Randnr. 50).
56 Die Richtlinie, die auf der Grundlage der Art. 47 Abs. 2 EG, 55 EG und 95
EG erlassen worden ist, soll nach ihrem Art. 1 Abs. 1 einen Beitrag zum
einwandfreien Funktionieren des Binnenmarkts leisten, indem sie den freien
Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft zwischen den
Mitgliedstaaten sicherstellt. In ihrem fünften Erwägungsgrund werden als
rechtliche Hemmnisse für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts in
diesem Bereich die Unterschiede der innerstaatlichen Rechtsvorschriften
sowie die Rechtsunsicherheit hinsichtlich der auf Dienste der
Informationsgesellschaft jeweils anzuwendenden nationalen Regelungen
genannt.
57 Für die meisten Aspekte des elektronischen Geschäftsverkehrs zielt die
Richtlinie aber nicht auf eine Harmonisierung des Sachrechts ab, sondern
definiert einen „koordinierten Bereich“, in dessen Rahmen es die Regelung
des Art. 3 nach dem 22. Erwägungsgrund der Richtlinie ermöglichen soll, die
Dienste der Informationsgesellschaft grundsätzlich dem Rechtssystem
desjenigen Mitgliedstaats zu unterwerfen, in dem der Anbieter niedergelassen
ist.
58 Hierzu ist zum einen festzustellen, dass das Rechtssystem des
Sitzmitgliedstaats des Diensteanbieters auch den Bereich des Zivilrechts
umfasst, was sich u. a. aus dem 25. Erwägungsgrund der Richtlinie und daraus
ergibt, dass der Anhang der Richtlinie die zivilrechtlichen Ansprüche und
Pflichten aufführt, auf die die Regelung des Art. 3 keine Anwendung findet.
Zum anderen ist dessen Anwendung auf die Verantwortlichkeit der
Diensteanbieter in Art. 2 Buchst. h Ziff. i zweiter Gedankenstrich der
Richtlinie ausdrücklich vorgesehen.
59 Aus Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie ergibt sich vor dem Hintergrund
der oben dargestellten Bestimmungen und Ziele, dass die in der Richtlinie
vorgesehene Regelung die Erfüllung der Anforderungen des im
Sitzmitgliedstaat des Diensteanbieters geltenden Sachrechts auch für den
Bereich des Zivilrechts vorschreibt. Mangels zwingender
Harmonisierungsbestimmungen auf Unionsebene kann nämlich nur die Anerkennung
des zwingenden Charakters der nationalen Regelung, der die Anbieter und ihre
Dienste nach dem Willen des Gesetzgebers unterworfen sind, die volle
Wirksamkeit der Freiheit zur Erbringung dieser Dienste gewährleisten. Art. 3
Abs. 4 der Richtlinie stützt eine solche Sichtweise, da er die als
abschließend anzusehenden Voraussetzungen nennt, unter denen die
Mitgliedstaaten von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie abweichen können.
60 Bei der Auslegung des Art. 3 der Richtlinie ist aber auch deren Art. 1
Abs. 4 zu berücksichtigen, wonach die Richtlinie keine zusätzlichen Regeln
im Bereich des internationalen Privatrechts hinsichtlich des anwendbaren
Rechts schafft.
61 Hierzu ist zum einen darauf hinzuweisen, dass eine Auslegung der
Binnenmarktregel des Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie dahin, dass sie zu einer
Anwendung des im Sitzmitgliedstaat geltenden Sachrechts führt, nicht ihre
Einordnung als Regel im Bereich des internationalen Privatrechts nach sich
zieht. Dieser Absatz verpflichtet die Mitgliedstaaten nämlich in erster
Linie dazu, dafür Sorge zu tragen, dass die Dienste der
Informationsgesellschaft, die von einem in ihrem Hoheitsgebiet
niedergelassenen Diensteanbieter erbracht werden, den in diesen
Mitgliedstaaten geltenden innerstaatlichen Vorschriften entsprechen, die in
den koordinierten Bereich fallen. Die Auferlegung einer solchen
Verpflichtung weist nicht die Merkmale einer Kollisionsregel auf, die dazu
bestimmt wäre, einen spezifischen Konflikt zwischen mehreren zur Anwendung
berufenen Rechtsordnungen zu lösen.
62 Zum anderen untersagt Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie den Mitgliedstaaten,
den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem
anderen Mitgliedstaat aus Gründen einzuschränken, die in den koordinierten
Bereich fallen. Aus Art. 1 Abs. 4 in Verbindung mit dem 23. Erwägungsgrund
der Richtlinie folgt dagegen, dass es den Aufnahmemitgliedstaaten
grundsätzlich freisteht, das anwendbare Sachrecht anhand ihres
internationalen Privatrechts zu bestimmen, soweit sich daraus keine
Einschränkung der Freiheit zur Erbringung von Diensten des elektronischen
Geschäftsverkehrs ergibt.
63 Somit verlangt Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie keine Umsetzung in Form einer
speziellen Kollisionsregel.
64 Allerdings sind die Bestimmungen des Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie
so auszulegen, dass der Koordinierungsansatz des Unionsgesetzgebers den
freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft zwischen den
Mitgliedstaaten tatsächlich sicherstellen kann.
65 Der Gerichtshof hat hierzu bereits entschieden, dass zwingenden
Bestimmungen einer Richtlinie, die für die Verwirklichung der Ziele des
Binnenmarkts erforderlich sind, ungeachtet einer abweichenden Rechtswahl zur
Anwendung zu verhelfen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. November
2000, Ingmar, C‑381/98, Slg. 2000, I‑9305, Randnr. 25, und vom 23. März
2006, Honyvem Informazioni Commerciali, C‑465/04, Slg. 2006, I‑2879, Randnr. 23).
66 Zur Regelung des Art. 3 der Richtlinie ist festzustellen, dass die
Unterwerfung der Dienste des elektronischen Geschäftsverkehrs unter die
Rechtsordnung des Sitzmitgliedstaats ihres Anbieters nach Art. 3 Abs. 1 es
nicht ermöglichen würde, den freien Verkehr dieser Dienste umfassend
sicherzustellen, wenn die Diensteanbieter im Aufnahmemitgliedstaat letztlich
strengere Anforderungen als in ihrem Sitzmitgliedstaat erfüllen müssten.
67 Daher lässt es Art. 3 der Richtlinie vorbehaltlich der bei Vorliegen der
Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 4 gestatteten Ausnahmen nicht zu, dass der
Anbieter eines Dienstes des elektronischen Geschäftsverkehrs strengeren
Anforderungen unterliegt, als sie das im Sitzmitgliedstaat dieses Anbieters
geltende Sachrecht vorsieht.
68 Nach alledem ist auf die dritte Frage in der Rechtssache C‑509/09 zu
antworten, dass Art. 3 der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er keine
Umsetzung in Form einer speziellen Kollisionsregel verlangt. Die
Mitgliedstaaten müssen jedoch vorbehaltlich der bei Vorliegen der
Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie gestatteten Ausnahmen im
koordinierten Bereich sicherstellen, dass der Anbieter eines Dienstes des
elektronischen Geschäftsverkehrs keinen strengeren Anforderungen unterliegt,
als sie das im Sitzmitgliedstaat dieses Anbieters geltende Sachrecht
vorsieht.
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