Haftung für
Schockschäden naher Angehöriger, Einfluß des Mitverschuldens des
Primärgeschädigten, keine Erstreckung des Haftungsausschlusses nach § 105 I
SGB VII
BGH, Versäumnisurteil vom
6. Februar 2007 - VI ZR 55/06
Fundstelle:
NJW-RR 2007, 1395
Amtl. Leitsatz:
Der Haftungsausschluss
gemäß § 105 Abs. 1 SGB VII erfasst nicht Schmerzensgeldansprüche von
Angehörigen oder Hinterbliebenen eines Versicherten aufgrund so genannter
Schockschäden infolge eines Arbeitsunfalles des Versicherten.
Zentrale Probleme:
Im Rahmen der arbeits- bzw.
sozialrechtlichen Problematik des Haftungsausschlusses bei Arbeitsunfällen
nach § 105 I SGB VII legt die Entscheidung noch einmal kurz die Grundlagen
der Haftung für sog. Schockschäden naher Angehöriger bei der Nachricht vom
(meist tödlichen) Unfall eines nahen Angehörigen dar. Es geht dabei um ein
Kausalitäts- sowie um ein Schutzzweckproblem, s. dazu insbes. BGHZ
56, 163 ff sowie BGHZ 93, 351: Die
seelische Erschütterung (»Schockschaden«) durch die Nachricht vom tödlichen
Unfall eines Angehörigen begründet danach einen Schadensersatzanspruch gegen
den Verursacher des Unfalls nicht schon dann, wenn sie zwar medizinisch
erfaßbare Auswirkungen hat, diese aber nicht über die gesundheitlichen
Beeinträchtigungen hinausgehen, denen nahe Angehörige bei Todesnachrichten
erfahrungsgemäß ausgesetzt sind. Der Schutzzweck des § 823 Abs. 1 BGB deckt
nur Gesundheitsbeschädigungen, die nach Art und Schwere diesen Rahmen
überschreiten. Bei einem Mitverschulden des unmittelbar Verletzten ist zwar
§ 846 BGB nicht (entsprechend) anwendbar, weil es ja um eine unmittelbare
Schädigung der Gesundheit des "geschockten" Angehörigen geht, dieser also
selbst in einem nach § 823 I BGB geschützten Rechtsgut verletzt wird (das
ist auch zentrales Argument für die Nichtanwendung von § 105 I SGB VII). Es
kommt aber nach §§ 254, 242 BGB eine Anrechnung des fremden Mitverschuldens
in Betracht, weil die psychisch vermittelte Schädigung nur auf einer
besonderen persönlichen Bindung an den unmittelbar Verletzten beruht.
S. auch BGH v. 20.3.2012
- VI ZR 114/11.
©sl 2007
Tatbestand:
1 Der damals 25-jährige Sohn der Klägerin verstarb am 7. Januar 2003 bei
einem Arbeitsunfall, den der Beklagte, der in demselben Betrieb beschäftigt
war, (mit-)verursacht hatte. Die Klägerin leidet seit dem Tod ihres Sohnes
unter einer schweren depressiven Störung. Sie begehrt von dem Beklagten
unter Berücksichtigung eines möglicherweise gegebenen Mitverschuldens ihres
Sohnes von einem Drittel ein angemessenes Schmerzensgeld (Vorstellung:
20.000 €).
2 Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin blieb
ohne Erfolg. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt sie
ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
3 Über die Revision war, da der Beklagte im Revisionstermin trotz rechtzeitiger Ladung nicht vertreten war, auf Antrag der Klägerin durch
Versäumnisurteil zu entscheiden. Das Urteil ist jedoch keine Folge der
Säumnis, sondern beruht auf einer Sachprüfung (vgl. BGHZ 37, 79, 81).
I.
4 Das Berufungsgericht meint, ein möglicher Schmerzensgeldanspruch der
Klägerin sei ausgeschlossen, weil ihr Sohn einen Arbeitsunfall erlitten
habe. Der Haftungsausschluss gemäß § 105 Abs. 1 SGB VII gelte auch gegenüber
Angehörigen und Hinterbliebenen von Versicherten desselben Betriebes. Er
erfasse nicht nur die Ansprüche aus §§ 844, 845 BGB, sondern auch
Ersatzansprüche aufgrund einer eigenen Gesundheitsverletzung Dritter, sofern
diese - wie im Streitfall - eine mittelbare Folge des Unfalls sei. Da ein
Versicherter unter den Voraussetzungen der §§ 104, 105 SGB VII selbst keinen
(vollen) Ausgleich seines immateriellen Schadens erhalte, ergebe sich ein
Wertungswiderspruch, wenn dieser Haftungsausschluss nicht auch für
Schmerzensgeldansprüche schockgeschädigter Angehöriger gelte.
II.
5 Das angefochtene Urteil hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht
stand.
6 1. Das Berufungsgericht geht davon aus, dass die Klägerin infolge des
Unfalltodes ihres Sohnes einen so genannten Schockschaden erlitten hat,
nämlich eine depressive Störung mit Krankheitswert, die nach Art und Schwere
deutlich über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen nahe
Angehörige bei Todesnachrichten erfahrungsgemäß ausgesetzt sind (vgl.
Senatsurteile BGHZ 56, 163, 164 ff. und
93, 351, 355 ff.). Auf der Grundlage dieser
Feststellungen zieht es zu Recht einen Anspruch der Klägerin gegen den
Beklagten auf Ersatz ihres immateriellen Schadens gemäß §§ 823 Abs. 1, 253
BGB in Betracht.
7 2. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist dieser Anspruch
vorliegend nicht gemäß § 105 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen.
8 a) Nach dem Wortlaut des § 105 Abs. 1 SGB VII umfasst der
Haftungsausschluss alle Ansprüche des Versicherten sowie seiner Angehörigen
und Hinterbliebenen aus Personenschäden. Das sind all diejenigen Schäden,
die durch die Verletzung oder Tötung des Versicherten verursacht worden sind
(vgl. BAG, NJW 1989, 2838 [zu § 636 Abs. 1 RVO]). Dazu zählen grundsätzlich
sowohl Ansprüche auf Ersatz materieller Schäden (z.B. aus den §§ 844 und 845
BGB, vgl. HWK/Giesen, 2. Aufl., § 104, Rn. 6 m.w.N.) als auch solche auf
Ersatz immaterieller Schäden (vgl. BVerfGE 34, 118, 128 ff.; BVerfG, NJW
1995, 1607; ausführlich AR-Blattei SD (Rolfs), Stand Dezember 2001, 860.2,
Rn. 175 ff.; kritisch Richardi, NZA 2002, 1004, 1009). Ob der
Haftungsausschluss auch Schmerzensgeldansprüche von Angehörigen oder
Hinterbliebenen eines Versicherten aufgrund so genannter Schockschäden
erfasst, hat der Senat bislang offen gelassen (vgl. Urteil vom 13. Januar
1976 - VI ZR 58/74 -VersR 1976, 539, 540 [zu § 636 RVO]). Diese nunmehr zu
entscheidende Frage ist zu verneinen.
9 b) §§ 104 und 105 SGB VII setzen voraus, dass ein Versicherungsfall im
Sinne von § 7 SGB VII eingetreten ist, also ein Arbeitsunfall oder eine
Berufskrankheit. Ein Arbeitsunfall ist ein Unfall eines Versicherten infolge
einer versicherten Tätigkeit (§ 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Die Klägerin
selbst zählt nicht zu dem Kreis der Versicherten (§ 2 SGB VII). Sie selbst
hat auch keinen Arbeitsunfall erlitten, sondern allein ihr Sohn. Wären beide
bei einem Arbeitsunfall des Sohnes gleichzeitig und unmittelbar körperlich
verletzt worden, wäre ein eigener Anspruch der Klägerin nicht gemäß § 105
Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen. Wie das Berufungsgericht zu Recht ausführt,
hat die in §§ 104, 105 SGB VII geregelte Haftungsbegrenzung eigene
Gesundheitsschäden von Angehörigen ersichtlich nicht im Blick.
10 Für Gesundheitsbeeinträchtigungen, die Angehörige nicht unmittelbar
bei einem Arbeitsunfall eines Versicherten erleiden, sondern die - wie
Schockschäden - mittelbar durch den Versicherungsfall hervorgerufen werden,
kann nichts anderes gelten. Der Anspruch des Angehörigen beruht auch in
einem solchen Fall auf der Verletzung eines eigenen Rechtsguts
(AR-Blattei SD [Rolfs], aaO, 860.2, Rn. 173 f.; ErfKomm/Rolfs, 7. Aufl., §
104, Rn. 29; Blomeyer in: Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht, 2. Aufl., §
61, Rn. 4; Wussow, WI 2006, 181, 182; HWK/Giesen, aaO, § 104 Rn. 6; zu §§
636, 637 RVO schon: Gamill-scheg/Hanau, Die Haftung des Arbeitnehmers, 2.
Aufl., S. 187).
11 c) Ein Haftungsausschluss ist auch nicht nach dem Sinn und Zweck der
Vorschrift des § 105 Abs. 1 SGB VII geboten.
12 aa) Die in dieser Vorschrift bestimmte Haftungsbegrenzung dient dem
Schutz des Betriebsfriedens (vgl. MünchKommBGB/Oetker, 4. Aufl., § 253, Rn.
34). Erleidet ein Versicherter einen Arbeitsunfall, kommt diesem
Gesichtspunkt nur dann Bedeutung zu, wenn der Versicherte trotz seiner
Verletzung weiterhin dem Betrieb angehört. Das wird bei schweren
Verletzungen, die bei nahen Angehörigen einen Schockschaden auslösen, nur
selten der Fall sein. Beruht der Schockschaden - wie im Streitfall - auf
einem tödlichen Arbeitsunfall eines Versicherten, ist dem Friedensargument
der Boden entzogen.
13 bb) Für ein weites Verständnis des § 105 Abs. 1 SGB VII (dafür BeckOK
BGB/Spindler, § 844, Rn. 2; vgl. auch Wussow/Schneider,
Unfallhaftpflichtrecht, 15. Aufl., Kap. 80, Rn. 27), das für einen
Ausschluss auch von Ansprüchen wie dem vorliegenden sprechen könnte, ließe
sich anführen, dass Arbeitnehmer eines Betriebs in einer Funktions- und
Gefahrengemeinschaft stehen, in der jeder Beteiligte dem anderen schon durch
leichte Unaufmerksamkeit einen erheblichen Schaden zufügen und sich dadurch
dem Risiko hoher Ersatzforderungen aussetzen kann. Um dem zu begegnen, ist
ein weitgehender An-spruchsausschluss auch im Falle einer eigenen Schädigung
grundsätzlich gerechtfertigt (Schmitt, SGB VII, 2. Aufl., § 105, Rn. 2; Lepa,
VersR 1985, 8, 9). Ein genereller Haftungsausschluss ist dazu aber weder
erforderlich noch im Gesetz angelegt.
14 cc) Gegen eine Erstreckung des Haftungsausschlusses auf
Schmerzensgeldansprüche naher Angehöriger wegen eines Schockschadens spricht
vor allem, dass die gesetzliche Unfallversicherung insoweit keine Leistungen
vorsieht (Otto/Schwarze, Die Haftung des Arbeitnehmers, 3. Aufl., Rn. 561;
Gamillscheg/Hanau, aaO, S. 187; Rolfs, Die Haftung unter Arbeitskollegen und
verwandte Tatbestände, 1995, S. 207; Wussow, WI 2006, 181 f.). Richtig
ist, dass nicht allen durch § 105 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossenen Ansprüchen
Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung gegenüber stehen. Dies
gilt etwa für den Anspruch aus § 845 BGB (dazu KassKomm/Ricke, § 104 SGB
VII, Rn. 5; vgl. auch Schmitt, aaO, § 104, Rn. 12). Auch erhält der
verletzte Versicherte selbst keine dem Schmerzensgeld kongruente Leistung
(BVerfGE 34, 118, 128 ff.; BVerfG, aaO; ErfKomm/Rolfs, aaO, § 104, Rn.
3; BGB-RGRK/Schick, 12. Aufl., § 618, Rn. 191; Wussow/Schneider, aaO, Kap.
80, Rn. 28). Insoweit deckt sich das Leistungssystem der gesetzlichen
Unfallversicherung nicht mit den zivilrechtlichen Haftungstatbeständen. Der
Umstand, dass die Unfallversicherung nicht für jede Schadensart einen
Ausgleich vorsieht, rechtfertigt indessen nicht die Erstreckung des
Haftungsausschlusses auf Schockschäden naher Angehöriger.
15 Der Ausschluss von Ersatzansprüchen durch §§ 104, 105 SGB VII ist
gerechtfertigt, weil er durch das Leistungssystem der gesetzlichen
Unfallversicherung kompensiert wird ("Haftungsersetzung durch
Versicherungsschutz", dazu Staudinger/Oetker, BGB, 13. Bearb. [2002], §
618, Rn. 324 m.w.N.). Dafür ist wegen der Verschiedenheit der beiden
Ordnungssysteme (Lepa, aaO, S. 8) nicht erforderlich, dass der verunglückte
Versicherte im konkreten Einzelfall tatsächlich Leistungen erhält
(AR-Blattei SD [Rolfs], aaO, 860.2, Rn. 171). So entstehen die
sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche mit dem Versicherungsfall. Im
Unterschied zum zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch wird dafür kein
Schadensnachweis verlangt. Ihre Berechnung erfolgt vielmehr abstrakt. Die
Unterschiede in den Anspruchsinhalten können für den Verletzten von Vorteil,
aber auch von Nachteil sein (Lepa, aaO, S. 9). Eine Kompensation setzt aber
voraus, dass für die bei einem Arbeitsunfall eingetretene
Rechtsgutverletzung sozialversicherungsrechtliche Leistungen jedenfalls
grundsätzlich in Betracht kommen. Dies ist nicht der Fall, wenn das System
der Unfallversicherung nicht etwa nur eine bestimmte Schadensart
ausklammert, sondern für eine Rechtsgutsverletzung überhaupt keine
Leistungen vorsieht, wie dies bei der Verletzung des Körpers oder der
Gesundheit nicht versicherter Dritter der Fall ist.
16 Soweit in Fällen der Tötung eines Versicherten Angehörigen und
Hinterbliebenen unfallversicherungsrechtliche Ansprüche gemäß §§ 39 Abs. 2,
54, 55 bzw. §§ 63 ff., 69 SGB VII zustehen können (vgl. Schmitt, aaO, § 104,
Rn. 10; Brackmann/Krasney, SGB VII, Stand April 2003, § 104, Rn. 14),
beruhen diese allein auf einer Verletzung des Versicherten. Sie treten
an die Stelle der Ansprüche aus §§ 844, 845 BGB, nämlich der Ansprüche, die
auf Ersatz ihres mittelbaren Vermögensschadens gerichtet sind. Im
Unterschied dazu sieht die gesetzliche Unfallversicherung zum Ausgleich
solcher Schäden, die Angehörige und Hinterbliebene - wie im Falle des
Schockschadens - durch die Verletzung eines eigenen Rechtsguts erleiden,
überhaupt keine Leistungen vor. Fehlt insoweit aber eine Kompensation, gibt
es keine Rechtfertigung für einen Ausschluss solcher Ansprüche.
17 dd) Zu Unrecht beruft sich das Berufungsgericht für seine Auffassung auf
die Entscheidung des erkennenden Senats (Senatsurteil
BGHZ 56, 163, 168 ff.; dazu Staudinger/Hager, BGB 13. Bearb. [1999], §
823, Rn. B 38; Rüßmann in: jurisPK-BGB, 3. Aufl., § 846, Rn. 8), nach der
ein Mitverschulden des unmittelbar Verletzten dem Angehörigen, der einen
Schockschaden erlitten hat, anzurechnen sein kann. Wie die Revision mit
Recht geltend macht, beruht diese Zurechnung allein auf
Billigkeitserwägungen. Diese rechtfertigen indessen keine ausdehnende
Anwendung des Haftungsausschlusses von § 105 Abs. 1 SGB VII auf Ansprüche,
die Angehörigen von Versicherten aufgrund eigener
Gesundheitsbeeinträchtigungen zustehen (ErfKomm/Rolfs, aaO, § 104, Rn.
29; Gamillscheg/Hanau, aaO, S. 186 f.; HWK/Giesen, aaO; Rolfs, aaO, S. 206
f.; a.A.: OLG Celle, VersR 1988, 67, 68; ArbG Osnabrück, ARST 1969, 106 f.;
Küppersbusch, Ersatzansprüche bei Personenschäden, 9. Aufl., Rn. 306;
Jahn-ke, r+s 2003, 89, 92; vgl. auch OLG Zweibrücken, SP 2002, 127). Der
Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) gebietet in Fällen der
vorliegenden Art nicht die vollständige Haftungsfreistellung des Schädigers.
Soweit den Versicherten ein Mitverschulden an dem Arbeitsunfall trifft, wird
Billigkeitserwägungen in hinreichendem Maße dadurch Rechnung getragen, dass
der Ersatzanspruch des geschädigten Angehörigen gemäß § 254 Abs. 1 BGB der
Höhe nach gemindert ist. Dies hat die Klägerin vorliegend im Rahmen
ihrer Antragstellung berücksichtigt. |