Ersetzungsbefugnis des Geschädigten nach § 249
Abs. 2 S. 1 BGB: Maßgeblichkeit des Herstellungsinteresses; § 249 Abs. 2 S.
2 BGB als systemwidriger Ausnahmetatbestand; keine Analogiefähigkeit
BGH, Urteil vom 19. Februar 2013 - VI
ZR 69/12 - LG Landshut
Fundstelle:
noch nicht bekannt
Amtl. Leitsatz:
Bei einer (fiktiven) Schadensabrechnung nach §
249 Abs. 2 Satz 1 BGB umfassen die erforderlichen Reparaturkosten auch
allgemeine Kostenfaktoren wie Sozialabgaben und Lohnnebenkosten.
Zentrale Probleme:
Die Entscheidung ist deshalb von Interesse, weil
sie die Grundlagen des Geldersatzes nach § 249 Abs. 2 BGB und dem dabei
relevanten Herstellungsinteresse (und gerade nicht dem Wertinteresse) sehr
lehrreich darlegt. Zu recht wird § 249 Abs. 2 S. 2 BGB als
systemwidriger, nicht analogiefähiger
Ausnahmetatbestand angesehen. Zum Verhältnis von Herstellungs- und
Wertinteresse im Schadensersatzrecht s. auch BGHZ 115, 364 ff
und BGH NJW 2001, 2250
sowie insbesondere BGH NJW 1993, 3321.
©sl 2013
Tatbestand:
1 Der Kläger verlangt von dem
beklagten Haftpflichtversicherer restlichen Schadensersatz aus einem
Verkehrsunfall vom 24. August 2011, bei dem sein Kraftfahrzeug beschädigt
wurde. Die Haftung der Beklagten ist dem Grunde nach außer Streit. Der
Kläger hat die Reparaturkosten für das unfallbeschädigte Fahrzeug fiktiv auf
Grundlage eines Sachverständigengutachtens geltend gemacht, welches
Nettoreparaturkosten in Höhe von 600,69 € ausweist, von denen 155,80 € auf
den Arbeitslohn entfallen. Die Beklagte hat den fiktiven Arbeitslohn
vorgerichtlich unter Abzug von 10 % wegen nicht angefallener Sozialabgaben
und Lohnnebenkosten erstattet. Das Amtsgericht hat dem Kläger den mit der
Klage geltend gemachten Differenzbetrag von 15,58 € nebst Zinsen hieraus
zuerkannt. Die zugelassene Berufung der Beklagten hat das Landgericht
zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt
die Beklagte ihr Klageabweisungsbegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
2 Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist ein Abzug für Sozialabgaben und
Lohnnebenkosten bei fiktiver Reparaturkostenabrechnung nicht geboten, da der
Gesetzgeber bewusst die Neuregelung in § 249 Abs. 2 Satz 2 BGB auf die
Umsatzsteuer beschränkt habe. Auch wenn es der Gesetzgeber im Übrigen der
Rechtsprechung habe überlassen wollen, das Sachschadensrecht zu
konkretisieren und weiterzuentwickeln, sei daraus nicht zu folgern, dass
nach dem Willen des Gesetzgebers sämtliche öffentlichen Abgaben bei einer
fiktiven Reparaturkostenabrechnung abgezogen werden sollten. Hätte es dem
Willen des Gesetzgebers entsprochen, auch insoweit Einschränkungen
vorzunehmen, so hätte er dies selbst getan.
II.
3 Das Berufungsurteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung stand. Entgegen
der Auffassung der Revision sind Sozialabgaben und Lohnnebenkosten
Bestandteile des im Rahmen einer "fiktiven" Schadensabrechnung im Sinne des
§ 249 Abs. 2 Satz 1 BGB nach einem Verkehrsunfall zu erstattenden Schadens.
4 1. Nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB kann der Gläubiger, wenn wegen
Beschädigung einer Sache Schadensersatz zu leisten ist, statt der
Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen. Nach
ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats darf der Geschädigte dabei
seiner (fiktiven) Schadensberechnung grundsätzlich die üblichen
Stundenverrechnungssätze einer markengebundenen Fachwerkstatt zugrunde
legen, die ein von ihm eingeschalteter Sachverständiger auf dem allgemeinen
regionalen Markt ermittelt hat (vgl. Senatsurteile vom 29. April 2003 - VI
ZR 398/02, BGHZ 155, 1 ff.; vom 20. Oktober 2009 - VI ZR 53/09, BGHZ 183, 21
Rn. 8; vom 22. Juni 2010 - VI ZR 302/08, VersR 2010, 1096, 1097; vom 22.
Juni 2010 - VI ZR 337/09, VersR 2010, 1097 f.; vom 13. Juli 2010 - VI ZR
259/09, VersR 2010, 1380 f.).
5 2. Entgegen der Auffassung der Revision widerspricht die
Berücksichtigung fiktiver Sozialabgaben und Lohnnebenkosten bei der
Berechnung der erstattungsfähigen Reparaturkosten weder dem
Wirtschaftlichkeitsgebot noch dem Bereicherungsverbot. Denn das
Vermögen des durch einen Verkehrsunfall Geschädigten ist um denjenigen
Betrag gemindert, der aufgewendet werden muss, um die beschädigte Sache
fachgerecht zu reparieren. Zu den erforderlichen Wiederherstellungskosten
gehören, wie sich aus dem von der Revision selbst in Bezug genommenen
Senatsurteil vom 19. Juni 1973 - VI ZR 46/72 (BGHZ 61, 56, 58 f.) ergibt,
grundsätzlich auch allgemeine Kostenfaktoren wie Umsatzsteuer, Sozialabgaben
und Lohnnebenkosten. Deshalb hat der Senat in der vorgenannten Entscheidung
vor dem Inkrafttreten des Zweiten Schadensrechtsänderungsgesetzes bei einer
"fiktiven" Schadensabrechnung die Mehrwertsteuer beim nicht
vorsteuerabzugsberechtigten Geschädigten als echten Schadensposten anerkannt
und ausgeführt, der steuertechnisch bedingte getrennte Ausweis der
Mehrwertsteuer ändere nichts daran, dass sie als objekt bzw.
leistungsbezogene allgemeine Abgabe auf den Verbrauch nicht weniger ein
allgemeiner Kostenfaktor sei als andere öffentliche Abgaben, welche direkt
oder indirekt in die Kosten und damit in den Preis einer Ware oder Leistung
Eingang gefunden haben.
6 3. Soweit der Gesetzgeber nunmehr durch das Zweite
Schadensrechtsänderungsgesetz in § 249 Abs. 2 Satz 2 BGB die Erstattung
nicht angefallener Umsatzsteuer bei fiktiver Schadensabrechnung ausdrücklich
vom Schadensersatzanspruch ausgenommen hat, hat er hiermit lediglich einen -
systemwidrigen - Ausnahmetatbestand geschaffen, der nicht analogiefähig ist
(vgl. Pa-landt/Grüneberg, BGB, 72. Aufl., § 249 Rn. 14; Prütting/Wegen/
Weinreich/Medicus, BGB, 7. Aufl., § 249 Rn. 29; MünchKomm-BGB/Oetker, 6.
Aufl., § 249 Rn. 459; Beck-OK-BGB/Schubert, Stand: 03/2011, § 249 Rn. 226
f.; AG Worms, Urteil vom 5. Januar 2012 - 2 C 399/11; AG Stuttgart-Bad
Cannstatt, Urteil vom 2. Mai 2012 - 2 C 79/12; AG Bielefeld, Urteil vom
29. Mai 2012 - 402 C 124/12; AG St. Goar, Urteil vom 16. September 2011
- 33 C 406/11, juris Rn. 9; a.A. Clos, r+s 2011, 277 ff. mwN).
7 a) Die Revision weist selbst darauf hin, dass sich aus den
Gesetzesmaterialien (vgl. insbesondere BT-Drs. 14/7752, S. 13) ergibt, dass
der Entwurf eines Zweiten Schadensrechtsänderungsgesetzes aus der 13.
Legislaturperiode zunächst vorsah, bei einer fiktiven Abrechnung von
Sachschäden die öffentlichen Abgaben außer Ansatz zu lassen. Dieser
Vorschlag ist indes auf vielfältige Kritik gestoßen. Dieser Kritik hat der
Gesetzgeber im Rahmen des weiteren Gesetzgebungsverfahrens Rechnung getragen
und auf einen Abzug sämtlicher öffentlicher Abgaben bewusst verzichtet und
sich auf die Umsatzsteuer als größten Faktor unter den "durchlaufenden
Posten" beschränkt. Fehlt es mithin an einer Regelungslücke, kommt eine
entsprechende Anwendung des § 249 Abs. 2 Satz 2 BGB auf andere "öffentliche
Abgaben" nicht in Betracht.
8 b) Soweit es nach den Gesetzesmaterialien der Rechtsprechung überlassen
werden sollte, das Sachschadensrecht "zu konkretisieren und zu entwickeln",
vermag dies dem Senat nicht den Weg zu einer Abweichung vom geltenden Recht
und zu einer von der Revision erwünschten, aber vom Gesetzgeber nicht
vorgesehenen Gleichstellung von Umsatzsteuer und anderen "öffentlichen
Abgaben" zu eröffnen.
9 c) Entgegen der Auffassung der Revision führt eine Erstattung des
zur Herstellung erforderlichen Geldbetrags gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB
ohne Abzug von Sozialabgaben und Lohnnebenkosten nicht zwangsläufig zu einer
Überkompensation des Geschädigten. Sie ist vielmehr
lediglich die rechtliche Folge der gesetzlichen Regelung des § 249 Abs. 2
Satz 1 BGB, wonach der Geschädigte bei der Beschädigung einer Sache statt
der Naturalrestitution im Sinne des § 249 Abs. 1 BGB Geldersatz verlangen
kann (sogenannte Ersetzungsbefugnis). Zu ersetzen ist dabei
das Integritätsinteresse, d.h. der Geldbetrag, der zur Herstellung des
Zustands erforderlich ist, der ohne das schädigende Ereignis bestehen würde.
Daneben ist der Geschädigte, der auf diese Weise die Beseitigung der
erlittenen Vermögenseinbuße verlangt, in der Verwendung des
Schadensersatzbetrags frei, d.h. er muss den ihm zustehenden Geldbetrag
nicht oder nicht vollständig für eine ordnungsgemäße Reparatur in einer
(markengebundenen) Fachwerkstatt einsetzen (sog. Dispositionsbefugnis).
Die Revisionserwiderung weist mit Recht darauf hin, dass die
Sichtweise der Revision zur Beseitigung dieser Dispositionsbefugnis führen
würde, die mit einer missbräuchlichen Bereicherung des Geschädigten nichts
zu tun hat. Verzichtet der Geschädigte auf eine Reparatur des
unfallbeschädigten Fahrzeugs, so bleibt der entsprechende Wertverlust des
Fahrzeugs bestehen. Wählt er eine Eigen-, Teil- oder Billigreparatur
außerhalb einer Fachwerkstatt, kann damit ebenfalls ein Wertverlust des
Fahrzeugs einhergehen. Entgegen der Auffassung der Revision kann nicht
unterstellt werden, dass der Wert des Fahrzeugs nicht dadurch beeinflusst
wird, ob bei der Reparatur Sozialabgaben, Lohnnebenkosten und Umsatzsteuer
angefallen sind. Vielmehr spielt es beim Verkauf eines Fahrzeugs mit einem
früheren Unfallschaden nach allgemeiner Lebenserfahrung durchaus eine Rolle,
ob der Unfallschaden vollständig und fachgerecht in einer markengebundenen
oder sonstigen Fachwerkstatt behoben worden ist.
10 d) Schließlich kann der Auffassung der Revision nicht beigetreten werden,
ein Abzug der Lohnnebenkosten und Sozialabgaben bei fiktiver Abrechnung
eines Kfz-Sachschadens führe zu einer Harmonisierung des
Schadensersatzrechts im Hinblick auf die Rechtslage bei der Abrechnung eines
Haushaltsführungsschadens bei Personenschäden. Die von der Revision
angeführten Senatsentscheidungen betreffen andere Fallgestaltungen (vgl.
Senatsurteile vom 16. September 1986 - VI ZR 128/85, VersR 1987, 70 Rn. 21;
vom 8. Juni 1982 - VI ZR 314/80, VersR 1982, 951 Rn. 16 ff. und vom 10.
November 1998 - VI ZR 354/97, BGHZ 140, 39, 44). Die im Sinne des §
249 Abs. 2 Satz 1 BGB erforderlichen (Gesamt-) Reparaturkosten eines
Kraftfahrzeuges nach einem Verkehrsunfall setzen sich aus vielen einzelnen
Kostenfaktoren zusammen und lassen sich schadensrechtlich nicht aufspalten
in einen "angefallenen" und einen "nicht angefallenen" Teil. Dies
wäre in der Rechtspraxis nicht handhabbar und würde dem Geschädigten sowohl
die Ersetzungsbefugnis als auch die Dispositionsfreiheit im Sinne des § 249
Abs. 2 Satz 1 BGB nehmen.
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