Abgrenzung von der Bringschuld zur Gattungsschuld, Erfüllungsort bei Versandhandel, Konkretisierung und Gefahrtragung nach neuem und nach altem Schuldrecht (Unterscheidung zwischen Preis- und Leistungsgefahr)


BGH, Urteil v. 16. Juli 2003  - VIII ZR 302/02


Fundstelle:

NJW 2003, 3341


Amtl. Leitsatz:

Auch bei Geschäften im Versandhandel übernimmt der Verkäufer grundsätzlich keine Bringschuld. Handelt es sich um eine Gattungsschuld, beschränkt sich deshalb mit der Übergabe an die Transportperson die Schuld des Verkäufers im Sinne von § 243 Abs. 2 BGB auf die übergebene Sache. Geht die verkaufte Sache auf dem Versandweg verloren, so wird der Verkäufer gemäß § 275 Abs. 1 BGB a.F. von seiner Verpflichtung zur Leistung frei.


Zentrale Probleme (s. dazu eingehend Lorenz ZGS 2003, 421 ff):

Es geht um Grundsatzfragen des Schuldrechts. Der BGH beschäftigt sich dabei nur deshalb mit dem neuen Schuldrecht, weil das Berufungsgericht fälschlicherweise bereits das neue Schuldrecht angewendet hat. Weil es dies aber auch noch falsch angewendet hatte, war die Entscheidung im Ergebnis (zufällig) richtig. Die Vorinstanz hatte aber offenbar die relevanten Fragen heillos vermengt (s. dazu bereits die Anm. zu LG Bad Kreuznach VuR 2003, 80).
Der Kläger behauptete, den bestellten Camcorder nicht erhalten zu haben und verlangte neue Lieferung. Für die Revision war davon auszugehen, dass der Camcorder auf dem Transport abhanden gekommen ist. Der BGH legt zu recht dar, dass es sich (1) um eine Gattungsschuld handelt und dass (2) der Erfüllungsort am Sitz des Verkäufers ist (§ 269 I, III BGB). Damit tritt nach § 243 II BGB mit dem Absenden der Ware Konkretisierung nach § 243 II BGB ein, d.h. die Schuld mutiert zur Stückschuld. Geht der Camcorder jetzt unter, wird der Verkäufer nach § 275 I BGB (a.F. und n.F.) frei, d.h. er muss nicht noch einmal liefern. Damit geht also die sog. Sachgefahr (gleichbedeutend: Leistungsgefahr) mit der Konkretisierung auf den Gläubiger (Käufer) über.
§ 447 BGB hat hiermit überhaupt nichts zu tun. Diese Norm regelt vielmehr die Preisgefahr (gleichbedeutend: Gegenleistungsgefahr). Es geht also um die Frage, ob, wenn die Sache auf dem Transport untergeht (und der Verk. deshalb wegen § 275 I BGB nicht noch einmal leisten muss), der Verkäufer dennoch in Abweichung von § 326 I S. 1 BGB den Kaufpreis verlangen kann (das war aber nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens - der Käufer verlangte Neulieferung!). Hier gilt seit dem 1.1.2002 im Bereich des Verbrauchsgüterkaufrechts eine Neuregelung: Nach § 474 II BGB findet u.a. § 447 BGB im Verhältnis zwischen Unternehmern und Verbrauchern keine Anwendung. Geht bei einer Schickschuld die Sache auf dem Transport unter, verliert der Verkäufer wegen der Unanwendbarkeit von § 447 BGB unter den Voraussetzungen des § 326 BGB den Gegenleistungsanspruch, die Preisgefahr geht also nicht bereits mit Versendung auf den Verbraucher über. Das ändert aber nichts am Erfüllungsort, der Konkretisierung und der Sachgefahr (s. dazu die Anm. zu LG Bad Kreuznach aaO).
S. dazu auch
BGH v. 6.11.2013 - VIII ZR 353/12.

©sl 2003


Tatbestand:

Am 6. Juni 2001 bestellte der Kläger bei der Beklagten, die in M. unter anderem einen Versandhandel mit elektronischen Geräten betreibt, per e-mail einen Camcorder DV Panasonic NV-DS 38 EG zum Preis von 1.999 DM. Der Kaufpreis wurde von der eingeschalteten Kreditbank bezahlt. Am 28. Juni 2001 übergab die Beklagte die ordnungsgemäß adressierte Sendung einem Paketdienst zum Versand an den Kläger. Der Kläger behauptet, er habe die Ka-mera bis jetzt nicht erhalten. Den im vorliegenden Rechtsstreit von der Beklagten vorgelegten Ablieferungsbeleg vom 29. Juni 2001 habe er nicht unterschrieben; bei der Unterschrift ("M. U. ") handele es sich um eine Fälschung.

Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Übergabe eines Camcorders des bezeichneten Typs und zur Verschaffung des Eigentums an der Kamera. Die Beklagte macht geltend, mit der Übergabe der Sendung an den Paketdienst habe sie, da eine Schickschuld vorliege und § 447 BGB anzuwenden sei, das ihrerseits zur Erfüllung Erforderliche getan. Der Kläger habe das Paket auch erhalten; die Unterschrift auf dem Ablieferungsbeleg stamme von ihm.

Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel in vollem Umfang weiter.

Entscheidungsgründe:

I. In seiner den Anforderungen des § 540 ZPO gerade noch genügenden Entscheidung ist das Landgericht davon ausgegangen, daß es sich im vorliegenden Fall um einen Versendungskauf im Sinne des § 447 BGB handele und die Beklagte deshalb mit der Übergabe des Camcorders an den Paketdienst am 28. Juni 2001 ihren Verpflichtungen aus dem Kaufvertrag Genüge getan habe. Die Vorschrift des § 447 BGB sei auch für moderne Vertriebsformen anzuwenden, da der Gesetzgeber trotz kritischer Stimmen im Schrifttum die Reform des Kaufrechts nicht zum Anlaß genommen habe, für diese Vertriebsformen etwas anderes zu regeln.

II. Die Entscheidung des Landgerichts hält der rechtlichen Nachprüfung im Ergebnis stand.

1. Das Berufungsgericht hat die Revision gemäß § 543 Abs. 2 Ziff. 2 ZPO offensichtlich deshalb zugelassen, weil es eine Klärung der Rechtsfrage für geboten gehalten hat, ob auch nach der Reform des Kaufrechts die Bestimmung des § 447 BGB "für moderne Vertriebsformen gelten kann und soll". Diese Frage bedarf jedoch für Fälle der vorliegenden Art keiner höchstrichterlichen Klärung, da der Gesetzgeber sie durch die Einfügung des § 474 Abs. 2 BGB bereits beantwortet hat. Nach dieser Vorschrift ist die Anwendung des § 447 BGB auf Verbrauchsgüterkaufverträge - zwingend (§ 475 Abs. 1 BGB) - ausgeschlossen. Daß eine Fallgestaltung, wie sie hier gegeben ist, einen Verbrauchsgüterkauf darstellt, steht nach der gesetzlichen Definition des § 474 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbs. BGB außer Frage. Obwohl demnach die vom Berufungsgericht formulierte Revisionszulassung ins Leere geht, ist das Revisionsgericht hieran gebunden (§ 543 Abs. 2 Satz 2 ZPO).

2. Die Begründung für die Zulassung der Revision läßt erkennen, daß das Berufungsgericht das Kaufrecht bereits in seiner neuen, am 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Fassung anwenden wollte. Das ist zwar rechtsfehlerhaft, weil im vorliegenden Fall die Bestimmungen noch in ihrer bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fassung maßgeblich sind (Art. 229 § 5 Satz 1 EGBGB). Da § 447 BGB aber unverändert geblieben ist und das Landgericht die neue Ausschlußvorschrift des § 474 Abs. 2 BGB übersehen hat, bleibt der Rechtsirrtum auch insoweit ohne Folgen, als es auf die Vorschrift - vorbehaltlich der nachfolgenden Ausführungen - ankommt.

3. Das Berufungsgericht hat im Ergebnis zu Recht angenommen, daß die Beklagte auch dann, wenn der Kläger den Camcorder nicht erhalten hat und dieser auf dem Versandweg auf ungeklärte Weise verschwunden sein sollte, nicht gemäß § 433 Abs. 1 BGB zur Lieferung einer anderen Kamera des gleichen Typs verpflichtet ist.

a) Auf die Frage, ob nach der für den Versendungskauf geltenden speziellen Bestimmung des § 447 Abs. 1 BGB die Gefahr auf den Kläger übergegangen war, kommt es insofern allerdings nicht an. Die Lieferpflicht der Beklagten ist nämlich bei einer nach der Übergabe an den Paketdienst eingetretenen Unauffindbarkeit des übergebenen Camcorders bereits nach der allgemeinen Vorschrift des § 275 BGB a.F. entfallen. Danach wird der Schuldner von der Verpflichtung zur Leistung frei, soweit die Leistung infolge eines nach der Entstehung des Schuldverhältnisses eintretenden Umstandes, den er nicht zu vertreten hat, unmöglich wird. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt; insbesondere ist nichts dafür vorgetragen oder sonst ersichtlich, daß die Beklagte bei der Auswahl des mit der Versendung der Kamera beauftragten Paketdienstes ihre Sorgfaltspflichten verletzt hat. Der Befreiung von der Leistungspflicht steht des weiteren nicht entgegen, daß mit der Bestellung des Camcorders eine Gattungsschuld vereinbart wurde (§ 279 BGB a.F.). Mit der Auswahl eines konkreten Gerätes und dessen Übergabe an den Paketdienst durch die Beklagte beschränkte sich nach § 243 Abs. 2 BGB das Schuldverhältnis auf den übergebenen Camcorder. Die Beklagte hat mit der Übergabe des Gerätes an die Spedition das im Sinne dieser Vorschrift zur Bewirkung der geschuldeten Leistung ihrerseits Erforderliche getan, wie sich auch aus § 447 Abs. 1 BGB ergibt; Leistungsort für die von der Beklagten zur Bewirkung der Leistung vorzunehmenden Handlungen war ihr Geschäftssitz (§ 269 Abs. 1 und 3 BGB).

b) Leistungsort für die dem Verkäufer obliegende Verpflichtung zur Übergabe der Kaufsache an den Käufer und zur Verschaffung des Eigentums an ihr (§ 433 Abs. 1 Satz 1 BGB a.F.) ist im Zweifel der (Wohn-) Sitz des Verkäufers; allerdings gilt dies nur, wenn ein (anderer) Ort für die Leistung weder von den Beteiligten bestimmt noch aus den Umständen, insbesondere aus der Natur des Schuldverhältnisses, zu entnehmen ist (§ 269 Abs. 1 BGB). Daß die Parteien ausdrücklich oder stillschweigend einen vom Sitz der Beklagten abweichenden Erfüllungsort für die Lieferung der Kamera vereinbart haben, macht der Kläger nicht geltend und ist auch sonst nicht zu erkennen. Aus den Umständen, etwa aus der Natur des vorliegenden Kaufvertrages, ergibt sich gleichfalls nichts Derartiges. Daß es im Versandhandel typischerweise Aufgabe des Verkäufers ist, die Versendung der Kaufsache - auf eigene oder fremde Kosten - zu veranlassen, begründet für sich allein nicht die Annahme, der Empfangsort solle auch Leistungsort (Erfüllungsort) für die Lieferpflicht des Verkäufers sein (arg. § 269 Abs. 3 BGB). Es bleibt daher bei der Vermutung des § 269 Abs. 1 BGB, wonach der Sitz der Beklagten Erfüllungsort für die ihr obliegenden Verkäuferpflichten war (ebenso Bamberger/Roth/Grüneberg, § 269 Rdnr. 10, 33; Soergel/Wolf, 12. Aufl., § 269 Rdnr. 16; a.A. OLG Stuttgart, NJW-RR 1999, 1576; MünchKomm/Krüger, 4. Aufl., § 269 Rdnr. 20; Palandt/Heinrichs, 62. Aufl., § 269 Rdnr. 12).

c) Ob die Beklagte, wie sie behauptet, ihren Kunden auch die Abholung der Ware in ihren Filialgeschäften ermöglicht, kann dahinstehen (vgl. Senatsurteil vom 5. Dezember 1990 - VIII ZR 75/90, NJW 1991, 915 zur Versendung an einen anderen Ort als den Erfüllungsort). Selbst wenn sie die Ware ausschließlich im Versandhandel vertreibt, ändert dies nichts daran, daß in der Bestellung des Kunden zumindest die schlüssige Erklärung enthalten ist, die Kaufsache solle ihm an seine Wohnanschrift oder eine andere angegebene Versandadresse geliefert werden.

d) Aus § 447 BGB ergibt sich nichts anderes. Diese Vorschrift weist das mit der Versendung verbundene Risiko des zufälligen Untergangs oder der zufälligen Beschädigung der Sache dem Käufer zu, wenn der Verkäufer die verkaufte Sache auf Verlangen des Käufers an einen anderen Ort als den Erfüllungsort versendet. In diesem Fall geht die Gegenleistungsgefahr auf den Käufer über, sobald der Verkäufer die Sache der mit der Versendung beauftragten Person übergibt (vgl. aber nach neuem Recht für den Verbrauchsgüterkauf § 474 Abs. 2 BGB). Der nach § 269 BGB zu bestimmende Leistungsort wird von der Regelung des § 447 Abs. 1 BGB nicht berührt. Der Tatbestand des § 447 Abs. 1 BGB setzt vielmehr voraus, daß der Ort der vom Verkäufer vorzunehmenden Leistungshandlung (Leistungsort) und der Ort, an dem der Leistungserfolg eintritt, auseinanderfallen (Soergel/Huber, BGB, 12. Aufl., § 447 Rdnr. 14; Bamberger/Roth/Faust, BGB, § 447 Rdnr. 5).

4. Auf die Frage, ob der Paketdienst, wie die Beklagte vorgetragen hat, die Sendung tatsächlich dem Kläger übergeben und dieser den Ablieferungsbeleg unterschrieben hat, kommt es nach alledem nicht mehr an. Die (erneute) Lieferung einer Kamera des gekauften Typs kann der Kläger nicht verlangen. Seine Revision ist daher zurückzuweisen.