Sittenwidrigkeit einer Schenkung bei Verursachung
oder Kenntnis einer Zwangslage; Wissenszurechnung analog § 166 BGB;
Voraussetzung eines Inhaltsirrtums nach § 119 Abs. 1 BGB
BGH, Urteil vom 15. November 2022 - X ZR 40/20 - OLG
Frankfurt am Main
Fundstelle:
noch nicht bekannt für
BGHZ vorgesehen
Amtl. Leitsatz:
Ist der Schenker aufgrund einer objektiven oder
subjektiven Zwangslage zur Schenkung veranlasst worden, kann der Vorwurf der
Sittenwidrigkeit nicht nur solche Personen treffen, die diese Zwangslage
herbeigeführt haben. Vielmehr kann es ausreichen, wenn der
Zuwendungsempfänger sich eine bestehende Zwangslage bewusst zu Nutze macht.
Zentrale Probleme:
Wieder mal ein Fall, in dem ein alter Mensch offenbar von
seiner Verwandtschaft unter Ausnutzung seiner Willensschwäche dazu gebracht
werden sollte, Vermögen zu übertragen (s. dazu bereits BGH, Urteil vom 26. April 2022 - X ZR 3/20).
Der Senat legt im Einzelnen die Voraussetzungen von § 138 Abs. 1 BGB dar.
Über BGH, Urteil vom 26. April 2022 - X ZR 3/20
hinaus ist von Interesse, dass sich Begünstigte, welche die Zwangslage nicht
selbst herbeigeführt haben, analog § 166 BGB das Wissen einer Person
zurechnen lassen müssen, welche für sie die Verhandlungen führt.
©sl 2022
Tatbestand:
1 Der im Jahr 1922 geborene Kläger schenkte den beiden Beklagten
- seinen Enkeln - mit notariell beurkundetem Vertrag vom 13. Juni 2017
Wertpapiere im Wert von jeweils 219.000 Euro. Zu einer Übertragung
der Wertpapiere kam es in der Folgezeit nicht.
2 Ebenfalls am
13. Juni 2017 übertrug der Kläger seinem Sohn - dem Vater der Beklagten -
das Eigentum an einem Mehrfamilienhaus in B. .
3 Mit
Schreiben vom 15. August 2017 erklärte der Kläger gegenüber den Beklagten
die Anfechtung des mit ihnen abgeschlossenen Schenkungsvertrags aus allen
rechtlich vorgesehenen Gründen.
4 Das Landgericht hat die
auf Feststellung der Nichtigkeit des Schenkungsvertrags mit den Beklagten
gerichtete Klage abgewiesen. Die dagegen eingelegte Berufung hat das
Berufungsgericht durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen.
5 Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein
Begehren weiter. Die Beklagten treten dem Rechtsmittel entgegen.
Entscheidungsgründe:
6 Die zulässige Revision ist
begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur
Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
7 I. Das
Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
8 Der Schenkungsvertrag sei nicht aufgrund der Anfechtung nichtig.
Der Kläger zeige nicht auf, dass und welches Übel ihm in Aussicht gestellt
worden sei, um ihn zu einer Schenkung zu veranlassen. Das Verhalten des
Vaters der Beklagten sei insofern ohne Relevanz.
9 Der
Schenkungsvertrag sei auch nicht wegen der Ausnutzung einer erheblichen
Willensschwäche des Klägers sittenwidrig. Die Rechtsordnung billige jedem
geschäftsfähigen Menschen die Entscheidung zu, Teile seines Vermögens zu
verschenken. Dies gelte auch dann, wenn der Begünstigte derartige
Zuwendungen an sich wünsche. Für die Frage, ob ein solches Geschäft im
Einzelfall dennoch dem Unwerturteil des § 138 Abs. 1 BGB unterfalle, seien
in erster Linie die Motive des Begünstigten bzw. die von ihm verfolgten
Zwecke und die Art und Weise seines Vorgehens maßgeblich sowie etwa die
Persönlichkeitsstruktur des Zuwendenden, soweit dieser nicht oder kaum in
der Lage sei, sich bedrängenden Wünschen der Zuwendungsempfänger zu
entziehen. Hierfür seien im Streitfall keine belastbaren Anhaltspunkte
vorgetragen.
10 II. Dies hält der revisionsrechtlichen Überprüfung
in einem entscheidenden Punkt nicht stand. 11 1. Das Berufungsgericht
hat allerdings zu Recht die Voraussetzungen für eine Anfechtung des
Schenkungsvertrags verneint.
12 a) Dem Vortrag des Klägers
ist nicht zu entnehmen, dass die Beklagten oder deren Vater den Abschluss
der Schenkungsverträge durch Drohung mit einem empfindlichen Übel im Sinne
von § 123 Abs. 1 BGB veranlasst haben.
13 b) Die
Voraussetzungen eines Inhaltsirrtums im Sinne von § 119 Abs. 1 BGB
sind ebenfalls nicht erfüllt.
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Für einen Inhaltsirrtum in diesem Sinne reicht es nicht aus, wenn eine
Willenserklärung abgegeben wird, deren Inhalt der Erklärende nicht kennt
oder nicht versteht. Erforderlich ist vielmehr, dass der Erklärende eine
bestimmte, vom tatsächlichen Inhalt abweichende Vorstellung hatte
(vgl. dazu BGH, Beschluss vom 30. Oktober 2013 - V ZB 9/13, NJW 2014, 1242
Rn. 8; Urteil vom 27. Oktober 1994 - IX ZR 168/93, NJW 1995, 190, juris Rn.
19; BAG, NJW 1971, 639, juris Rn. 22).
15 Letzteres ist dem
Klagevortrag nicht zu entnehmen.
16 2. Eine Nichtigkeit des
Schenkungsvertrags wegen Sittenwidrigkeit lässt sich mit der vom
Berufungsgericht gegebenen Begründung hingegen nicht verneinen.
17 a) Ein Rechtsgeschäft ist sittenwidrig im Sinne von § 138 Abs. 1 BGB,
wenn es nach seinem Inhalt oder Gesamtcharakter gegen das Anstandsgefühl
aller billig und gerecht Denkenden verstößt.
18 Verstößt das
Rechtsgeschäft nicht bereits seinem Inhalt nach gegen die grundlegenden
Wertungen der Rechts- oder Sittenordnung, muss ein persönliches Verhalten
des Handelnden hinzukommen, das diesem zum Vorwurf gemacht werden kann (BGH,
Urteil vom 16. Juli 2019 - II ZR 426/17, NJW 2019, 3635 Rn. 24).
Hierbei ist
der aus der Zusammenfassung von Inhalt, Zweck und Beweggrund zu entnehmende
Gesamtcharakter des Verhaltens maßgeblich (BGH, Urteil vom 4. Juni 2013 - VI
ZR 288/12, NJW-RR 2013, 1448 Rn. 14). Je nach Einzelfall kann sich die
Sittenwidrigkeit bereits aus einem dieser Elemente oder aus einer
Kombination mehrerer Elemente und deren Summenwirkung ergeben (BGH, Urteil
vom 2. Februar 2012 - III ZR 60/11, MDR 2012, 333 Rn. 20;
Urteil vom 26.
April 2022 - X ZR 3/20, NJW 2022, 3147 Rn. 32).
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Die
Sittenwidrigkeit eines unentgeltlichen Geschäfts gemäß § 138 Abs. 1 BGB kann
sich nicht nur aus Motiven des Zuwendenden ergeben, sondern auch und sogar
in erster Linie aus den Motiven des Zuwendungsempfängers. So kann es sich um
einen Fall handeln, in dem aus fremder Bedrängnis in sittenwidriger Weise
Vorteile gezogen werden. Hierfür kann von Bedeutung sein, ob der Schenker
sich den Wünschen des Beschenkten aufgrund seiner
Persönlichkeitsstruktur nicht oder kaum hätte entziehen können, ob der
Beschenkte dies wusste oder sich einer derartigen Erkenntnis leichtfertig
verschloss und ob er die fehlende oder geschwächte Widerstandskraft des
Schenkers eigensüchtig ausgenutzt oder es sogar darauf angelegt hat (BGH,
Urteil vom 4. Juli 1990 - IV ZR 121/89, FamRZ 1990, 1343, juris Rn. 14).
In
diesem Zusammenhang können die in § 138 Abs. 2 BGB besonders hervorgehobenen
Gesichtspunkte insbesondere im Hinblick auf das Verhalten des
Zuwendungsempfängers auch im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB von Bedeutung sein
(BGH, Urteil vom 26. April 2022 - X ZR 3/20, NJW 2022, 3147 Rn. 33).
Es
handelt sich um einen Nichtigkeitsgrund, der gegebenenfalls auch die (bloße)
Anfechtbarkeit nach § 123 Abs. 1 BGB überlagert, weil nicht die Drohung mit
einem künftigen Übel, sondern die Ausnutzung der vorhandenen Zwangslage im
Vordergrund steht oder hinzutritt (BGH, Urteil vom 22. Januar 1991 - VI ZR
107/90, NJW 1991, 1046, juris Rn. 15).
20 Ist der Schenker aufgrund einer objektiven oder
subjektiven Zwangslage zur Schenkung veranlasst worden, kann der Vorwurf der
Sittenwidrigkeit nicht nur solche Personen treffen, die diese Zwangslage
herbeigeführt haben. Vielmehr kann es ausreichen, wenn der
Zuwendungsempfänger sich eine bestehende Zwangslage bewusst zu Nutze macht. Diese Voraussetzungen können auch dann gegeben sein, wenn der
Zuwendungsempfänger den Schenkungsvertrag abschließt, obwohl er weiß, dass
der Schenker aufgrund einer solchen Zwangslage handelt. Hat eine der
Vertragsparteien die Verhandlungsführung und den Vertragsschluss vollständig
einer mit der Sachlage allein vertrauten Hilfsperson überlassen, muss er
sich deren Wissen auch im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB entsprechend § 166
Abs. 1 BGB zurechnen lassen (zu letzterem BGH, Urteil vom 8. November 1991 -
V ZR 260/90, NJW 1992, 899, juris Rn. 18).
21 b) Das Berufungsgericht hat
die vom Kläger vorgetragenen Gesichtspunkte, die für die Beurteilung dieser
Frage von Bedeutung sind, nicht vollständig berücksichtigt.
22 aa) Im Ansatz
zutreffend hat das Berufungsgericht den Vortrag, die Beklagte zu 1 und deren
Vater hätten den Kläger vor der Beurkundung des Schenkungsvertrags mehrere
Monate lang intensiv überwacht und weitgehend isoliert, für sich gesehen als
nicht ausreichend angesehen.
23 bb) Das Berufungsgericht hätte in diesem
Zusammenhang jedoch zusätzlich den Vortrag berücksichtigen müssen, der Vater
der Beklagten habe den Kläger am Abend vor der Beurkundung des
Schenkungsvertrags über längere Zeit hinweg "bearbeitet" und am nächsten
Morgen in Begleitung der Beklagten zum Notar gefahren, wo ihm erstmals der
Inhalt der abzuschließenden Verträge mitgeteilt worden sei.
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Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist dieser Vortrag nicht
ohne weiteres als inhaltsleer zu bewerten. Er lässt es vielmehr als möglich
erscheinen, dass der Kläger den Schenkungsvertrag zugunsten der Beklagten
abgeschlossen hat, um der zuvor bestehenden, von ihm als Überwachung und
Isolation empfundenen Situation, die aufgrund vermeintlichen
Entscheidungszwangs in dem zuvor nicht angekündigten Notartermin eine akute
Zuspitzung gefunden hatte, zu entkommen.
25 cc) In diesem Zusammenhang
kann ferner das vom Kläger behauptete Geschehen unmittelbar nach der
notariellen Beurkundung als Indiz von Bedeutung sein.
26 Für die
Beurteilung der Sittenwidrigkeit eines Vertrags sind unmittelbar zwar nur
die Umstände relevant, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses vorlagen
(vgl. nur BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 - VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798 Rn.
31). Gleichwohl können im Zeitablauf nachfolgende Umstände eine
indizielle Bedeutung gewinnen.
27 Dem Vortrag des Klägers, er habe
sich unmittelbar nach dem Notartermin gegenüber dem Mitarbeiter der die
Wertpapiere verwahrenden Bank in einer Weise verhalten, dass dieser den
seitens der Beklagten angestrebten Vollzug der Übertragung verhindert habe,
kann eine solche Indizwirkung zukommen. Das vorgetragene Verhalten könnte
darauf hindeuten, dass der Kläger den Schenkungsvertrag nur deshalb
abgeschlossen hat, weil er die Situation im Notartermin als besonders
bedrängend empfunden und anders als im nachfolgenden Banktermin keinen
Ausweg mehr gesehen hat, um sich dieser subjektiven Zwangslage entziehen zu
können.
28 dd) Angesichts dessen hätte das Berufungsgericht sich mit
dem aufgezeigten Vortrag im Zusammenhang befassen und auf dieser Grundlage
in tatrichterlicher Würdigung entscheiden müssen, ob die Schenkungsverträge
mit den Beklagten auf einer vom Kläger als bedrohlich empfundenen Zwangslage
beruhen und ob die Beklagten dies wussten oder sich diesbezügliche
Kenntnisse ihres Vaters hätten zurechnen lassen müssen. Hierbei hätte das
Berufungsgericht sich auch mit der Frage befassen müssen, ob der Kläger
aufgrund seines hohen Alters die Situation als besonders belastend empfunden
hat.
29 III. Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif (§
563 Abs. 3 ZPO). Sie ist deshalb an das Berufungsgericht zurückzuverweisen
(§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
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