Eingeschränkte
Deliktsfähigkeit von Kindern im Alter von 7 - 9 Jahren bei Unfällen im
Straßenverkehr (§ 828 II BGB): Voraussetzung der "typischen
Überforderungssituation"
BGH, Urteil vom 17. April
2007 - VI ZR 109/06
Fundstelle:
NJW 2007, 2113
BGHZ 172, 83
Amtl. Leitsatz:
a) Stößt ein
achtjähriges Kind mit seinem Fahrrad aufgrund überhöhter, nicht angepasster
Geschwindigkeit und Unaufmerksamkeit im fließenden Verkehr gegen ein
verkehrsbedingt haltendes Kraftfahrzeug, das es nicht herankommen sehen
konnte und mit dem es deshalb möglicherweise nicht rechnete, so handelt es
sich um eine typische Fallkonstellation der Überforderung des Kindes durch
die Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe
im motorisierten Straßenverkehr.
b) Darauf, ob sich diese Überforderungssituation konkret ausgewirkt hat oder
ob das Kind aus anderen Gründen nicht in der Lage war, sich verkehrsgerecht
zu verhalten, kommt es im Hinblick auf die generelle Heraufsetzung der
Deliktsfähigkeit von Kindern durch § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB in der Fassung
des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19.
Juli 2002 (BGBl I S. 2674) nicht an.
Zentrale Probleme:
Durch das
zweite Gesetz zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19. Juli
2002 (BGBl. I S. 2674) hat der Gesetzgeber für schädigende
Ereignisse, die nach dem 31. Juli 2002 eingetreten sind, die
Verantwortlichkeit Minderjähriger neu geregelt. Nach dieser Neuregelung ist
ein Minderjähriger, der das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr
vollendet hat, für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem
Kraftfahrzeug, einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn einem anderen
fahrlässig zufügt, nicht verantwortlich (§ 828 Abs. 2 Satz 1 BGB).
Mit der Einführung dieser Ausnahmeregelung hat der Gesetzgeber dem Umstand
Rechnung getragen, daß Kinder regelmäßig frühestens ab Vollendung des 10.
Lebensjahres im Stande sind, die besonderen Gefahren des motorisierten
Straßenverkehrs zu erkennen und sich den Gefahren entsprechend zu verhalten.
Die Heraufsetzung des deliktsfähigen Alters ist auf Schadensereignisse im
motorisierten Straßen- oder Bahnverkehr begrenzt. Hierbei kommen nämlich die
altersbedingten Defizite eines Kindes, wie z.B. Entfernungen und
Geschwindigkeiten nicht richtig einschätzen zu können, regelmäßig zum
Tragen, weil sich Kinder im motorisierten Verkehr unter anderem durch die
Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe in
einer besonderen Überforderungssituation befinden. Da Grund für die
Privilegierung gerade diese Überforderungssituation ist, wendet der BGH die
Regelung dann nicht an, wenn sich nicht die
spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs nicht ausgewirkt haben und
damit eine solche typische Überforderungssituation nicht gegeben war (BGHZ
161, 180: Kind prallt mit Kickboard gegen parkendes Auto). S. auch
BGH NJW 2008, 147 (auf die Straße rollendes Fahrrad).
Im vorliegenden Fall bejaht der BGH aber zutreffend das Eingreifen der
Privilegierung.
Zu Recht betont der Senat weiter, daß die Privilegierung des § 828 II BGB
pauschal wirkt, d.h. es kommt - anders als bei § 828 III BGB nicht auf die
individuellen Fähigkeiten des Kindes im Einzelfall an.
Materialien zum
zweite
Gesetz zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften finden sich auf
der Seite zur
Schuldrechtsmodernisierung unter "Weitere
Reformen/Schadensrecht".
©sl 2007
Tatbestand:
1 Die Klägerin macht gegen den Beklagten Schadensersatzansprüche aus einem
Verkehrsunfall vom 16. Juli 2005 geltend. An dem Verkehrsunfall waren die
Klägerin mit ihrem PKW und der zum Unfallzeitpunkt achtjährige Beklagte mit
seinem Fahrrad beteiligt.
2 Die Klägerin hielt ihren PKW im Bereich einer Straßeneinmündung auf ihrer
Fahrbahnhälfte vor der gedachten Sichtlinie an, um sich vor dem
beabsichtigten Linksabbiegen zu vergewissern, ob sie bevorrechtigtem Verkehr
eventuell Vorfahrt gewähren musste. Zur selben Zeit näherte sich der
Beklagte mit seinem Fahrrad aus Sicht der Klägerin von links kommend dem
Einmündungsbereich, um nach rechts in die Straße einzubiegen, in der die
Klägerin mit ihrem PKW stand. Dem Beklagten war zunächst der Blick auf die
Einmündung und den dort seit wenigen Sekunden haltenden PKW der Klägerin
durch eine am Fahrbahnrand stehende, ca. 2 m hohe Hecke versperrt, bei
weiterer Annäherung aber war dieser zumindest aus einer Entfernung von ca.
20 m deutlich erkennbar. Er übersah ihn jedoch aufgrund überhöhter, nicht
angepasster Geschwindigkeit und Unaufmerksamkeit und fuhr frontal auf den
stehenden PKW der Klägerin auf.
3 Mit ihrer Klage verlangt die Klägerin Ersatz des an ihrem PKW entstandenen
Schadens in Höhe von 1.415,57 € nebst einer Unkostenpauschale von 30 €. Das
Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das
Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil teilweise abgeändert und der
Klage zu einer Quote von 4/5 stattgegeben. Mit der vom Berufungsgericht
zugelassenen Revision begehrt der Beklagte die Wiederherstellung des
erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe:
I.
4 Das Berufungsgericht meint im Gegensatz zum erstinstanzlichen Urteil, dem
Beklagten komme das Haftungsprivileg des § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB n.F. nicht
zugute. Zwar sei der Beklagte zum Unfallzeitpunkt erst acht Jahre alt
gewesen und habe der Klägerin den Schaden auch bei einem Unfall mit einem
Kraftfahrzeug entsprechend dem Wortlaut dieser gesetzlichen Regelung
zugefügt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs greife die
Vorschrift nach ihrem Sinn und Zweck jedoch nur ein, wenn sich bei der
gegebenen Fallkonstellation eine typische Überforderungssituation des Kindes
durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert habe.
Dies sei hier nicht der Fall gewesen. Das ordnungsgemäß haltende Fahrzeug
der Klägerin habe allenfalls ein stehendes Objekt dargestellt, von dem keine
Gefahr ausgegangen sei, die auf die Geschwindigkeit des Fahrzeuges
zurückgeführt werden könne. Eine hier gegebene Überforderungssituation des
Beklagten sei auf dessen eigene, gegebenenfalls überhöhte Geschwindigkeit,
jedenfalls aber auf dessen vollkommene Sorglosigkeit bei der Teilnahme im
Straßenverkehr zurückzuführen. Von einer solchen voll umfänglichen
Sorglosigkeit sei der Gesetzgeber bei der Haftungsprivilegierung nach § 828
Abs. 2 Satz 1 nicht ausgegangen. Diese Schwierigkeiten, sich im
Straßenverkehr verkehrsgerecht zu verhalten, die ausschließlich in der
Person des Kindes, nicht jedoch in den Gefahren des motorisierten Verkehrs
ihre Grundlage hätten, rechtfertigten keine Haftungsfreistellung. Die
Klägerin habe sich mithin lediglich eine Mithaftung wegen der von ihrem
Fahrzeug ausgehenden Betriebsgefahr in Höhe von 20% anrechnen zu lassen.
II.
5 Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält revisionsrechtlicher
Nachprüfung nicht stand. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist
die Verantwortlichkeit des Beklagten nach § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB unter den
Umständen des Streitfalles ausgeschlossen.
6 1. Da das schädigende Ereignis nach dem 31. Juli 2002 eingetreten ist,
richtet sich die Verantwortlichkeit des minderjährigen Schädigers gemäß Art.
229 § 8 Abs. 1 EGBGB nach § 828 BGB in der Fassung des 2. Gesetzes zur
Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19. Juli 2002 (BGBl I S.
2674). Danach ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem
Kraftfahrzeug einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wer das 7., aber
nicht das 10. Lebensjahr vollendet hat.
7 Das Berufungsgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass § 828
Abs. 2 Satz 1 BGB nach seinem Wortlaut im vorliegenden Fall ohne weiteres
eingreift. Soweit es gleichwohl seine Anwendbarkeit unter Bezugnahme auf die
Rechtsprechung des erkennenden Senats verneint, kann dem nicht gefolgt
werden.
8 2. Der erkennende Senat hat zwar eine teleologische Reduktion des
Wortlauts dieser Vorschrift in Fällen vorgenommen, in denen Kinder der
privilegierten Altersgruppe mit einem Kickboard oder Fahrrad gegen ein
ordnungsgemäß geparktes Kraftfahrzeug gestoßen sind und dieses beschädigt
haben. Er hat hierzu ausgeführt, die Vorschrift greife nach ihrem Sinn und
Zweck nur ein, wenn sich bei der gegebenen Fallkonstellation eine typische
Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des
motorisierten Verkehrs realisiert habe (vgl. Senatsurteile
BGHZ 161, 180 und vom 21. Dezember 2004 - VI ZR
276/03 - VersR 2005, 378 m.w.N.).
9 Der Gesetzgeber hat nämlich mit der Einführung der Ausnahmevorschrift des
§ 828 Abs. 2 BGB dem Umstand Rechnung getragen, dass Kinder bis zur
Vollendung ihres zehnten Lebensjahres regelmäßig überfordert sind, die
besonderen Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs zu erkennen,
insbesondere die Entfernungen und Geschwindigkeiten von anderen
Verkehrsteilnehmern richtig einzuschätzen und sich den Gefahren entsprechend
zu verhalten. Dabei hat er sich von der Erkenntnis leiten lassen, dass
Kinder in diesem Alter wegen ihres Lauf- und Erprobungsdrangs, ihrer
Impulsivität, Affektreaktionen, mangelnden Konzentrationsfähigkeit und ihrem
gruppendynamischen Verhalten oft zu einem verkehrsgerechten Verhalten nicht
in der Lage sind (vgl.
BT-Drucks. 14/7752, S. 16 f. und 26 f.).
Allerdings wollte er die Deliktsfähigkeit nicht generell und nicht bei
sämtlichen Verkehrsunfällen erst mit Vollendung des zehnten Lebensjahres
beginnen lassen. Er wollte die Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit vielmehr
auf im motorisierten Straßen- oder Bahnverkehr plötzlich eintretende
Schadensereignisse begrenzen, bei denen die altersbedingten Defizite eines
Kindes, wie z.B. Entfernungen und Geschwindigkeiten nicht richtig
einschätzen zu können, zum Tragen kommen, weil sich das Kind durch die
Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe im
motorisierten Verkehr in einer besonderen Überforderungssituation befindet
(vgl.
BT-Drucks. 14/7752, S. 26 f.).
10 3. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann eine solche
typische Überforderungssituation, die nach dem Willen des Gesetzgebers zu
einem Haftungsausschluss führt, unter den Umständen des Streitfalles nicht
verneint werden. Eine typische Gefahr des motorisierten Verkehrs kann
auch von einem Kraftfahrzeug ausgehen, das im fließenden Verkehr anhält
(d.h. seine Geschwindigkeit auf Null reduziert) und auf der Fahrbahn für das
Kind ein plötzliches Hindernis bildet, mit dem es möglicherweise nicht
gerechnet hat. Auch in einer solchen Fallkonstellation können
altersbedingte Defizite eines Kindes im motorisierten Straßenverkehr, von
denen die Fähigkeit zur richtigen Einschätzung von Entfernungen und
Geschwindigkeiten nur beispielhaft genannt sind, zum Tragen kommen. Insoweit
ist der Streitfall nicht - wie das Berufungsgericht meint - mit den Fällen
einer Kollision mit einem ordnungsgemäß parkenden Kraftfahrzeug
vergleichbar, an dessen Stelle ebenso gut ein anderer Gegenstand stehen
könnte, mit dem aber im fließenden Verkehr so nicht zu rechnen ist.
11 Die Klägerin nahm im Streitfall, obwohl sie anhielt, mit ihrem PKW zum
Zeitpunkt des Zusammenstoßes am fließenden Straßenverkehr teil. Der
einheitliche Vorgang der Fahrt wird nicht dadurch beendet, dass das Fahrzeug
durch verkehrsbedingte Umstände vorübergehend angehalten wird (vgl.
Senatsurteil vom 12. Dezember 2000 - VI ZR 411/99 - VersR 2001, 524). Die
Klägerin hatte nach den insgesamt unangegriffenen Feststellungen des
Berufungsgerichts im Einmündungsbereich einer Straße, in welche der Beklagte
einbiegen wollte, lediglich kurz auf ihrer Fahrbahnseite angehalten, um
ihrerseits nach links abzubiegen. Sie war für den Beklagten wegen der sich
am Fahrbahnrand befindlichen ca. 2 m hohen Hecke während ihrer Annäherung an
die Straßeneinmündung nicht erkennbar gewesen. Dem Beklagten war durch die
Hecke zunächst auch der Blick auf die Einmündung und den bereits dort seit
wenigen Sekunden haltenden PKW der Klägerin versperrt. Stößt ein
achtjähriges Kind in einer solchen Situation mit seinem Fahrrad aufgrund
überhöhter, nicht angepasster Geschwindigkeit und Unaufmerksamkeit im
fließenden Verkehr gegen ein verkehrsbedingt haltendes Kraftfahrzeug, das es
nicht herankommen sehen konnte und mit dem es deshalb möglicherweise nicht
rechnete, so handelt es sich damit um eine typische Fallkonstellation der
Überforderung des Kindes durch die Schnelligkeit, die Komplexität und die
Unübersichtlichkeit der Abläufe im motorisierten Straßenverkehr.
Darauf, ob sich diese Überforderungssituation konkret ausgewirkt hat oder ob
das Kind aus anderen Gründen nicht in der Lage war, sich verkehrsgerecht zu
verhalten, kommt es nicht an. Um eine klare Grenzlinie für die Haftung von
Kindern zu ziehen, hat der Gesetzgeber diese Fallgestaltungen einheitlich in
der Weise geregelt, dass er die Altersgrenze der Deliktsfähigkeit von
Kindern für den Bereich des motorisierten Verkehrs generell heraufgesetzt
hat (vgl. Senatsurteil vom 14. Juni 2005 - VI ZR 181/04 -VersR 2005,
1154, 1155).
III.
12 Da keine weiteren Feststellungen mehr erforderlich sind, kann der Senat
selbst entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO). Dies führt zur Wiederherstellung des
die Klage insgesamt abweisenden erstinstanzlichen Urteils.
13 Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 ZPO.
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