Kausalität bei Schockschäden - psychisch vermittelte
Kausalität und Zurechnungszusammenhang
BGH, Urteil vom 22. Mai 2007 - VI ZR 17/06
Fundstelle:
NJW 2007, 2764
BGHZ 172, 263
Amtl. Leitsatz:
Wird eine psychische Gesundheitsbeeinträchtigung auf das Miterleben eines
schweren Unfalls zurückgeführt, so kommt eine Haftung des Schädigers
regelmäßig nicht in Betracht, wenn der Geschädigte nicht selbst unmittelbar
an dem Unfall beteiligt war.
Zentrale Probleme:
Ein furchtbar
tragischer Fall, in dessen Zentrum klassische Probleme des Deliktsrechts,
nämlich die Problematik der Schockschäden und der psychisch vermittelten
Kausalität stehen. Die Kernaussagen sind nicht neu, jedoch wird eine
Streitfrage geklärt: Seelische Erschütterungen begründen nur dann eine
Rechtsverletzung i.S.v. § 823 I BGB, wenn sie Krankheitswert haben (BGHZ 56, 163
ff;
BGH NJW 2006, 3268).
Werden diese "Schockschäden" aber psychisch vermittelt, kommt ein
Kausalitätsproblem hinzu (BGHZ 93, 351):
Zwar ist die Handlung des Schädigers, der einen Verkehrsunfall verursacht,
äquivalent und uU auch adäquat kausal für den psychischen Schaden, den ein
zufälliger, unbeteiligter Passant als Zuschauer erleidet, jedoch ist das
Haftungsrecht bemüht, hier zur Vermeidung von Haftungslawinen weitere
Einschränkungen zu setzen. Das geschieht mittels der "normativen Zurechnung"
bzw. dem Erfordernis des Zurechnungszusammenhangs. Einen solchen sieht der
Senat hier nicht gegeben. Sinnvoll ist auch die Abgrenzung zu den
"Herausforderungsfällen" (s. dazu
BGH NJW
2005, 1420;
BGH NJW 2002, 2232), in
welchen bei psychisch vermittelter Kausalität ein Zurechnungszusammenhang
bejaht wird. Der Senat stellt jetzt klar, daß ein zufälliger, unbeteiligter
Unfallzeuge, der durch den Anblick des Unfalls einen Schockschaden erleidet,
keinen Anspruch auf Schadensersatz gegen den Unfallverursacher hat. Sein
Schaden ist schlicht ein allgemeines Lebensrisiko (zur Abgrenzung s.
BGH v. 17.4.2018 - VI ZR 237/17). Das ist vollkommen
richtig. S. auch
BGH v. 20.3.2012 - VI ZR 114/11 sowie BGH v.
27.1.2015 - VI ZR 548/12.
S. dazu jetzt auch
BGH v. 6.12.2022 - VI ZR 168/21,
wo das Kriterium aufgegeben wurde, dass die gesundheitlichen
Beeinträchtigungen über dasjenige hinausgehen müssen, dem Betroffene bei der
Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt
sind.
©sl 2007
Tatbestand:
1 Das klagende Land verlangt von der beklagten
Versicherung aus übergegangenem Recht Ersatz von Leistungen für zwei in
seinem Dienst stehende Polizeibeamte, die nach einem Verkehrsunfall ein
posttraumatisches Belastungssyndrom erlitten haben sollen.
2 Am 21. Dezember 2002 befuhr ein Versicherungsnehmer der Beklagten
(nachfolgend: Schädiger) als "Geisterfahrer" die Autobahn entgegen der
vorgeschriebenen Fahrtrichtung. Er stieß frontal mit einem entgegenkommenden
PKW zusammen, in dem sich eine vierköpfige Familie befand. Beide PKW fingen
im weiteren Verlauf Feuer und brannten völlig aus; sämtliche Insassen
verbrannten.
3 Auf dem Heimweg vom Nachtdienst näherten sich die Polizeibeamten H. und
sein Beifahrer T. der Unfallstelle. Ihr Fahrzeug geriet bei dem Versuch, den
Unfallfahrzeugen auszuweichen, gegen die Leitplanke, wobei T. eine HWS/
BWS-Distorsion erlitt. Nach Behauptung des Klägers hat T. einen
Rettungsversuch unternommen, der unstreitig abgebrochen worden ist, als die
Fahrzeuge in Flammen aufgingen. Sodann kam der Polizeibeamte D. zur
Unfallaufnahme hinzu.
4 Wegen der HWS/BWS-Distorsion war T. vom 23. Dezember 2002 bis 2. Januar
2003 dienstunfähig. Der Kläger macht geltend, T. und D. hätten durch den
Unfall eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten. Darauf führt der
Kläger die mehrmonatige Dienstunfähigkeit des T. ab September 2003 und eine
Minderung der Erwerbsfähigkeit des D. zurück.
5
Die Beklagte hat Heilbehandlungskosten wegen der HWS/BWS-Distorsion des T.
erstattet. Im Rechtsstreit hat der Kläger insoweit weitere
Heilbehandlungskosten und insbesondere weiteren Schadensersatz und
Feststellung einer Ersatzpflicht für alle künftigen Schäden aus dem
Dienstunfall wegen der behaupteten posttraumatischen Belastungsstörungen
begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers
hatte lediglich hinsichtlich des Ersatzes weiterer Heilbehandlungskosten
wegen der HWS/BWS-Distorsion Erfolg. Mit der vom Berufungsgericht
zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Klageantrag in vollem
Umfang weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
6 Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht dem Kläger nur wegen der
Dienstunfähigkeit im Zusammenhang mit der HWS/BWS-Distorsion weiterer
Schadensersatz zu (§§ 823 Abs. 1 BGB, 3 Nr. 1 PflVG, 98 LBG RheinlandPfalz).
7 Wegen der behaupteten posttraumatischen Belastungssyndrome bestehe kein
Schadensersatzanspruch. Auch wenn man durch den Unfall psychisch vermittelte
Gesundheitsschädigungen mit Krankheitswert unterstelle, fielen diese nicht
in den Schutzbereich der §§ 823 Abs. 1 BGB, 7 Abs. 1 StVG; sie seien
vielmehr Teil des allgemeinen Lebensrisikos, das jeder grundsätzlich selbst
zu tragen habe. Vor diesem Hintergrund setze ein solcher
Schadensersatzanspruch eine Sonderverbindung des psychisch geschädigten
Dritten zu dem schrecklichen Ereignis voraus, die die Beobachtung des
Geschehens gerade für ihn zu einer Belastung werden lasse. Für Polizeibeamte
gehörten die mit der Berufsausübung verbundenen psychischen Belastungen
infolge Wahrnehmung eines schrecklichen Geschehens indes zum allgemeinen
Berufsrisiko als einem Unterfall des allgemeinen Lebensrisikos. Eine durch
eine Rettungshandlung gesteigerte Gefahrenlage für die Polizeibeamten am
Unfallort oder eine dadurch begründete Sonderverbindung zwischen dem Helfer
und dem Opfer habe nicht vorgelegen.
II.
8 1. Soweit der Kläger geltend macht, die Klage sei zu Unrecht in Höhe von
598,50 € hinsichtlich der Dienstbezüge für die Zeit vom 23. bis 31. Dezember
2002 abgewiesen worden, ist die Revision unzulässig, weil sie das
Berufungsgericht insoweit nicht zugelassen hat.
9 Das Berufungsgericht hat zum Ausdruck gebracht, dass es die Revision nur
zur Klärung der Frage zulassen will, ob die Polizeibeamten die unterstellten
psychisch vermittelten Gesundheitsbeeinträchtigungen entschädigungslos
hinnehmen müssen. Zwar enthält der Tenor des Berufungsurteils eine solche
Einschränkung nicht. Es genügt jedoch, dass sich die Einschränkung mit
ausreichender Deutlichkeit aus den Entscheidungsgründen ergibt (vgl.
Senatsurteil vom 19. Oktober 2004 - VI ZR 292/03 - VersR 2005, 84, 86;
ebenso BGHZ 48, 134, 136; 153, 358, 360 f.). Hat das Berufungsgericht über
mehrere selbständige prozessuale Ansprüche entschieden und ist die
Rechtsfrage, deretwegen es die Revision zugelassen hat, nur für einen von
ihnen erheblich, so ist in der Angabe des Zulassungsgrundes regelmäßig die
eindeutige Beschränkung der Zulassung der Revision auf diesen Anspruch zu
sehen (vgl. Senatsurteil vom 19. Oktober 2004 - VI ZR 292/03 - aaO; BGHZ 48,
aaO; 153, 358, 361 f.).
10 Nach ständiger Rechtsprechung kann das Berufungsgericht die Zulassung der
Revision auf einen rechtlich selbständigen und abtrennbaren Teil des
Streitstoffes beschränken, auf den auch die Partei selbst ihre Revision
begrenzen könnte (vgl. Senatsurteile BGHZ 76, 397, 398 f.; vom 9. Dezember
2003 - VI ZR 404/02 - VersR 2004, 525; vom 19. Oktober 2004 - VI ZR 292/03 -aaO).
Der Teil des Prozessstoffs, für den die Zulassung ausgesprochen wird, muss
vom restlichen Prozessstoff abtrennbar sein; im Falle einer Zurückverweisung
darf die Änderung dieses Teils nicht in die Gefahr eines Widerspruchs zu dem
nicht anfechtbaren Teil geraten (vgl. Senatsurteil vom 19. Oktober 2004 - VI
ZR 292/03 - aaO; BGH, Urteile vom 4. Juni 2003 - VIII ZR 91/02 - NJW-RR
2003, 1192, 1194; vom 23. September 2003 - XI ZR 135/02 - NJW 2003, 3703).
Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Die Dienstunfähigkeit vom 23. bis 31.
Dezember 2002 beruhte allein auf der erlittenen HWS/BWS-Distorsion und somit
auf einer andersartigen Gesundheitsbeeinträchtigung und Schadensursache als
das behauptete posttraumatische Belastungssyndrom.
11 2. Soweit das Berufungsgericht Schadensersatzansprüche wegen
eines posttraumatischen Belastungssyndroms abgelehnt hat, hält das
Berufungsurteil der revisionsrechtlichen Überprüfung stand. Das
Berufungsgericht hat insoweit zu Recht Schadensersatzansprüche der
Polizeibeamten T. und D. verneint, weil es sowohl für Ansprüche aus § 823
BGB als auch aus §§ 7, 18 StVG an dem erforderlichen haftungsrechtlichen
Zurechnungszusammenhang fehlt.
12 a) Durch ein Unfallgeschehen ausgelöste, traumatisch bedingte
psychische Störungen von Krankheitswert können eine Verletzung des
geschützten Rechtsguts Gesundheit im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB darstellen
(vgl. z.B. Senatsurteile BGHZ 132, 341, 344 m.w.N. und vom 16.
Januar 2001 - VI ZR 381/99 - VersR 2001, 874, 875). Im Streitfall
ist revisionsrechtlich zu unterstellen, dass die vom erkennenden Senat an
eine Gesundheitsbeschädigung im Sinne dieser Vorschrift gestellten
Anforderungen (vgl. Senatsurteile
BGHZ 56, 163, 165 f.;
132, 341, 344; vom 31. Januar 1984 - VI ZR 56/82 - VersR 1984, 439; vom 4.
April 1989 - VI ZR 97/88 - VersR 1989, 853, 854) erfüllt sind, weil
nach den Ausführungen des Berufungsgerichts eine unfallbedingte
Gesundheitsschädigung der Polizisten schlüssig dargetan ist und das
Berufungsgericht offen gelassen hat, ob die für eine Gesundheitsschädigung
im Sinne des § 823 BGB erforderliche Erheblichkeitsschwelle überschritten
ist.
13 b) Gleichwohl hat das Berufungsgericht im Ergebnis eine Haftung
ohne Rechtsfehler verneint. Die geltend gemachten
Gesundheitsbeeinträchtigungen durch ein posttraumatisches Belastungssyndrom
sind nicht unmittelbar durch das Falschfahren auf der Autobahn und den
dadurch verursachten Zusammenstoß mit dem Gegenverkehr verursacht.
Im Unterschied zu dem von T. erlittenen und gesondert zu beurteilenden
Gesundheitsschaden in Form einer HWS/BWS-Distorsion beruhen sie auch nicht
auf einer Handlung zur Vermeidung einer Kollision mit dem falsch fahrenden
Fahrzeug. Sie sind vielmehr auf eine psychisch vermittelte
Schädigung zurückzuführen, die nach dem Vorbringen des Klägers nicht Folge
einer HWS/BWS-Verletzung ist, sondern dadurch entstanden ist, dass die
Polizeibeamten mit ansehen mussten, wie die Insassen der beteiligten
Unfallfahrzeuge verbrannten, ohne helfend eingreifen zu können.
Unter diesen Umständen kann ein solcher Gesundheitsschaden dem Schädiger
nicht zugerechnet werden.
14 aa) Der erkennende Senat hat eine Haftpflicht des
Unfallverursachers in Fällen anerkannt, in denen der Geschädigte als direkt
am Unfall Beteiligter infolge einer psychischen Schädigung eine schwere
Gesundheitsstörung erlitten hat (vgl. Senatsurteile vom 12.
November 1985 - VI ZR 103/84 - VersR 1986, 240, 241; vom 9. April 1991 - VI
ZR 106/90 - VersR 1991, 704, 705; vom 16. März 1993 - VI ZR 101/92 - VersR
1993, 589, 590). Maßgeblich für die Zurechnung war in diesen Fällen,
dass der Schädiger dem Geschädigten die Rolle eines unmittelbaren
Unfallbeteiligten aufgezwungen hat und dieser das Unfallgeschehen psychisch
nicht verkraften konnte (vgl. Senatsurteil vom 12. November 1985 -
VI ZR 103/84 - VersR 1986, 240, 242). Solche Umstände sind hier
nicht gegeben, vielmehr waren die Polizeibeamten an dem eigentlichen
Unfallgeschehen, das zu ihrer psychischen Schädigung geführt haben soll,
nämlich der Kollision zwischen dem "Geisterfahrer" und dem PKW der Familie
nicht beteiligt.
15 bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem von der Revision
angesprochenen Gesichtspunkt einer Herausforderung zu einer
Rettungshandlung. Insoweit hat der Senat entschieden, dass
jemand, der durch vorwerfbares Tun einen anderen zu selbst gefährdendem
Verhalten herausfordert, diesem anderen dann, wenn dessen Willensentschluss
auf einer mindestens im Ansatz billigenswerten Motivation beruht, aus
unerlaubter Handlung zum Ersatz des Schadens verpflichtet sein kann, der
infolge des durch die Herausforderung gesteigerten Risikos entstanden ist
(vgl. BGHZ 57, 25, 28 ff.; 63, 189, 191 ff.; 70, 374, 376; 101, 215, 219
ff.; 132, 164, 166 ff.). Eine auf solcher Grundlage beruhende
deliktische Haftung ist insbesondere in Fällen bejaht worden, in denen sich
jemand der (vorläufigen) Festnahme durch Polizeibeamte oder andere dazu
befugte Personen durch die Flucht zu entziehen versucht und diese Personen
dadurch in vorwerfbarer Weise zu einer sie selbst gefährdenden Verfolgung
herausgefordert hat, wobei sie dann infolge der gesteigerten Gefahrenlage
einen Schaden erlitten haben (vgl. Senatsurteile BGHZ 132, 164, 166
f.; vom 3. Juli 1990 - VI ZR 33/90 - VersR 1991, 111, 112 m.w.N.).
16 Im Unterschied zu diesen Fällen haben die Geschädigten hier
keinen Schaden bei einem sie selbst gefährdenden Verhalten erlitten, zu dem
sie sich aufgrund einer durch die "Geisterfahrt" des Schädigers bestehenden
gesteigerten Gefahrenlage herausgefordert fühlen durften. Der vom Kläger
behauptete Rettungsversuch des T. wurde nach den Feststellungen des
Berufungsgerichts jedenfalls abgebrochen, als die Fahrzeuge in Flammen
aufgingen, und hat als solcher zu keinem Gesundheitsschaden des
Polizeibeamten geführt.
17 cc) Unter diesen Umständen ist nicht zu beanstanden, dass das
Berufungsgericht die Polizeibeamten wie zufällige Zeugen des Verkehrsunfalls
behandelt hat. Der Senat hat in seinem Urteil vom 12. November 1985 (VI ZR
103/84, aaO) offen gelassen, ob auch völlig fremde, mit den eigentlichen
Unfallbeteiligten nicht in einer näheren Beziehung stehende Personen bei
besonders schweren Unfällen Schadensersatz für eine psychische
Gesundheitsbeeinträchtigung erhalten können. Diese Frage ist aus den oben
dargelegten Gründen zu verneinen. Dabei spielt es keine
entscheidende Rolle, ob es sich bei den Geschädigten um Polizeibeamte oder
andere Personen handelt, die zufällig das Unfallgeschehen miterleben.
In beiden Fällen ist eine Schädigung, die aus der bloßen Anwesenheit
bei einem schrecklichen Ereignis herrührt, dem allgemeinen Lebensrisiko
zuzurechnen.
18 3. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ZPO.
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