Vorrang der
Individualabrede in AGB gem. § 305b BGB und Schriftformklauseln
BGH, Versäumnisurteil vom
21. September 2005 -XII ZR 312/02
Fundstelle:
NJW 2006, 138
BGHZ 164, 133
Amtl. Leitsatz:
Nachträgliche mündliche
Individualvereinbarungen haben auch vor Schriftformklauseln in
Formularverträgen über langfristige Geschäftsraummietverhältnisse Vorrang.
Zentrale Probleme:
Es geht um ein Klassikerproblem: Wenn die Parteien eines
Vertrags vereinbaren, dass Änderungen des Vertrags der Schriftform bedürfen
(rechtsgeschäftliches Formerfordernis i.S.v. § 127 BGB), so gestattet ihnen
die Privatautonomie ganz selbstverständlich, eine solche Vereinbarung auch
mündlich wieder aufzuheben. Tun sie dies nicht ausdrücklich, sondern
vereinbaren sie mündlich eine Vertragsänderung, so könnte darin zugleich
konkludent eine solche Aufhebung des Formerfordernisses liegen. Um sie zu
bejahen, müssen die Parteien also nicht nur die Vertragsänderung gewollt
haben, sondern zugleich auch den Willen gehabt haben, die Formabrede
aufzuheben. Dies ist ein Problem der Auslegung. Insoweit hilft die
Auslegungsregel des § 125 S. 2 BGB: Im Zweifel liegt keine solche
Aufhebung vor. Anders im AGB-Bereich: Da Individualabreden nach § 305b BGB
(früher: § 4 AGBG) vorgehen, liegt in einer mündlichen Vertragsänderung,
wenn sie denn wirklich gewollt ist, immer eine vor der in AGB enthaltenen
Schriftformklausel vorrangige Individualabrede vor. Auf einen
Aufhebungswillen bzgl. der Schriftformklausel kommt es - anders als im Fall
einer individuell vereinbarten Schriftform - gar nicht an, so dass auch § 125
S. 2 BGB erst gar nicht zum Zuge kommt.
S. auch BAG, Urteil vom 20. Mai 2008 - 9 AZR
382/07, ZIP 2008, 2035 sowie
BGH v. 25.1.2017 - XII ZR 69/16
©sl 2005
Tatbestand:
Der Kläger macht rückständige Miete geltend.
Er vermietete mit schriftlichem Vertrag vom 7. Oktober 1999 Geschäftsräume
zu einem monatlichen Mietzins von 2.900 DM zuzüglich MWSt an den Beklagten.
§ 21 Nr. 4 Satz 1 des Mietvertrages lautet:
"Nachträgliche Änderungen und
Ergänzungen dieses Vertrages gelten nur bei schriftlicher Vereinbarung."
In den Jahren 2000 und 2001 zahlte der
Beklagte lediglich eine reduzierte Miete mit der Begründung, die Parteien
hätten sich nachträglich auf eine monatliche Miete von 2.000 DM netto
geeinigt.
Das Landgericht hat den Beklagten zur Zahlung der aufgelaufenen Rückstände
in Höhe von 14.040 DM nebst Zinsen verurteilt. Die Berufung des Beklagten
ist mit Ausnahme eines geringfügigen Zinsbetrages ohne Erfolg geblieben.
Dagegen wendet sich der Beklagte mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen
Revision.
Entscheidungsgründe:
Gegen den im Verhandlungstermin nicht
erschienenen Kläger ist durch Versäumnisurteil zu entscheiden. Dieses beruht
jedoch inhaltlich nicht auf der Säumnis; es berücksichtigt den gesamten
Sach- und Streitstand (vgl. BGHZ 37, 79, 81 ff.).
Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils
und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.
1. Das Oberlandesgericht, dessen Entscheidung in OLGR Rostock 2003, 78
veröffentlicht ist, hat ausgeführt, die vom Beklagten behauptete
einvernehmliche Senkung der monatlichen Miete sei unwirksam, weil die
Parteien hierbei die in § 21 Nr. 4 Satz 1 des Mietvertrages vereinbarte
Schriftform nicht beachtet hätten. Diese gewillkürte Schriftform habe nicht
lediglich Beweisfunktion, sondern sei Wirksamkeitsvoraussetzung für die
Änderung des Mietvertrages. Der Wortlaut "gelten nur bei schriftlicher
Vereinbarung" sei eindeutig und lasse keine andere Auslegung zu.
Die im Mietvertrag der Parteien enthaltene vorformulierte Schriftformklausel
sei nicht unwirksam im Sinne des § 9 AGBG (nunmehr: § 307 BGB).
Schriftformklauseln seien nicht generell unangemessen, ihre Wirksamkeit
hänge vielmehr von der Ausgestaltung und dem Anwendungsbereich der konkreten
Klausel ab. Unangemessen könne die Klausel sein, wenn sie dazu diene, nach
Vertragsschluss getroffene individualvertragliche Vereinbarungen zu
unterlaufen, indem sie bei dem anderen Vertragsteil den Eindruck erwecke,
eine mündliche Abrede sei entgegen den allgemeinen Grundsätzen unwirksam.
Auch könne die Schriftformklausel nicht den Vorrang der Individualabsprache
abdingen; demgemäß könnten die Vertragsparteien sie dadurch außer Kraft
setzen, dass sie deutlich den Willen zum Ausdruck brächten, ihre mündliche
Abmachung solle ungeachtet der Schriftformklausel gelten.
Unter Beachtung dieses Grundsatzes sei bei der langfristigen Vermietung
gewerblich genutzter Immobilien, die in den Anwendungsbereich des § 566 BGB
a.F. (§ 550 BGB) falle, eine Schriftformklausel wirksam und benachteilige
den Vertragspartner des Verwenders nicht unangemessen. Von dem gesetzlichen
Leitbild entferne sie sich nicht wesentlich, denn § 566 Satz 1 BGB a.F.
schreibe ohnehin die Schriftform bei Vertragsänderungen und -ergänzungen
vor. Nur hinsichtlich der Folgen des Formverstoßes unterschieden sich die
gesetzliche und die in einem vorformulierten Mietvertrag ausbedungene
Schriftform. Wegen der erheblichen wirtschaftlichen Tragweite einer
langfristigen Immobilienvermietung sei der Schutz vor einer übereilten,
nicht hinreichend bedachten Vertragsänderung, etwa einer Erhöhung oder
Herabsetzung der Miete, in die Überlegung, inwieweit die Schriftformklausel
den Gegner des Verwenders benachteilige, einzubeziehen. Auch bei einem
Gewerberaummietvertrag sei nicht ersichtlich, dass die Schriftformklausel
einseitig die Interessen des Verwenders bezwecke. Wegen der langen Dauer
gewerblicher Mietverträge, auch wegen des nicht seltenen Wechsels einer
Partei, sei schließlich das Bedürfnis beider Seiten anzuerkennen, als
Vertragsinhalt nur gelten zu lassen, was schriftlich dokumentiert sei.
Überschnitten sich die gesetzlich vorgeschriebene und die in einem
Vertragsvordruck für eine Vertragsänderung ausbedungene Schriftform, so
könne nicht unterstellt werden, dass die Vertragsparteien gleichwohl die
Wirksamkeit des mündlich Vereinbarten wollten und die in dem Vertrag
enthaltene Schriftformabrede als überholt betrachteten. Den Verlust der
beiderseits gewollten langfristigen Bindung, der regelmäßig den Interessen
zumindest einer Partei, wenn nicht gar beider Parteien widerspreche, wolle
keine Partei in Kauf nehmen, zumal sie im Zeitpunkt der Vertragsänderung
nicht abschätzen könne, wem die ordentliche Kündbarkeit des
Mietverhältnisses nützen oder schaden werde. Letztlich sprächen gewichtige
Argumente für die Wirksamkeit der Schriftformklausel, die beide Parteien vor
der ungewollten Folge eines Formverstoßes bei einer mündlichen
Vertragsänderung schütze.
2. Die Entscheidung des Berufungsgerichts hält einer rechtlichen Nachprüfung
nicht stand.
Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass die Klausel, wonach
Änderungen und Ergänzungen der Schriftform bedürfen, von dem Grundsatz
abweicht, dass Individualvereinbarungen vorgehen und die Klausel deshalb
gegen das gesetzliche Leitbild verstößt. Diese Frage ist in der
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geklärt (BGH, Urteil vom 15. Februar
1995 -VIII ZR 93/94 -NJW 1995, 1488, 1489). Ob in den Fällen der
gesetzlichen Schriftform (§ 566 BGB a.F., § 550 BGB) etwas anderes zu gelten
hat, wie das Berufungsgericht meint, ist höchstrichterlich bisher nicht
entschieden. Das Berufungsgericht kann sich für seine Auffassung auf
Wolf/Eckert/Ball, Handbuch des gewerblichen Miet-, Pacht-und Leasingrechts
9. Aufl. Rdn. 142; Gerber/Eckert Gewerbliches Miet-und Pachtrecht 5. Aufl.
Rdn. 80; Erman/Roloff BGB 11. Aufl. § 305 b Rdn. 11 (einschränkend Fritz
Mietrecht 2. Aufl. Rdn. 48) und eine Entscheidung des Kammergerichts (MDR
2000, 1241) stützen (anderer Ansicht Schmidt-Futterer/Lammel Mietrecht 8.
Aufl. § 550 Rdn. 68; JURIS PK-BGB/Tonner § 550 Rdn. 17; Bub in Bub/Treier,
Handbuch der Geschäftsund Wohnraummiete, 3. Aufl. Kap. II 564 und Heile
daselbst Kap. II 776; Sternel Mietrecht 3. Aufl. Kap. I 210; Drettmann in
Graf von Westphalen, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Geschäftsraummiete
Rdn. 23).
a) Die Frage bedarf hier keiner Klärung, weil sie für die Entscheidung des
Falles nicht erheblich ist. Ist die Klausel unwirksam, dann konnten die
Parteien ohne weiteres nach Abschluss des Mietvertrages durch mündliche
Absprache den schriftlichen Mietvertrag ändern. Aber auch dann, wenn die
Klausel als wirksam angesehen wird, waren die Parteien nicht gehindert, nach
Abschluss des Mietvertrages die Klausel zu ändern. Der Vorrang der
Individualabsprache (§ 4 AGBG = § 305 b BGB) greift auch gegenüber einer
nach AGBG angemessenen Schriftformklausel (Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen
AGBG 9. Aufl. § 4 Rdn. 33; Lindacher in Wolf/Lindacher AGBG 4. Aufl. § 4 Rdn.
33).
Im Ausgangspunkt richtig geht auch das Berufungsgericht vom Vorrang einer
Individualvereinbarung (§ 4 AGBG, nunmehr § 305 b BGB) aus. Soweit es aber
meint, es könne nicht unterstellt werden, dass die Vertragsparteien -wenn
sie die Schriftform für Vertragsänderungen vereinbart haben, um die
beiderseitige langfristige Bindung nicht zu gefährden -gleichwohl die
Wirksamkeit des mündlich Vereinbarten wollen und die Schriftformabrede als
überholt betrachten, so kann ihm nicht gefolgt werden. Vereinbaren die
Parteien nach dem Abschluss eines Formularvertrages eine Änderung mittels
Individualabsprache, so hat diese Änderung Vorrang vor kollidierenden
Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Es kommt nicht darauf an, ob die Parteien
eine Änderung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen beabsichtigt haben oder
sich der Kollision mit den Allgemeinen Geschäftsbedingungen bewusst geworden
sind (BGH, Beschluß vom 20. Oktober 1994 -III ZR 76/94 -NJW-RR 1995,
179, 180; vgl. auch BGHZ 71, 162, 164). Ebenso wenig stellt § 4 AGBG
darauf ab, ob die Individualvereinbarung ausdrücklich oder stillschweigend
getroffen worden ist (BGH, Urteil vom 6. März 1986 -III ZR 234/84 -NJW
1986, 1807; Münch-Komm/Basedow BGB 4. Aufl. § 4 AGBG Rdn. 5). Den Vorrang
gegenüber Allgemeinen Geschäftsbedingungen haben individuelle
Vertragsabreden ohne Rücksicht auf die Form, in der sie getroffen worden
sind, somit auch dann, wenn sie auf mündlichen Erklärungen beruhen. Das gilt
auch dann, wenn durch eine AGB-Schriftformklausel bestimmt wird, dass
mündliche Abreden unwirksam sind (BGH, Beschluß vom 20. Oktober 1994 aaO;
MünchKomm/Basedow aaO § 4 AGBG Rdn. 11).
Der Vorrang der Individualvereinbarung muß auch dann gewahrt bleiben, wenn
man mit dem Berufungsgericht ein Interesse des Verwenders anerkennt, einem
langfristigen Mietvertrag nicht durch nachträgliche mündliche Abreden die
Schriftform zu nehmen und deshalb eine solche Klausel ausnahmsweise als
wirksam ansieht. Das gebieten Sinn und Zweck dieser Regelung. Der in § 4
AGBG niedergelegte Grundsatz besagt, dass vertragliche Vereinbarungen, die
die Parteien für den Einzelfall getroffen haben, nicht durch davon
abweichende Allgemeine Geschäftsbedingungen durchkreuzt, ausgehöhlt oder
ganz oder teilweise zunichte gemacht werden können. Er beruht auf der
Überlegung, dass Allgemeine Geschäftsbedingungen als generelle Richtlinien
für eine Vielzahl von Verträgen abstrakt vorformuliert und daher von
vornherein auf Ergänzung durch die individuelle Einigung der Parteien
ausgelegt sind. Sie können und sollen nur insoweit Geltung beanspruchen, als
die von den Parteien getroffene Individualabrede dafür Raum lässt (MünchKomm/Basedow
aaO Rdn. 1). Wollen die Parteien ernsthaft - wenn auch nur mündlich -
etwas anderes, so kommt dem der Vorrang zu.
Das Interesse des Klauselverwenders oder gar beider Vertragsparteien, nicht
durch nachträgliche mündliche Absprachen die langfristige beiderseitige
Bindung zu gefährden, muss gegenüber dem von den Parteien später
übereinstimmend Gewollten zurücktreten. Es kommt auch nicht darauf an, ob
die Parteien bei ihrer mündlichen Absprache an die entgegenstehende Klausel
gedacht haben und sich bewusst über sie hinwegsetzen wollten (so aber
Wolf/Eckert/Ball aaO Rdn. 143). Ein bewusstes Abweichen von einer
Schriftformklausel hat der Bundesgerichtshof lediglich gefordert, wenn von
einer so genannten qualifizierten Schriftformklausel, die individuell
vereinbart war, abgewichen wurde, weil in solchen Fällen der Vorrang der
Individualvereinbarung nach § 4 AGBG keine Anwendung findet, sondern die
individuell vereinbarte qualifizierte Schriftformklausel erst abgeändert
werden muß (BGHZ 66, 378, 381 f.).
Allerdings obliegt der Beweis einer solchen mündlichen Abrede demjenigen,
der sich auf sie beruft. Er muss die Vermutung widerlegen, dass keine von
den Allgemeinen Geschäftsbedingungen abweichenden Absprachen getroffen
worden sind (MünchKomm/Basedow aaO § 4 AGBG Rdn. 8).
b) Danach kann die Entscheidung des Berufungsgerichts keinen Bestand haben.
Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass der Beklagte seine Behauptung,
die Parteien hätten nachträglich die Miete auf 2.000 DM monatlich reduziert,
nicht nachgewiesen habe. Der Beklagte hat die Beweiswürdigung mit der
Berufung angegriffen und für seine Behauptung einer nachträglichen
Reduzierung der Miete einen weiteren Zeugen angeboten. Mit seiner
Auffassung, es könne nicht unterstellt werden, dass die Parteien das
mündlich Vereinbarte gewollt haben, weil keine Partei den Verlust der
langfristigen Bindung in Kauf nehmen wolle, unterstellt das Berufungsgericht
seinerseits einen Parteiwillen, ohne die vom Beklagten angebotenen Beweise
zu erheben und zu würdigen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts
kommt es nicht darauf an, was die Parteien gewollt hätten, falls sie die
rechtlichen Folgen einer mündlichen Absprache gekannt hätten, sondern was
sie tatsächlich gewollt haben. Wollten die Parteien ernsthaft eine
Reduzierung der Miete, dann ist diese Vereinbarung auch dann wirksam, wenn
mit der Vereinbarung die langfristige Bindung verloren geht. Das
Berufungsgericht wird deshalb gegebenenfalls auch den angebotenen Zeugen
vernehmen und eine Beweiswürdigung vornehmen müssen, ob die behauptete
Absprache erfolgt ist. |