Abgrenzung
Gefälligkeit/Vertrag, keine analoge Anwendung von § 603 S. 2 BGB auf
"Gefälligkeitsleihe" (Probefahrt)
BGH, Urteil vom 4. August
2010 - XII ZR 118/08
Fundstelle:
NJW 2010, 3087
Amtl. Leitsatz:
Im Rahmen einer Gebrauchsüberlassung
aus Gefälligkeit kann eine verschuldensunabhängige Haftung des Begünstigten
für die Beschädigung des überlassenen Gegenstandes durch einen Dritten, an
den der Gegenstand vom Begünstigten ohne Wissen des Gefälligen weitergegeben
worden ist, nicht durch eine entsprechende Anwendung des § 603 Satz 2 BGB
begründet werden.
Zentrale Probleme:
Eine interessante Entscheidung zur Abgrenzung zwischen
Gefälligkeit und Vertrag sowie zur Analogie zu Vorschriften über die
Leihe: Bei einer Probefahrt wird ein Roller beschädigt, es stellt sich die
Frage, ob der "Probefahrer" nach § 603 S.2 BGB für eine (eigene!)
Pflichtverletzung haftet, wenn er das Fahrzeug dabei einem Dritten überlässt
und dieser es schädigt (auf ein Verschulden des Dritten und dessen
Zurechnung kommt es nicht an, wenn nur die Schädigung ohne die
Gebrauchsüberlassung nicht eingetreten wäre). Der Senat verneint das mit
überzeugenden Gründen. Freilich kann sich hier - z.B. bei Anbahnung eines
Kaufs - bei einer Probefahrt eine Pflichtverletzung aus §§ 311 II Nr. 1 - 3,
241 II ergeben, bei welcher der Probefahrer nach § 278 für den Dritten
haftet. Das Urteil ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass bei einer
"Gefälligkeitsleihe" der "Entleiher" auch nicht in den Genuss des
Haftungsprivilegs des § 599 BGB kommt (s. dazu BGB sowie Medicus/Lorenz,
SchuldR BT Rn. 559 sowie Köhler/Lorenz, PdW Schuldrecht II Fall 126; aus der
Rspr. s. BGH NJW 1992, 2473). § 606 BGB ist aber analog anwendbar, denn die
ratio dieser Vorschrift ist eine andere (s. dazu BGH NJW 1964, 1225 sowie
Medicus/Lorenz BT Rn. 563). Schadensersatzansprüche des Klägers würden also
jedenfalls nach § 606 BGB verjähren. S. auch
OLG Koblenz NJW-RR
2008, 1613
©sl 2010
Tatbestand:
1 Der Kläger verlangt von dem Beklagten Schadensersatz für
seinen bei einem Unfall beschädigten Motorroller.
2 Der Kläger überließ dem Beklagten den in seinem Eigentum stehenden
Motorroller für eine Probefahrt. Auf dieser Fahrt, bei der der Beklagte von
dem Zeugen H. auf einem Leichtkraftrad begleitet wurde, kam es zu einem
Unfall, bei dem das Fahrzeug des Klägers erheblich beschädigt wurde.
3 Der Unfallhergang ist zwischen den Parteien streitig, insbesondere ob der
Motorroller des Klägers zum Zeitpunkt des Unfalls von dem Beklagten oder dem
Zeugen H. gefahren worden ist.
4 Das Amtsgericht hat nach Durchführung einer Beweisaufnahme den Beklagten
als Lenker des Motorrollers des Klägers angesehen und ihn gemäß § 823 BGB
zum Schadensersatz verurteilt. Die hiergegen gerichtete Berufung des
Beklagten blieb erfolglos.
5 Mit der vom Landgericht zugelassenen Revision möchte der Beklagte die
Aufhebung des Berufungsurteils und die vollständige Klageabweisung
erreichen.
Entscheidungsgründe:
6 Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur
Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
7 Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt,
dass es dahingestellt bleiben könne, ob der Beklagte oder der Zeuge H. im
Unfallzeitpunkt den Motorroller gesteuert habe. Sollte der Beklagte den
Motorroller unerlaubt dem Zeugen H. überlassen haben, hafte er entweder aus
§§ 603 Satz 2, 280 Abs. 1 BGB oder aus einer entsprechenden Anwendung dieser
Vorschriften, weil der Beklagte den Motorroller dem Zeugen ohne Erlaubnis
des Klägers überlassen habe. Zwischen den Parteien sei nämlich entweder ein
Leihvertrag geschlossen worden oder es liege ein Gefälligkeitsverhältnis
vor, in dessen Rahmen der Beklagte jedoch keine weitergehenden Befugnisse
haben könne, als der Entleiher. Deshalb sei bei der Annahme eines
Gefälligkeitsverhältnisses eine analoge Anwendung der §§ 603 Satz 2, 280
Abs. 1 BGB geboten.
II.
8 Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
9 1. Zwar ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass nach
der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Entleiher eines Fahrzeugs aus
positiver Vertragsverletzung für alle Schäden haftet, die adäquat -kausal
durch die unerlaubte Überlassung des Fahrzeugs an einen Dritten entstanden
sind (BGHZ 37, 306, 309 f.). Denn das Verschulden des Entleihers muss
sich bei der Verletzung der Pflicht aus § 603 Satz 2 BGB nur auf das eigene
vertragswidrige Verhalten und nicht auf den dadurch verursachten Schaden
beziehen (MünchKomm-BGB/Häublein 5. Aufl. § 603 Rdn. 4 m.w.N.).
10 2. Dieser zur vertraglichen Haftung bei der Leihe entwickelte
Rechtssatz kann jedoch nicht im Wege einer analogen Anwendung des § 603 Satz
2 BGB auf die Haftung bei einer Gebrauchsüberlassung aus Gefälligkeit
übertragen werden.
11 a) Voraussetzung für eine Analogie ist, dass das Gesetz eine planwidrige
Regelungslücke enthält und der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher
Hinsicht so weit mit dem Tatbestand vergleichbar ist, den der Gesetzgeber
geregelt hat, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer
Interessenabwägung, bei der er sich von denselben Grundsätzen hätte leiten
lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Gesetzesvorschrift, zu dem
gleichen Abwägungsergebnis gekommen (Senatsurteil vom 27. Januar 2010 - XII
ZR 22/07 - NJW 2010, 1065 Rdn. 21 m.w.N.). Diese Voraussetzungen liegen hier
nicht vor.
12 b) Zwar mag bei einer Gebrauchsüberlassung aus Gefälligkeit, wie vom
Berufungsgericht angenommen, die Interessenlage der Beteiligten mit der bei
einer Leihe vergleichbar sein, weil der Gefällige ebenso wie der Verleiher
ein Interesse daran hat, dass der Begünstigte mit der Sache sorgfältig
umgeht und sie ohne entsprechende Erlaubnis nicht an Dritte weitergibt.
Dies allein rechtfertigt jedoch eine analoge Anwendung des § 603 Satz 2 BGB
nicht. Es fehlt an einer planwidrigen Regelungslücke.
13 c) Von der Rechtsprechung (BGHZ
21, 102, 106 f.; BGH Urteil vom 9. Juni 1992 - VI ZR
49/91 - NJW 1992, 2474, 2475; OLG Stuttgart NJW 1971, 660, 661; OLG Koblenz
MDR 1999, 1509 und NJW-RR 2002, 595; OLG Karlsruhe Urteil vom 26. Februar
2003 - 17 U 121/02 - veröffentlicht bei juris Rdn. 15; OLG Frankfurt VersR
2006, 918 f.) und Teilen des Schrifttums (Palandt/Grüneberg BGB 69. Aufl.
Einl. vor § 241 Rdn. 8; Erman/Graf von Westphalen BGB 12. Aufl. vor § 598
Rdn. 2; Jauernig/Stadler BGB 13. Aufl. § 311 Rdn. 45; Jauernig/Mansel aaO §
598 Rdn. 5) wird eine vertragsähnlich ausgestaltete Haftung innerhalb
eines Gefälligkeitsverhältnisses grundsätzlich abgelehnt und der Geschädigte
mit seinen Ansprüchen allein auf das Deliktsrecht (§§ 823 ff. BGB)
verwiesen, weil ein ohne Rechtsbindungswillen der Beteiligten eingegangenes
Gefälligkeitsverhältnis eine an das Vertragsrecht angelehnte Haftung nicht
begründen könne.
14 Bei den Regelungen über die vertragliche Leihe handelt es sich um ein
vom Gesetzgeber besonders ausgestaltetes Vertragsverhältnis, das einen
beiderseitigen Verpflichtungswillen der Beteiligten voraussetzt und für
jeden Vertragsschließenden Rechte und Pflichten begründet und ausformt
(BGH Urteil vom 9. Juni 1992 - VI ZR 49/91 - NJW 1992, 2474, 2475 f.). Insbesondere
enthalten die Vorschriften über die Leihe umfassende Regelungen bezüglich
der Haftung von Verleiher und Entleiher, die ausgewogen die Besonderheiten
der unentgeltlichen Leihe berücksichtigen (vgl. §§ 599, 600, 602, 603, 606
BGB). Bei der Überlassung eines Gegenstandes im Rahmen eines bloßen
Gefälligkeitsverhältnisses fehlt den Beteiligten jedoch gerade der Wille,
sich rechtlich zu binden (BGH Urteil vom 9. Juni 1992 - VI ZR 49/91 - NJW
1992, 2474, 2475). Die Beteiligten entscheiden sich in diesem Fall dafür,
die Gebrauchsüberlassung nicht den gesetzlichen Bestimmungen über die Leihe
zu unterstellen. Folglich können einzelne Bestimmungen, die zur Gestaltung
dieses besonderen Vertragsverhältnisses beitragen, nicht auf ein dem
Deliktsrecht unterfallendes Gefälligkeitsverhältnis übertragen werden
(BGH Urteil vom 9. Juni 1992 - VI ZR 49/91 - NJW 1992, 2474, 2475 f.; OLG
Frankfurt VersR 2006, 918 f.; OLG Karlsruhe Urteil vom 26. Februar 2003 - 17
U 121/02 - veröffentlicht bei juris Rdn. 17, jeweils zur Frage der
Übertragung der kurzen Verjährungsfrist des § 606 BGB auf ein
Gefälligkeitsverhältnis; anders OLG Koblenz VRS 100, 85, 86 f. unter der
Annahme eines "leiheähnlichen Gefälligkeitsverhältnisses").
15 d) Eine planwidrige Regelungslücke als Voraussetzung für eine analoge
Anwendung des § 603 Satz 2 BGB besteht auch dann nicht, wenn man mit Teilen
des Schrifttums (vgl. Canaris JZ 2001, 499, 502; Staudinger/Reuter
(2005) Vorbem. zu §§ 598 ff. Rdn. 11 f.; MünchKomm-BGB/Kramer 5. Aufl. Einl.
Rdn. 42; AnwK-BGB/Krebs § 311 Rdn. 92; Grüneberg/Sutschat in Bamberger/ Roth
BGB § 311 Rdn. 50; Soergel/Kummer BGB (1997) vor § 598 Rdn. 5; Er-man/Kindl
BGB 12. Aufl. § 311 Rdn. 22; Hoppenz in Prütting/Wegen/Weinreich BGB 4.
Aufl. § 598 Rdn. 8; Gehrlein VersR 2000, 415 ff.) annimmt, dass
jedenfalls bei Gefälligkeitsverhältnissen mit rechtsgeschäftsähnlichem
Charakter (vgl. zu diesem Begriff Canaris JZ 2001, 499, 502), gegenseitige
Schutz- und Treuepflichten bestehen, deren Verletzung zu einer Haftung nach
vertraglichen Grundsätzen (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB)
führen kann (MünchKomm-BGB/Kramer 5. Aufl. Einl. Rdn. 42 und ausführlich
dazu Krebber VersR 2004, 150 ff.). Denn nach dieser Ansicht haften sowohl
der Gefällige als auch der Begünstigte für das Verschulden Dritter gemäß §
278 BGB (Münch-Komm-BGB/Kramer 5. Aufl. Einl. Rdn. 42; Soergel/Kummer
BGB (1997) vor § 598 Rdn. 5).
16 3. Für die Haftung des Begünstigten wegen der Beschädigung eines im
Rahmen eines Gefälligkeitsverhältnisses überlassenen und von diesem an einen
Dritten weitergegebenen Gegenstandes besteht daher keine planwidrige
Regelungslücke des Gesetzes, die durch die analoge Anwendung einzelner
Vorschriften aus dem Recht der Leihe geschlossen werden kann.
17 Demgemäß hätte das Berufungsgericht zunächst feststellen müssen, ob
zwischen den Parteien ein Leihvertrag oder ein bloßes
Gefälligkeitsverhältnis zustande gekommen ist (vgl. zur Abgrenzung
BGHZ
21, 102, 107). Nur wenn diese Prüfung ergeben hätte,
dass zwischen den Parteien ein Leihvertrag abgeschlossen worden ist, hätte
das Berufungsgericht seine Entscheidung auf § 603 Satz 2 BGB stützen können
und auf weitere Feststellungen zum konkreten Unfallhergang, insbesondere zu
der Frage, von wem der Roller im Unfallzeitpunkt gefahren wurde, verzichten
dürfen.
III.
18 Demgemäß ist die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das
Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO). Der Senat kann in der
Sache selbst nicht abschließend entscheiden, weil noch erforderliche
Feststellungen fehlen und das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstand-
punkt aus folgerichtig - sich nicht mit dem Berufungsangriff des Beklagten
befasst hat, der vorgetragen hat, dass die erstinstanzlichen
Tatsachenfeststellungen rechtsfehlerhaft getroffen worden seien, weil das
Amtsgericht den Beklagten nicht persönlich angehört habe (vgl. BGH Urteil
vom 30. Oktober 2007 - X ZR 101/06 - NJW 2008, 576 Rdn. 26 f.). Zudem wird
das Berufungsgericht zu prüfen haben, ob eine vertragliche Haftung des
Beklagten nicht möglicherweise daran scheitert, dass die Parteien zum
Zeitpunkt der Überlassung des Motorrollers noch minderjährig gewesen sein
könnten. |