Rechtsnatur des
Prozeßvergleichs ("Doppelnatur"); Widerrufsvorbehalt und Adressat der
Widerrufserklärung
BGH, Urt. v. 30. September
2005 - V ZR 275/04
Fundstelle:
NJW 2005, 3576
BGHZ 164, 190
Amtl. Leitsatz:
Der Widerruf eines
Prozessvergleichs kann wirksam sowohl dem Gericht als auch der anderen
Vergleichspartei gegenüber erklärt werden, wenn die Parteien keine hiervon
abweichende Vereinbarung getroffen haben; dies gilt jedenfalls für
Prozessvergleiche, die seit dem 1. Januar 2002 geschlossen wurden.
Zentrale Probleme:
Zur hier lehrbuchartig
dargelegten Rechtsnatur des Prozeßvergleichs s. die Anm. zu
NJW 1999, 2903 (= BGHZ 142, 253). Zum
außergerichtlichen Vergleich s. auch BGH NJW 2002, 1503.
Neu entschieden wird das lange streitige Problem des Erklärungsadressaten
(s. Leitsatz), das der Senat ebenfalls entscheidend aus der Rechtsnatur des
Vergleiches herleitet: Hat dieser eine "Doppelnatur" dergestalt, daß er
einen materiellrechtlichen wie auch einen prozeßrechtlichen Vertrag enthält,
die sich in ihrer Wirksamkeit gegenseitig bedingen, so führt auch der
Widerruf des prozessualen Teils zu derjenigen des materiellen und umgekehrt.
Daneben führt das Gericht zutreffende teleologische Erwägungen an.
©sl 2005
Tatbestand:
Die Parteien streiten um die prozessbeendigende Wirkung eines vor dem
Landgericht im September 2003 geschlossenen Vergleichs, in dem es unter Nr.
4 heißt: „Den Parteien bleibt vorbehalten, den Vergleich bis zum 23.
September 2003 zu widerrufen". Mit bei dem Landgericht an diesem Tag
eingegangenen Schriftsatz hat das beklagte Land den Widerruf des Vergleichs
erklärt. Eine beglaubigte Abschrift dieses Schriftsatzes ist dem
Prozessbevollmächtigten der Klägerin erst nach Ablauf der Widerrufsfrist
zugestellt worden. Auf Antrag der Klägerin hat das Landgericht festgestellt,
dass der Rechtsstreit durch den gerichtlichen Vergleich beendet worden sei.
Das Oberlandesgericht hat demgegenüber die Unwirksamkeit des
Prozessvergleichs ausgesprochen. Hiergegen richtet sich die von dem
Oberlandesgericht zugelassene Revision, mit der die Klägerin die
Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils erstrebt. Das beklagte Land
beantragt die Zurückweisung des Rechtsmittels.
Entscheidungsgründe:
I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts hat das beklagte Land den Vergleich
durch die bei dem Landgericht innerhalb der Widerrufsfrist eingegangene
Erklärung wirksam widerrufen. Unter Widerrufsvorbehalt geschlossene
Prozessvergleiche seien - sofern die Parteien keine abweichende Vereinbarung
getroffen hätten - sowohl dem Gericht als auch dem Vertragspartner gegenüber
widerruflich. Der Prozessvergleich habe Doppelcharakter. Neben seinem
materiellrechtlichen Inhalt komme ihm eine verfahrensbeendigende und
titelschaffende Funktion zu, sodass er auch Prozesshandlung sei. Da
prozessbeendigende Wirkung nur dem materiellrechtlich und prozessual wirksam
zustande gekommenen Vergleich zukomme, liege ein wirksamer Widerruf auch
dann vor, wenn die Prozesshandlung „Vergleich" dem Gericht gegenüber
widerrufen werde. Als Adressat der Widerrufserklärung komme das Gericht in
Betracht, weil vor und gegenüber ihm prozessual gehandelt werde. Dies
verdeutliche § 278 Abs. 6 ZPO, der die Möglichkeit biete, einen
gerichtlichen Vergleichsvorschlag (auch) durch Schriftsatz an das Gericht
anzunehmen. Für die vergleichbare Vorschrift des § 106 Satz 2 VwGO gehe auch
das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass bei Fehlen einer abweichenden
Vereinbarung der Widerruf dem Gericht gegenüber zu erklären sei.
II. Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand.
Das beklagte Land hat den Vergleich wirksam durch die dem Gericht gegenüber
abgegebene Erklärung widerrufen. Dem Berufungsgericht ist darin beizutreten,
dass der Widerruf eines Prozessvergleichs sowohl dem Gericht als auch der
anderen Vergleichspartei gegenüber wirksam erklärt werden kann, wenn der
Vergleich keine abweichende Vereinbarung über den Widerrufsadressaten
enthält; dies gilt jedenfalls für Prozessvergleiche, die seit dem 1. Januar
2002 geschlossen wurden.
1. Für die Beantwortung der Frage, wem gegenüber der in einem
Prozessvergleich vorbehaltene Widerruf zu erklären ist, kommt es vorrangig
auf eine in dem Vergleich getroffene Bestimmung an (BGH, Urt. v. 15.
Januar 1980, I ZR 60/78, NJW 1980, 1753, 1754; Urt. v. 22. Juni 2005, VIII
ZR 214/04, Umdruck S. 7, zur Veröffentlichung bestimmt; BAG NJW 1998, 2844,
2845; BVerwGE 92, 29, 30). Eine Vereinbarung der Parteien über den
Widerrufsadressaten hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Die
Revision verweist auf keine Umstände, aus der sich eine ihr günstige Abrede
im Sinne einer ausschließlichen Empfangszuständigkeit des Vergleichspartners
ergeben könnte.
2. Umstritten ist, wem gegenüber der Widerruf eines Prozessvergleichs zu
erklären ist, wenn die Parteien hierüber keine Regelung getroffen haben.
a) Im Anschuss an das Reichsgericht (RGZ 161, 253, 255) hat der
Bundesgerichtshof in älteren Entscheidungen die Auffassung vertreten, der
Vorbehalt des Widerrufs gehöre zum sachlich-rechtlichen Teil eines
Prozessvergleichs, sodass bei Fehlen einer Vereinbarung über die
Empfangszuständigkeit der Widerruf als empfangsbedürftige Willenserklärung
nach § 130 BGB wirksam nur dem Vergleichspartner gegenüber erklärt werden
könne (BGH, Urt. v. 19. Januar 1955, IV ZR 160/54 - LM BGB § 130 BGB Nr.
2 S. 2; Urt. v. 20. Februar 1958, II ZR 257/56, ZZP 71, 454, 455; offen
gelassen nunmehr vom VIII. Zivilsenat, vgl. Urt. v. 22. Juni 2005, VIII ZR
214/04, Umdruck S. 7, zur Veröffentlichung bestimmt); jedoch hat er eigens
darauf hingewiesen, dass die Annahme einer Empfangszuständigkeit des
Gerichts durch stillschweigende Vereinbarung möglich sei (BGH, Urt. v. 20.
Februar 1958, aaO). Dieser Hinweis hat in der Praxis vielfach zu der
Annahme derartiger stillschweigender Vereinbarungen geführt (etwa OLG
Düsseldorf NJW-RR 1987, 255, 256; OLG Köln NJW 1990, 1369; OLG Brandenburg
NJW-RR 1996, 123; vgl. auch BGH, Urt. v. 22. Juni 2005, VIII ZR 214/04,
Umdruck S. 7 ff.; BAG AP ZPO § 794 Nr. 1; BSGE 24, 4, 6). Die daraus
resultierende Rechtsunsicherheit bei der Bestimmung des Widerrufsadressaten
hat die Kommentarliteratur zu der Empfehlung bewogen, der Widerruf möge
vorsorglich dem Gegner und dem Gericht gegenüber erklärt werden (vgl.
etwa Zöller/Stöber, ZPO, 25. Aufl., § 794 Rdn. 10a m.w.N.). Auch fehlt es
nicht an Stimmen im Schrifttum, die einer Empfangszuständigkeit sowohl des
Gerichts als auch des Gegners den Vorzug einräumen (so etwa
Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, 22. Aufl., § 794 Rdn. 85 f. m.w.N.; MünchKomm-ZPO/Wolfsteiner,
2. Aufl., § 794 Rdn. 61; Wieczorek/Schütze/Paulus, ZPO, 3. Aufl., § 794 Rdn.
39).
b) Im Bereich des Verwaltungsprozessrechts hat sich ein Wechsel in der
Rechtsprechung vollzogen. Hatte sich das Bundesverwaltungsgericht zunächst
ebenfalls der Auffassung des Reichsgerichts angeschlossen (BVerwGE 10, 110,
111), steht es nunmehr auf dem Standpunkt, ein Prozessvergleich könne nur
dem Gericht gegenüber wirksam widerrufen werden (BVerwGE 92, 29, 30 ff.).
Von einer Vorlage an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des
Bundes hat das Bundesverwaltungsgericht - die Entscheidung stammt aus dem
Jahr 1993 - mit der Erwägung abgesehen, die Zivilprozessordnung enthalte
keine der Neufassung des § 106 VwGO vergleichbare Regelung und damit keine
gesetzliche Grundlage für eine Empfangszuständigkeit des Gerichts (BVerwG
NJW 1993, 2193, 2194 - insoweit in BVerwGE 92, 29 ff. nicht abgedruckt). Mit
dem Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 27. Juli 2001 (BGBl. I S. 1887)
ist die Zivilprozessordnung inzwischen nach dem Vorbild des § 106 Satz 2
VwGO durch Einfügung der Regelung des § 278 Abs. 6 ZPO umgestaltet worden
(vgl. Münch-Komm-ZPO/Prütting, 2. Aufl., Aktualisierungsband, § 278 Rdn.
37). Danach können Prozessvergleiche seit dem 1. Januar 2002 auch dadurch
geschlossen werden, dass die Parteien einen gerichtlichen
Vergleichsvorschlag durch Schriftsatz annehmen, wobei die Annahme dem
Gericht gegenüber zu erklären ist.
3. Vor diesem Hintergrund entscheidet der Senat dahin, dass der Widerruf,
jedenfalls nach neuem Recht, wirksam sowohl dem Gericht als auch dem
Vergleichspartner gegenüber erklärt werden kann, sofern die Parteien keine
hiervon abweichende Vereinbarung getroffen haben. Das folgt nicht nur aus
der Rechtsnatur des Prozessvergleichs, sondern zudem aus systematischen und
teleologischen Erwägungen.
a) Der Prozessvergleich ist ein Vertrag, der eine Doppelnatur aufweist
(BGHZ 16, 388, 390; 28, 171, 172;
41, 310, 311; 79, 71, 74; 80, 389, 392; 128,
320; 323; 142, 84, 88; BGH, Urt. v. 15. Januar 1980, I ZR 60/78, NJW 1980,
1753, 1754; Urt. v. 22. Juni 2005, VIII ZR 214/04, Umdruck S. 7, zur
Veröffentlichung bestimmt). Er ist Prozesshandlung, weil er den
Rechtsstreit beendet, und privatrechtliches Rechtsgeschäft, weil er
sachlichrechtlich die Ansprüche und Verbindlichkeiten der Parteien regelt
(vgl. BGH, Urt. v. 15. Januar 1980, I ZR 60/78, aaO; Urt. v. 16.
November 1979, I ZR 3/78, NJW 1980, 1752, 1753). Jedoch stehen
Prozesshandlung und Rechtsgeschäft nicht getrennt nebeneinander. Vielmehr
bildet der Prozessvergleich eine Einheit, die eine gegenseitige Abhängigkeit
der prozessualen Wirkungen und der materiellrechtlichen Regelungen bewirkt
(vgl. BGHZ 79, 71, 74 f.). Daher ist ein Prozessvergleich nur
wirksam, wenn sowohl die materiellrechtlichen Voraussetzungen für einen
Vergleich als auch die prozessualen Anforderungen erfüllt sind, die an eine
wirksame Prozesshandlung zu stellen sind. Fehlt es auch nur an einer dieser
Voraussetzungen, liegt ein wirksamer Prozessvergleich nicht vor; die
prozessbeendigende Wirkung tritt nicht ein.
Auf dieser Grundlage erweist es sich zunächst als zutreffend, wenn der
Vergleichspartner - bezogen auf die materiellrechtliche Komponente des
Prozessvergleichs - als Adressat der Widerrufserklärung angesehen wird (§
130 BGB). Nur ist damit nichts gegen eine Empfangszuständigkeit auch des
Gerichts unter dem Blickwinkel des Widerrufs der bei Abschluss des
Vergleichs ebenfalls abgegebenen - auf die Beendigung des Prozesses
gerichteten - Prozesshandlung gewonnen. So wenig § 130 BGB von
prozessrechtlichen Erwägungen überlagert wird, so wenig vermag die genannte
Vorschrift des bürgerlichen Rechts die nach Prozessrecht bestehende
Zuständigkeit des Gerichts zur Entgegennahme von Prozesshandlungen -
einschließlich ihres Widerrufs - zu verdrängen (vgl. auch MünchKomm-ZPO/Wolfsteiner,
2. Aufl., § 794 ZPO Rdn. 61). Es widerspricht der Zuordnung des
Prozessvergleichs zum materiellen und prozessualen Recht, bei der Bestimmung
des Widerrufsadressaten die bei einem unter Widerrufsvorbehalt geschlossenen
Vergleich gegebene Widerruflichkeit der Prozesshandlung auszublenden und nur
das materielle Recht in den Blick zu nehmen (ähnlich Stein/Jonas/Münzberg,
aaO, Rdn. 86). Für den fristgerechten Widerruf eines gerichtlichen
Vergleichs folgt daraus, dass die dem Gericht gegenüber widerrufene
Prozesshandlung - als solche ist eine an das Gericht gerichtete
Widerrufserklärung ohne weiteres zu verstehen - den Eintritt der
prozessbeendigenden Wirkung des Vergleichs ebenso hindert wie der dem
Vergleichspartner nach § 130 BGB erklärte Widerruf. Dies gilt
jedenfalls, seit mit dem Gesetz zur Reform des Zivilprozesses (aaO) die
Möglichkeit des Abschlusses eines Prozessvergleiches bei Abwesenheit der
Parteien eingeführt worden ist. Nach § 278 Abs. 6 Satz 1 ZPO kann ein
Vergleich nunmehr auch dadurch geschlossen werden, dass die Parteien einen
Vergleichsvorschlag des Gerichts durch Schriftsatz dem Gericht gegenüber
annehmen. Dann aber entspricht es nicht nur der Rechtsnatur des
Prozessvergleichs, sondern zudem der Systematik des Gesetzes, dass der
Widerruf auch dem Gericht gegenüber erklärt werden kann. Zwar wird für einen
Widerrufsvorbehalt in einem gerichtlichen Vergleichsvorschlag nur selten
Anlass bestehen. Das ändert aber nichts daran, dass die Neuregelung einen
wesentlichen Anhalt für die Auslegung bietet.
bb) Gründe der Rechtssicherheit untermauern die vom Senat zugrunde
gelegte Lösung. Die Frage, ob und mit welchem Inhalt eine stillschweigende
Abrede über den Widerrufsadressaten anzunehmen ist, ist selbst für
Rechtskundige nicht immer einfach und schon gar nicht zweifelsfrei zu
beantworten. Angesichts der daraus resultierenden Unsicherheiten mag es
anwaltlicher Vorsicht entsprechen, den Widerruf vorsorglich sowohl dem
Gericht als auch dem Gegner zu erklären. Den Parteien - insbesondere den
nicht durch einen Anwalt vertretenen - ein solches Vorgehen ansinnen zu
wollen, überspannte jedoch die Anforderungen an dasjenige, was von einer auf
Wahrung ihrer prozessualen Belange bedachten Partei zumutbarer Weise
erwartet werden kann. Bei der Bestimmung des Widerrufsadressaten ist daher
darauf Bedacht zu nehmen, dass auch eine nicht anwaltlich vertretene Partei
ohne komplizierte rechtliche Überlegungen den Widerruf erreichen kann
(so BAG AP ZPO § 794 Nr. 1). Auch das spricht dafür, eine
Empfangszuständigkeit für Widerrufserklärungen sowohl bei Gericht als auch
bei der anderen Vergleichspartei zu bejahen. Schutzwürdige Belange des
Widerrufsgegners werden dadurch nicht berührt. Dieser hat es in der Hand,
auf die Vereinbarung einer bestimmten Empfangszuständigkeit zu drängen, wenn
eine solche für ihn von besonderer Bedeutung ist. Sieht er hiervon ab,
erweckt er in aller Regel den Eindruck der Gleichgültigkeit zu dieser Frage
(Stein/Jonas/ Münzberg, aaO, Rdn. 86).
4. Die Voraussetzungen für eine Vorlage an den Großen Senat nach § 132 Abs.
3 u. 4 GVG oder an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des
Bundes nach § 2 Abs. 1 RsprEinhG liegen schon deshalb nicht vor, weil die
eine ausschließliche Empfangszuständigkeit des Gegners bejahenden
Entscheidungen (oben II.2.a.) sämtlich vor Umgestaltung der
zivilprozessualen Vorschriften über den Prozessvergleich ergangen sind. Die
maßgebende Rechtslage hat sich mit der Einfügung von § 278 Abs. 6 ZPO
wesentlich geändert. Das schließt eine Verpflichtung zur Vorlage aus (vgl.
BVerwG NJW 1993, 2193, 2194). Soweit der Senat entgegen der Auffassung des
Bundesverwaltungsgerichts nicht von einer ausschließlichen
Empfangszuständigkeit des Gerichts ausgeht, scheitert eine
Vorlageverpflichtung am Fehlen einer entscheidungserheblichen Divergenz
(vgl. GmS-OGB, BGHZ 88, 353, 356 f.; Senat, BGHZ 158, 295, 310).
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