Psychisch vermittelte
Kausalität und Zurechnungszusammenhang: Ersatzpflicht für Schockschäden
BGH, Urteil v. 05.02.1985 - VI ZR 198/83
(Stuttgart)
Fundstellen:
BGHZ 93, 351
LM § 823 (Aa) BGB Nr. 75
NJW 1985, 1390
MDR 1985, 5683
JZ 1985, 538
FamRZ 1985, 464
VersR1985, 499
Vgl. auch
BGHZ 56, 163
ff sowie
BGH vom 6.2.2007 - VI ZR 55/06 und
insbesondere
BGH v. 22.5.2007 - VI ZR 17/06.
S. auch
BGH v. 20.3.2012 -
VI ZR 114/11 und
BGH v.
27.1.2015 - VI ZR 548/12 sowie
BGH v. 6.12.2022 -
VI ZR 168/21, wo das Kriterium aufgegeben wurde,
dass die gesundheitlichen Beeinträchtigungen über dasjenige hinausgehen muss,
dem Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in
der Regel ausgesetzt sind.
Amtl. Leitsätze:
1. Der Schädiger haftet grundsätzlich
auch dann dem später mit einem Gesundheitsschaden zur Welt gekommenen
Kind aus unerlaubter Handlung auf Schadensersatz, wenn die Verletzung der
Leibesfrucht durch einen Angriff auf die Psyche der Schwangeren vermittelt
wird (im Anschluß an BGHZ 58, 48 ff. = NJW 1972, 1126).
2. Ein Haftungszusammenhang zwischen einem
Verkehrsunfall mit tödlichen oder lebensbedrohenden Verletzungen des
Unfallopfers, dem Schock der Schwangeren bei der Nachricht hiervon und
der durch ihre psychische Beeinträchtigung vermittelten Schädigung
der Leibesfrucht besteht jedenfalls dann, wenn das Unfallopfer ein naher
Angehöriger und wenn die Schädigung der Leibesfrucht schwer und
nachhaltig ist.
Zum Sachverhalt:
Der Vater der Kl. stieß am 8. 1. 1975 als
Fahrer seines Pkw mit einem auf einer Dienstfahrt befindlichen Sattelzugschlepper
der US-Streitkräfte zusammen, der nicht die rechte Fahrbahnseite einhielt.
Er wurde dabei schwer verletzt und war anschließend 3 Wochen lang
bewußtlos. Nach dem rechtskräftigen Grund- und Teilurteil des
LG hat die Bekl. den Schaden des Vaters der Kl. bis auf einen Mithaftungsanteil
von 1/5 zu ersetzen. Die Mutter der Kl., damals im 5. Monat schwanger,
erlitt bei der Nachricht vom Unfall ihres Ehemannes einen Schock, der zu
erheblichen Kreislaufbeschwerden und 2 Tage lang andauernden Wehen mit
der Gefahr einer Fehlgeburt führte. Die Kl. kam am 28. 5. 1975 zur
Welt. Sie ist von Geburt an wegen eines Hirnschadens körperlich und
geistig auf das Schwerste behindert. Mit der Behauptung, die Ursache für
diese Hirnschäden seien durch den Schock mit den anschließenden
gesundheitlichen Beeinträchtigungen ihrer Mutter ausgelöst worden,
verlangt die Kl. die Feststellung der Verpflichtung der Bekl., ihr allen
materiellen und immateriellen Schaden aus dem Verkehrsunfall ihres Vaters
zu ersetzen. Die Bekl. hat vor allem den ursächlichen Zusammenhang
zwischen dem Schock der Mutter und dem Schaden der Kl. bestritten. Sie
hält ihre Haftung im übrigen aus Rechtsgründen nicht für
gegeben.
Das LG hat der Klage voll stattgegeben. Das OLG
hat unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung der Bekl. eine
Mithaftung der Kl. zu 1/5 angenommen. Die Revision der Bekl. hatte keinen
Erfolg.
Aus den Gründen:
I. Das BerGer., das eine Haftung der Bekl. gem.
Art. VIII Abs. 5 NTS i. V. mit Art. 34 GG und §§ 839, 847 BGB
zu 4/5 für gegeben hält, stützt seine Ansicht im Wesentlichen
auf folgende Feststellungen und Erwägungen:
Es sei bewiesen, daß die Nachricht von dem
Unfall ihres Ehemannes bei der Mutter der Kl. die behaupteten schweren
Kreislaufstörungen ausgelöst hätten, die wiederum zu einer
Minderdurchblutung ihrer Placenta und damit zu einer Schädigung des
kindlichen Gehirns der Kl. infolge Sauerstoffmangels geführt habe.
Das ergebe sich insbesondere aus den Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen
Prof. Dr. M, die auch durch die von der Bekl. vorgelegten Privatgutachten
nicht erschüttert würden. Die unfallbedingte Störung der
Durchblutung der Placenta, durch die die Kl. als Leibesfrucht in Mitleidenschaft
gezogen worden sei, stelle den haftungsbegründenden Tatbestand dar.
Die weitere Frage, ob diese Beeinträchtigung der Leibesfrucht zu der
Hirnschädigung der Kl. geführt habe, betreffe den Bereich der
sogenannten haftungsausfüllenden Kausalität und sei deshalb in
Anwendung des § 287 ZPO zu beantworten. Schwere Schockschäden,
wie sie bei der Mutter der Kl. eingetreten seien, infolge der Benachrichtigung
von einem Unfall eines nahen Angehörigen mit tödlichem Ausgang
oder auch mit schweren Verletzungen seien zu ersetzen. Auch für die
gleichzeitige Verletzung der Leibesfrucht habe die Bekl. dem krank zur
Welt gekommenen Kind zu haften. Allerdings müsse sich die Kl. dem
Verursachungsanteil ihres Vaters an dem Unfall von 1/5 entgegenhalten lassen.
II. Das angefochtene Urteil ist im Ergebnis frei
von Rechtsirrtum. Die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen und
ihre rechtlichen Bedenken, die sich nicht gegen die vom BerGer. herangezogenen
Anspruchsgrundlagen und die von ihm für richtig gehaltene Haftungsquote
richten, sind unbegründet.
Zutreffend geht das BerGer. davon aus, daß
die Bekl. gem. Art. VIII Abs. 5 NTS i. V. mit Art. 34 GG, §§
839, 847 BGB dem Grunde nach zu 4/5 für Gesundheitsschäden der
Kl. einzutreten hat, wenn und soweit sie von dem Fahrer des US-Sattelzugschleppers
bei dem Verkehrsunfall vom 8. 1. 1975 schuldhaft verursacht worden sind.
Die Annahme des BerGer., zwischen diesem Verkehrsunfall, bei dem der Vater
der Kl. schwer verletzt wurde, und der Hirnschädigung der Kl. bestehe
nicht nur ein Kausalzusammenhang, sondern auch ein haftungsrechtlich relevanter
Zurechnungszusammenhang, entspricht auch nach Ansicht des erkennenden Senats
der Sach- und Rechtslage.
1. Unbegründet sind zunächst die Angriffe
der Revision gegen die vom BerGer. festgestellten Tatsachen zum Schadensverlauf.
a) Ohne Verfahrensfehler hat das BerGer. festgestellt,
daß die Nachricht von dem schweren Unfall ihres Ehemannes bei der
damals im 5. Monat schwangeren Mutter der Kl. zu erheblichen Kreislaufstörungen,
vor allem einem starken Blutdruckabfall über längere Zeit hin,
geführt hat, daß es dadurch bei ihr zu einer Minderdurchblutung
der Placenta gekommen ist und daß die Kl. als Leibesfrucht dabei
körperlich in Mitleidenschaft gezogen wurde. Mit Recht betont die
Revision, daß dieser - haftungsbegründende - Ursachenzusammenhang
von der Kl. nach § 286 ZPO zu beweisen war, ihr somit also die Beweiserleichterung
des § 287 ZPO zugute kommt (s. dazu das Senatsurteil BGHZ 58, 48 (53
ff.) = NJW 1972, 1126). Das BerGer. hat sich daran aber, was die Revision
verkennt, auch gehalten; es sagt in diesem Zusammenhang ausdrücklich,
das stehe "zur Überzeugung des Senates fest (§ 286 ZPO)". Erst
die weitere Frage, ob die festgestellte Beeinträchtigung der Leibesfrucht
zu der Hirnschädigung der Kl. geführt hat, hat das BerGer. in
Anwendung des § 287 ZPO beantwortet. Auch das entspricht der im oben
genannten Urteil näher begründeten Rechtsauffassung des erkennenden
Senats. Das BerGer. durfte diese Überzeugung vom Vorliegen eines haftungsbegründenden
Ursachenzusammenhangs den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen
Prof. Dr. M entnehmen, ohne gegen Rechtsgrundsätze zur Beweiswürdigung
zu verstoßen. Es hat sich mit diesem Gutachten in seinen wesentlichen
Teilen ausdrücklich auseinandergesetzt und auch die Einwände
der Bekl., die sich auf die Überlegungen ihrer Privatgutachter stützen,
kritisch gewürdigt. Entgegen der Ansicht der Revision war es nicht
erforderlich, daß der Sachverständige eine die Leibesfrucht
in Mitleidenschaft ziehende Minderdurchblutung in der mütterlichen
Placenta mit "an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" feststellte.
Anderes ergibt sich auch nicht aus dem wiederholt angesprochenen Senatsurteil
BGHZ 58, 48 ff. = NJW 1972, 1126. Vielmehr durfte das BerGer., wie es das
getan hat, aus dem gesamten, ihm von den Parteien, den Zeugen und dem Gutachter
unterbreiteten Sachverhalt auf den von ihm festgestellten Verlauf schließen,
wenn ihm das alles insgesamt für seine Überzeugungsbildung ausreichte.
Eine solche tatrichterliche Beweiswürdigung muß die Revision
hinnehmen.
b) ....
2. Das BerGer. folgt der Rechtsprechung des
erkennenden Senats, wenn es den Gesundheitsschaden der Mutter der Kl. infolge
der Nachricht von dem schweren Verkehrsunfall ihres Ehemannes ebenso wie
den Verkehrsunfall selbst der Bekl. auch haftungsrechtlich zurechnet (vgl.
Senatsurteil BGHZ 56, 163 ff. = NJW 1971,
1883; st. Rspr.). Der erkennende Senat bejaht einen Haftungszusammenschluß
zwischen dem Verkehrsunfall und der pränatalen Schädigung der
Kl. auch angesichts dessen, daß der Hirnschaden der Kl. nicht durch
eine traumatische Verletzung der Mutter oder wenigstens bei einer direkten
Konfrontation mit einer sie betreffenden Verletzungshandlung des Schädigers,
sondern durch eine psychische Reaktion auf die Nachricht vom Unfall vermittelt
worden ist. Im Streitfall kann es dahinstehen, ob die Gesichtspunkte für
eine Einschränkung des Haftungszusammenhangs mit psychischen Belastungen,
denen die Angehörigen des Unfallopfers beim Erleben und Verarbeiten
des Unglücksfalles ausgesetzt sind, auch hier ihre Berechtigung haben,
wo der Leibesfrucht eine physische Schädigung - vermittelt durch die
psychische Reaktion eines "Dritten" auf den Unfall - zugefügt wird.
Denn auch das Anlegen der strengeren Maßstäbe, die der erkennende
Senat bei der Zurechnung der sogenannten Schockschäden anwendet, die
Angehörige infolge der Unfallnachricht erleiden, muß hier zur
Annahme einer Haftung der Bekl. für den Schaden der Kl. führen.
a) Entgegen der Ansicht der Revision gebietet
der Haftungszweck keine Einschränkung der Schadensersatzpflicht auf
Fälle, in denen Angehörigen die Nachricht vom Tode des Unfallopfers
überbracht wird (vgl. schon Dunz, LM § 823 (Aa) BGB Nr. 27).
Es kann dahinstehen, ob es aus ähnlichen Erwägungen, die den
Senat zu Einschränkungen der Ersatzpflicht für Schockschäden
unterhalb eines bestimmten Schweregrades veranlaßt haben, geboten
sein kann, den Anspruch zu versagen, wenn der Geschädigte auf Ereignisse
besonders empfindlich und schockartig reagiert, die das objektiv nicht
rechtfertigen und die im Allgemeinen ohne nachhaltige und tiefe seelische
Erschütterungen toleriert zu werden pflegen. Ein Unfall jedenfalls
mit ersichtlich sehr schweren Verletzungen des Opfers, die zur 3-wöchigen
Bewußtlosigkeit führen und zunächst das Schlimmste befürchten
lassen, gehört dazu nicht. Die Nachricht, daß derartiges einen
nahen Angehörigen getroffen hat, ist nicht weniger als die Todesnachricht
geeignet, auch ohne besondere Empfindlichkeit des Empfängers einen
schweren Schock zuzufügen, der zum Ersatz der dadurch bewirkten Körper-
und Gesundheitsschäden führen muß, sofern diese von einem
bestimmten Schweregrad sind.
b) Es mag nun zweifelhaft sein, ob die schweren,
aber vorübergehenden Kreislaufstörungen der Mutter sowie der
Umstand, daß sie 2 Tage lang Wehenschmerzen hatte, über die
gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen nahe Angehörige
beim Empfang solcher schlimmen Nachrichten erfahrungsgemäß ausgesetzt
sind, die aber als allgemeines Lebensschicksal ohne Entschädigungsanspruch
hinzunehmen sind. Es kann aber, wo es um den haftungsrechtlichen Schutz
des werdenden Kindes geht, nicht darauf ankommen, ob die Mutter durch den
erlittenen seelischen Schock so schwer geschädigt worden ist, daß
ihr deswegen eigene Ansprüche zustehen. Die durch sie vermittelte
Kausalität der schweren Verletzung ihrer Leibesfrucht wird davon ohnehin
nicht berührt. Die Wertungsfrage kann hier nur darauf zielen, ob der
Gesundheitsschaden, der die Kl. als Leibesfrucht getroffen hat, sich in
einem Rahmen bewegt, der nicht über das hinausgeht, was ein Kind im
Mutterleib dadurch erlediet, daß es am allgemeinen Lebensschicksal
der Mutter teilnimmt und von deren jeweiliger Befindlichkeit mitbetroffen
wird. Diese Frage läßt sich, da es eben um Ansprüche des
Kindes geht, nur nach der Schwere seiner pränatalen Schädigung
beantworten. Danach kommt aber aus solchen Erwägungen heraus eine
Haftungseinschränkung im Streitfall sicher nicht in Betracht.
c) Schließlich ist die Beeinträchtigung
eines werdenden Kindes, die durch die psychisch vermittelte Verletzung
der Schwangeren hervorgerufen wird, nicht etwas derart Ungewöhnliches
und Fernliegendes, daß sie hier als Teil des allgemeinen Lebensrisikos
angesehen werden müßte und deshalb außerhalb des Haftungszusammenhangs
steht. Vielmehr entspricht es der Erfahrung und stellt nicht nur eine sehr
seltene medizinische Komplikation dar, daß eine Schwangere, die einem
Ereignis ausgesetzt wird, das starke Schreckens- und Trauergefühle
hervorrufen kann, nicht nur sich selbst, sondern vor allem auch ihr werdendes
Kind gefährdet bis zum Risiko einer Fehlgeburt. Nichts anderes ist
hier geschehen: Aus ärztlicher Sicht lassen sich die physiologischen
Vorgänge beim Erleiden eines schweren Schocks der Mutter, die das
Leben und die Gesundheit der Leibesfrucht tangieren, ohne weiteres objektivieren.
So haben die medizinischen Gutachter auch in dem angeführten, vom
erkennenden Senat seiner Zeit entschiedenen Fall als Ursache für die
Schädigung ernsthaft eine Minderdurchblutung der mütterlichen
Placenta und eine dadurch hervorgerufene Mangelversorgung der Leibesfrucht
in Betracht gezogen, d. h. einen Geschehensablauf, der sich nach den Feststellungen
des BerGer. auch im Streitfall verwirklicht hat.
3. Schließlich bestehen keine Bedenken gegen
die nicht weiter begründete Ansicht des BerGer., daß die Fahrlässigkeit
des Fahrers des US-Sattelzugschleppers nicht nur die Verletzung der Mutter
umfaßte, sondern auch die Verletzung ihrer Leibesfrucht und damit
des kl. Kindes. Der Kl. braucht nicht zu beweisen, daß der Schädiger
vorhersehen konnte, eine Schwangere oder/und ein werdendes Kind zu verletzen.
Es genügt für seine Haftung, daß er die Möglichkeit
des Eintrittes eines schädigenden Erfolges im allgemeinen hätte
erkennen müssen; wie sich die Schadensfolgen dann im einzelnen entwickeln
würden, braucht nicht vorausgesehen werden (vgl. das mehrfach zitierte
Senatsurteil BGHZ 58, 48 (56) = NJW 1972, 1126). Wenn ein Gesundheitsschaden
unter Einwirkungen auf die Psyche des Verletzten in rechtlich zurechenbarer
Weise herbeigeführt wird, und darum handelt es sich bei der Schockbeeinträchtigung
der Mutter der Kl., muß sich freilich das Verschulden des Täters
auch auf diese Auswirkungen beziehen (Senat, NJW 1976, 1143 = VersR 1976,
639). Indessen ist es voraussehbar, daß die Nachricht von der schweren
Verletzung eines nahen Angehörigen diesen ernsthaften Gesundheitsschaden
zufügen kann. Etwaige wertende Einschränkungen der Haftung bei
der Verwirklichung von Gefahren, die außerhalb des Schutzzwecks der
Norm liegen, ließen sich nur über die oben bereits erörterte
wertende Prüfung der Zurechenbarkeit erfassen.
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