Voraussetzung der
Haftungsprivilegierung von Kindern im Straßenverkehr gem. § 828 Abs. 2 BGB;
Erfordernis einer "typischen Überforderungssituation", teleologische
Reduktion
BGH, Urteil vom 16. Oktober
2007 - VI ZR 42/07
Fundstelle:
NJW 2008, 147
Amtl. Leitsatz:
Lässt ein achtjähriges
Kind auf dem Bürgersteig sein Fahrrad los, damit es von alleine weiterrollt,
und rollt das führungslose Fahrrad auf die Fahrbahn gegen das zu diesem
Zeitpunkt vorbeifahrende Kraftfahrzeug, so handelt es sich um einen Unfall
mit einem Kraftfahrzeug im Sinne des § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB n.F., der zu
einer Haftungsprivilegierung des Kindes führt.
Zentrale Probleme:
S. die Anm. zu
BGH NJW 2005, 354
= BGHZ 161, 180 und BGH
NJW 2007, 2113. Die Entscheidung führt die
bisherige Rechtsprechung fort.
©sl 2007
Tatbestand:
1 Am 9. September 2005 gegen 18.00 Uhr befuhr der Fahrer Ü. mit dem Fahrzeug
des Klägers eine Straße, die in einer 30 km/h-Zone liegt. Dort kam ihm eine
Gruppe Kinder entgegen, unter denen sich auch der damals 8-jährige Beklagte
mit seinem Fahrrad befand. Zwischen den Parteien ist streitig, ob die Gruppe
auf dem Bürgersteig oder auf der Straße lief. Jedenfalls kam es zu einem
Zusammenstoß zwischen dem führungslos rollenden Fahrrad und dem Fahrzeug des
Klägers, das in diesem Augenblick vorbeifuhr. Durch den Zusammenstoß
entstand an dem Fahrzeug des Klägers ein Schaden in Höhe von 1.121,88 €.
Darüber hinaus entstanden dem Kläger Kosten für die Einholung eines
Sachverständigengutachtens in Höhe von 341,39 € sowie weitere Unkosten von
(pauschal) 20,00 €.
2 Der Kläger hat behauptet, die ihm entgegenkommenden Kinder seien auf dem
Bürgersteig gelaufen. Der Beklagte sei vorweg gelaufen und habe dabei sein
Fahrrad vor sich her geschoben und es dann in der Absicht losgelassen, es
alleine vorweg rollen zu lassen. Das Fahrrad sei daraufhin ein Stück
geradeaus gerollt, dann mit dem Lenker nach links eingeknickt und auf die
Fahrbahn geraten, wo es mit dem vorbeifahrenden Fahrzeug des Klägers
kollidiert sei.
3 Das Amtsgericht hat die Klage auf Zahlung von insgesamt 1.483,27 € nebst
Zinsen abgewiesen. Das Landgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung des
Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision
verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
4 Das Berufungsgericht hat sich der Würdigung des Amtsgerichts
angeschlossen, dass Schadensersatzansprüche des Klägers gemäß § 823 Abs. 1
BGB wegen Verletzung des Eigentums an seinem Kraftfahrzeug an dem zu Gunsten
des Beklagten eingreifenden Haftungsprivileg des § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB
n.F. scheiterten, selbst wenn man von der Unfallschilderung des Klägers
ausgehe. Gerade der vom Kläger angeführte Umstand, dass der Beklagte sich
überhaupt nicht mit dem Straßenverkehr auseinandergesetzt und sich keine
Gedanken darüber gemacht habe, dass das Fahrrad mit dem Fahrzeug des Klägers
kollidieren könne, belege das Vorliegen der vom Gesetzgeber mit der
Neuregelung in den Blick genommenen typischen altersbedingten
Überforderungssituation. Denn im Gegensatz zu dem 8-jährigen Beklagten hätte
ein verantwortlicher Erwachsener bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen
Sorgfalt die Möglichkeit, dass das Fahrrad auf die Straße rollen und dort
einen Unfall verursachen könne, erkannt und sich dementsprechend verhalten.
Soweit der Kläger anführe, es könne keinen Unterschied machen, ob das
Fahrrad zufällig nach links (auf die Straße) oder nach rechts (gegen ein
parkendes Fahrzeug) rolle, unterstelle er einen hypothetischen
Alternativsachverhalt, der sich im konkreten Fall gerade nicht realisiert
habe und die Entscheidung deshalb nicht beeinflussen könne. Anderenfalls
müsse man das gleiche Argument reziprok auch gegen eine Haftung des Kindes
bei Beschädigung eines parkenden Fahrzeugs gelten lassen, was zu
offensichtlich widersinnigen Ergebnissen führen würde. Die Gefahr eines
Schadenseintritts resultiere vorliegend - zumindest auch - aus der Bewegung
des Fahrzeuges des Klägers, welches sich nur aufgrund seiner Bewegung "zur
falschen Zeit am falschen Ort" befunden habe und bei deren Hinwegdenken sich
die Haftungsfrage mangels Schadenseintritts gar nicht stellen würde.
II.
5 Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält im Ergebnis
revisionsrechtlicher Nachprüfung stand. Entgegen der Auffassung der Revision
ist die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit des Beklagten nach der
Unfallschilderung des Klägers, die revisionsrechtlich als richtig zu
unterstellen ist, nach § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB n.F. ausgeschlossen.
6 1. Da das schädigende Ereignis nach dem 31. Juli 2002 eingetreten ist,
richtet sich die Verantwortlichkeit des minderjährigen Schädigers gemäß Art.
229 § 8 Abs. 1 EGBGB nach § 828 BGB in der Fassung des 2. Gesetzes zur
Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19. Juli 2002 (BGBl. I S.
2674). Danach ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem
Kraftfahrzeug einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wer das siebte,
aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat.
7 2. Die Revision geht zwar ebenfalls davon aus, dass § 828 Abs. 2 Satz 1
BGB nach seinem Wortlaut im vorliegenden Fall ohne weiteres eingreift. Sie
meint jedoch, die Vorschrift finde nach ihrem Sinn und Zweck gleichwohl
keine Anwendung. Dieser Auffassung kann aus Rechtsgründen nicht gefolgt
werden.
8 Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ist eine teleologische
Reduktion des Wortlauts dieser Vorschrift nur in Fällen vorzunehmen, in
denen sich keine typische Überforderungssituation des Kindes durch die
spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert hat.
Hiernach hat der Senat das Haftungsprivileg verneint in Fällen, in denen
Kinder der privilegierten Altersgruppe mit einem Kickbord oder Fahrrad gegen
ein ordnungsgemäß geparktes Kraftfahrzeug gestoßen sind und dieses
beschädigt haben (vgl. Senatsurteile BGHZ 161, 180
und vom 21. Dezember 2004 - VI ZR 276/03 -VersR 2005, 378 m.w.N.).
9 Der Gesetzgeber hat nämlich mit der Einführung der Ausnahmevorschrift des
§ 828 Abs. 2 BGB dem Umstand Rechnung getragen, dass Kinder bis zur
Vollendung ihres 10. Lebensjahres regelmäßig überfordert sind, die
besonderen Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs zu erkennen,
insbesondere die Entfernungen und Geschwindigkeiten von anderen
Verkehrsteilnehmern richtig einzuschätzen und sich den Gefahren entsprechend
zu verhalten. Dabei hat er sich von der Erkenntnis leiten lassen, dass
Kinder in diesem Alter wegen ihres Lauf- und Erprobungsdrangs, ihrer
Impulsivität, Affektreaktionen, mangelnden Konzentrationsfähigkeit und ihres
gruppendynamischen Verhaltens oft zu einem verkehrsgerechten Verhalten nicht
in der Lage sind (vgl. BT-Drs. 14/7752, S. 16 f. und 26 f.). Allerdings
wollte er die Deliktsfähigkeit nicht generell und nicht bei sämtlichen
Verkehrsunfällen erst mit Vollendung des 10. Lebensjahres beginnen lassen.
Er wollte die Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit vielmehr auf im
motorisierten Straßen- oder Bahnverkehr plötzlich eintretende
Schadensereignisse begrenzen, bei denen die altersbedingten Defizite eines
Kindes, wie z.B. Entfernungen und Geschwindigkeiten nicht richtig
einschätzen zu können, zum Tragen kommen, weil sich das Kind durch die
Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe in
einer besonderen Überforderungssituation befindet (vgl. BT-Drs. 14/7752, S.
26 f.).
10 3. Entgegen der Auffassung der Revision kann eine solche typische
Überforderungssituation, die nach dem Willen des Gesetzgebers zu einem
Haftungsausschluss führt, auch unter Zugrundelegung des vom Kläger
vorgetragenen Unfallgeschehens nicht verneint werden. Denn es hat sich auch
in diesem Fall eine Gefahr verwirklicht, die daraus herrührt, dass Kinder in
dem entsprechenden Alter wegen ihres Lauf- und Erprobungsdrangs und ihres
gruppendynamischen Verhaltens oft zu einem verkehrsgerechten Verhalten nicht
in der Lage sind. Nach dem Vorbringen des Klägers lief der Beklagte
entgegen der Fahrtrichtung des herannahenden Kraftfahrzeugs auf dem
Bürgersteig einer Gruppe von Kindern vorweg, die ihn anfeuerte, und schob
dabei sein Fahrrad so schnell er konnte vor sich her um es dann loszulassen,
damit es von alleine weiterrolle. In einer solchen Situation lässt sich die
Möglichkeit nicht ausschließen, dass der Beklagte, als er das Fahrrad los
ließ, die Geschwindigkeit und die Entfernung des herannahenden Fahrzeuges
falsch einschätzte und deshalb nicht damit rechnete, dass das führungslose
Fahrrad gerade zu dem Zeitpunkt auf die Fahrbahn geraten könnte, in dem das
Fahrzeug des Klägers vorbeifuhr.
11 Entgegen der Auffassung der Revision kommt es nicht darauf an, ob sich
die Überforderungssituation konkret ausgewirkt hat oder der Beklagte
lediglich nicht damit gerechnet hat, dass das führungslose Fahrrad auch auf
die Straße rollen kann. Um eine klare Grenzlinie für die Haftung von Kindern
zu ziehen, hat der Gesetzgeber diese Fallgestaltungen einheitlich in der
Weise geregelt, dass er die Altersgrenze der Deliktsfähigkeit von Kindern
für den Bereich des motorisierten Verkehrs generell heraufgesetzt hat (vgl.
Senatsurteile vom 14. Juni 2005 - VI ZR 181/04 - VersR 2005, 1154, 1155 und
vom 17. April 2007 - VI ZR 109/06 - VersR 2007,
855, 856).
III.
12 Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ZPO. |