IPR/ZPO: Ermittlung ausländischen Rechts im
Zivilprozess (§ 293 ZPO); Revisibilität
BGH, Urteil vom 14. Januar 2014 - II
ZR 192/13 - LG Dresden
Fundstelle:
NJW 2014, 1244
Amtl. Leitsatz:
Der Tatrichter darf sich bei
der Ermittlung ausländischen Rechts nicht auf die Heranziehung der
Rechtsquellen beschränken, sondern muss auch die konkrete Ausgestaltung des
Rechts in der ausländischen Rechtspraxis, insbesondere die ausländische
Rechtsprechung, berücksichtigen.
Zentrale Probleme:
Es geht um die Pflicht zur Ermittlung ausländischen
Rechts und deren Revisibilität nach § 293 ZPO (ab Tz. 38).
S. dazu die Anm. zu BGH NJW 2003, 2685 sowie zu
BGH v. 19.7.2011 - VI ZR 217/10.
Zwar ist die Anwendung ausländischen Rechts nach neuester Rechtsprechung des
BGH trotz der Änderung von § 545 ZPO nicht revisibel (s.
BGH
NJW 2013, 3656), jedoch kann nach § 293 ZPO gerügt werden, dass
der Tatrichter das ausländische Recht nicht mit der hinreichenden
Genauigkeit ermittelt hat. Das war hier der Fall.
©sl 2014
Tatbestand:
1 Der Beklagte war von Juni bis August
2008 Geschäftsführer der R. GmbH. In diesem Zeitraum führte er
Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung in Höhe von 789,98 € nicht an die
für den Einzug zuständige Klägerin ab. Mit ihrer am 2. September 2010
zugestellten Klage verlangt die Klägerin vom Beklagten Zahlung von 789,98 €
und die Feststellung, dass die Forderung auf einer vorsätzlich begangenen
unerlaubten Handlung beruhe.
2 Über das Vermögen des Beklagten war in England am 22. Februar 2010 das
Insolvenzverfahren eröffnet worden. Die Klägerin meldete ihre Forderung als
„claim in tort" an. Am 22. Februar 2011 erlangte der Beklagte eine
Restschuldbefreiung.
3 Die Klägerin ist der Auffassung, nach sec. 281 (3) des englischen
Insolvency Act 1986 (im Folgenden: IA 1986) werde der von ihr geltend
gemachte Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB, § 266a Abs. 1, § 14
Abs. 1 Nr. 1 StGB von der Restschuldbefreiung nicht erfasst.
4 Sec. 281 (3) IA 1986 lautet (zitiert nach
www.legislation.gov.uk): ..Discharge does not release the
bankrupt from any bankruptcy debt which he incurred in respect of, or
forbearance in respect of which was secured by means of, any fraud or
fraudulent breach of trust to which he was a party."
5 Das Amtsgericht hat die Klage als unzulässig abgewiesen. Das
Berufungsgericht hat beim Max-Planck-Institut für ausländisches Recht die
Kosten eines Gutachtens zum englischen Recht erfragt (ca. 3.500 - 4.000 €),
sich dann aber darauf beschränkt, nach dem Europäischen Übereinkommen vom 7.
Juni 1968 betreffend Auskünfte über ausländisches Recht (BGBl 1974 II S. 937
ff., sog. Londoner Übereinkommen) eine Auskunft des Foreign & Commonwealth
Office, handelnd durch das Department for Business Innovation & Skills,
London, einzuholen. Sodann hat es die Berufung der Klägerin mit der Maßgabe
zurückgewiesen, dass die Zahlungsklage nicht als unzulässig, sondern als
unbegründet abgewiesen werde. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen
Revision verfolgt die Klägerin ihre Klageanträge weiter.
Entscheidungsgründe:
6 Die Revision hat Erfolg und führt unter Aufhebung des
angefochtenen Urteils zur Zurückverweisung der Sache an das
Berufungsgericht.
7 I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt
begründet:
8 Die Zahlungsklage sei zwar zulässig. Der geltend gemachte Ersatzanspruch
wegen Vorenthaltens von Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung falle
jedoch nicht unter sec. 281 (3) IA 1986, eine Vorschrift, die nach Art. 4
Abs. 2 Satz 2 Buchst. k EuInsVO hier anzuwenden sei. Derartige Forderungen
erfüllten nicht ausnahmslos die Voraussetzungen der sec. 281 (3) IA 1986. Es
müsse vielmehr eine betrügerische Absicht oder eine untreueähnliche Handlung
hinzukommen. Diese Voraussetzungen seien hier nicht gegeben. Der Anspruch
der Klägerin werde daher von der Restschuldbefreiung erfasst.
9 Die Feststellungsklage sei unzulässig. Für die begehrte Feststellung stehe
zwar das normale Klageverfahren zur Verfügung. Es fehle aber angesichts der
Restschuldbefreiung am Rechtsschutzbedürfnis.
10 II. Diese Ausführungen sind nicht frei von Rechtsfehlern.
11 1. Zu Recht hat das Berufungsgericht allerdings angenommen, dass die
Klage zulässig ist. Das englische Insolvenzverfahren ist nach der
Feststellung des Berufungsgerichts mittlerweile beendet. Damit war der
Beklagte zum maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen
Verhandlung in der Tatsacheninstanz (vgl. BGH, Urteil vom 11. August 2010 -
XII ZR 181/08, BGHZ 187, 10 Rn. 7) prozessführungsbefugt.
12 2. Ohne Rechtsfehler ist das Berufungsgericht weiter davon ausgegangen,
dass sich aus dem Vortrag der Klägerin ein Anspruch der Klägerin gegen den
Beklagten aus § 823 Abs. 2 BGB, § 266a Abs. 1, § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB auf
Schadensersatz wegen Vorenthaltens von Arbeitnehmerbeiträgen zur
Sozialversicherung ergeben kann, dass dieser Anspruch aber nicht
durchsetzbar ist, wenn die Klageforderung von der zugunsten des Beklagten in
England eingetretenen Restschuldbefreiung erfasst wird. Diese Frage ist, wie
das Berufungsgericht ebenfalls zutreffend gesehen hat, von den deutschen
Gerichten nach Art. 4 Abs. 2 Satz 2 Buchst. k EuInsVO unter Anwendung des
englischen Rechts zu beantworten (vgl. Mehring, ZInsO 2012, 1247, 1252 f.;
Priebe, ZInsO 2012, 2074, 2081; Uhlenbruck/Lüer, InsO, 13. Aufl., Art. 4
EuInsVO Rn. 59).
13 3. Das Berufungsgericht hat aber bei der Feststellung des
englischen Rechts die dafür einschlägige Rechtsnorm des § 293 ZPO verletzt.
Danach ist das Gericht bei der Ermittlung ausländischen Rechts befugt, aber
auch verpflichtet, geeignete Erkenntnisquellen unabhängig von den
Beweisantritten der Parteien zu nutzen und zu diesem Zweck das Erforderliche
anzuordnen. Diesem Gebot ist das Berufungsgericht nicht in ausreichendem Maß
nachgekommen, was die Revision zu Recht rügt.
14 a) Ausländisches Recht ist zwar auch nach der Neufassung des §
545 Abs. 1 ZPO durch das FGG-Reformgesetz vom 17. Dezember 2008 (BGBl I S.
2585) nicht revisibel (BGH, Beschluss vom
4. Juli 2013 - V ZB 197/12, ZIP 2013, 2173 Rn. 15 ff.; offen gelassen
noch von BGH, Beschluss vom 3. Februar 2011 - V ZB 54/10, BGHZ 188, 177 Rn.
14; Urteil vom 12. November 2009 - Xa ZR 76/07, NJW 2010, 1070 Rn. 21;
anders BAG, Urteil vom 10. April 1975, WM 1976, 194, juris Rn. 38 f. für §
73 Satz 1 ArbGG). Im vorliegenden Zusammenhang geht es aber nicht in erster
Linie darum, ob die Auslegung von sec. 281 (3) IA 1986 durch das
Berufungsgericht zutreffend ist. Das Verfahren des Berufungsgerichts
leidet vielmehr an dem Mangel, dass sich das Berufungsgericht keine
ausreichenden Informationen über das englische Recht verschafft hat, um
dieses Recht auslegen und anwenden zu können.
15 b) Nach § 293 ZPO hat der Tatrichter ausländisches Recht von Amts
wegen zu ermitteln. Wie er sich diese Kenntnis verschafft, liegt in seinem
pflichtgemäßen Ermessen. Jedoch darf sich die Ermittlung des fremden Rechts
nicht auf die Heranziehung der Rechtsquellen beschränken, sondern muss auch
die konkrete Ausgestaltung des Rechts in der ausländischen Rechtspraxis,
insbesondere die ausländische Rechtsprechung, berücksichtigen. Der
Tatrichter ist gehalten, das Recht als Ganzes zu ermitteln, wie es sich in
Lehre und Rechtsprechung entwickelt hat. Er muss dabei die ihm zugänglichen
Erkenntnisquellen ausschöpfen (BGH, Urteil
vom 23. Juni 2003 - II ZR 305/01, NJW 2003, 2685, 2686 mwN). Vom
Revisionsgericht wird insoweit lediglich überprüft, ob der Tatrichter sein
Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt, insbesondere sich anbietende
Erkenntnisquellen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls
hinreichend ausgeschöpft hat (BGH, Beschluss vom
30. April 2013 - VII ZB 22/12, WM 2013, 1225 Rn. 39).
16 Danach durfte sich das Berufungsgericht nicht mit der Auskunft des
Foreign & Commonwealth Office vom 9. August 2012 zufriedengeben. Denn diese
Auskunft beantwortet die gestellte Frage nicht erschöpfend, und es ist nicht
auszuschließen, dass eine umfassendere Auskunft aufgrund einer Nachfrage bei
der englischen Behörde oder auf anderem Wege hätte herbeigeführt werden
können.
17 Auf die Frage, ob Forderungen wegen vorsätzlicher Vorenthaltung von
Sozialversicherungsbeiträgen der Vorschrift in sec. 281 (3) IA 1986
unterfallen, hat das Foreign & Commonwealth Office folgende Antwort gegeben:
„If the debtor has committed fraud in relation to social insurance
contributions then this may fall under section 281 (3) IA 1986. A
fraudulently intention not to pay social insurance may fall within section
281 (3) but this would depend on the circumstances. The fraudulent element
would need to (be) proved."
18 Die vom Berufungsgericht veranlasste Übersetzung lautet wie folgt:
„Hat der Konkursschuldner Sozialversicherungsbeiträge unterschlagen, so kann
das unter sec. 281 (3) IA fallen. In betrügerischer Absicht nicht gezahlte
Sozialversicherung kann unter sec. 281 (3) IA fallen, das hängt jedoch von
den Umständen ab. Die betrügerische Absicht muss nachgewiesen werden."
19 Damit soll sich der Anwendungsbereich von sec. 281 (3) IA 1986 danach
richten, ob der Insolvenzschuldner mit der Nichtabführung von
Sozialversicherungsbeiträgen einen "fraud" begangen hat oder ob er dabei
eine "fraudulently intention" hatte. Diese Begriffe sind aber ihrerseits
auslegungsbedürftig. Weiter kann für die Anwendbarkeit der Norm auch der
Begriff "fraudulent breach of trust" in sec. 281 (3) IA 1986 von Bedeutung
sein. Angesichts dessen wäre die erteilte Auskunft nur dann ausreichend,
wenn auch der Sinn dieser Begriffe nach dem englischen Rechtsverständnis
erklärt und insbesondere erläutert worden wäre, von welchen Umständen ("circumstances")
die Anwendbarkeit von sec. 281 (3) IA 1986 darüber hinaus abhängt.
20 c) Das Berufungsgericht konnte von einer ausreichenden Ermittlung des
ausländischen Rechts auch nicht deshalb ausgehen, weil die Klägerin selbst
angeregt hatte, ein Vorgehen nach dem Londoner Übereinkommen zu prüfen, und
weil sie nach Vorlage der Auskunft nicht eine Ergänzung oder ein
Sachverständigengutachten beantragt hat, wie die Revisionserwiderung unter
Bezugnahme auf § 295 ZPO geltend macht. Nicht das Vorgehen nach dem
Londoner Übereinkommen war fehlerhaft, sondern allein der Umstand, dass sich
das Berufungsgericht mit der erteilten Auskunft zufriedengegeben hat.
Dieser Verfahrensfehler ergab sich aber erst aus dem Urteil.
21 III. Damit ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das
Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit die noch erforderlichen
Feststellungen getroffen werden können.
22 Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
23 1. Das Berufungsgericht wird bei der Feststellung und Anwendung des
englischen Rechts zu berücksichtigen haben, dass nach § 266a Abs. 1 StGB das
Vorenthalten von Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung - anders als
die Einbehaltung sonstiger Teile des Arbeitsentgelts unter den
Voraussetzungen des § 266a Abs. 2 StGB - kein untreueähnliches Verhalten des
Arbeitgebers voraussetzt, sondern die Strafbarkeit allein der finanziellen
Sicherung der Sozialversicherung dient, und dass in diesem Zusammenhang die
Vorenthaltung von Arbeitnehmeranteilen besonders verwerflich ist, weil der
Arbeitgeber insoweit die Möglichkeit zum Lohnabzug gegenüber dem
Arbeitnehmer hat, der Arbeitgeber also wirtschaftlich letztlich nicht
belastet wird (BGH, Urteil vom 16. Mai 2000 - VI ZR 90/99, BGHZ 144, 311,
317 ff.).
24 2. Das Berufungsgericht kann wegen der Unklarheit der Auskunft
beim Foreign & Commonwealth Office nachfragen. Wenn die Nachfrage nicht
erschöpfend beantwortet werden sollte, kommt die Einholung eines
Sachverständigengutachtens in Betracht. Dass ein Gutachten ein Vielfaches
des Streitwerts kosten wird, ist allein noch kein Grund, davon Abstand zu
nehmen.
25 3. Gegebenenfalls wird sich das Berufungsgericht erneut mit der Frage
auseinandersetzen müssen, ob eine Befreiung des Insolvenzschuldners von
etwaigen Ansprüchen wegen Vorenthaltens von Arbeitnehmeranteilen zur
Sozialversicherung nach sec. 281 (3) IA 1986 wegen Verstoßes gegen den
deutschen Ordre public nach Art. 26 EuInsVO unwirksam ist. Dabei wird es zu
beachten haben, dass insoweit Zurückhaltung geboten ist. Die deutsche
öffentliche Ordnung ist nur verletzt, wenn das Ergebnis der Anwendung
ausländischen Rechts zu den Grundgedanken der deutschen Regelungen und den
in ihnen enthaltenen Gerechtigkeitsvorstellungen in so starkem Widerspruch
steht, dass dies nach inländischen Vorstellungen untragbar erscheint (BGH,
Beschluss vom 18. September 2001 - IX ZB 51/00, ZIP 2002, 365, 367; EuGH,
ZIP 2006, 907 Rn. 63 f. - Eurofood). Dieser Grundsatz erstreckt sich auch
auf die Fälle der erleichterten Restschuldbefreiung im Ausland (MünchKommInsO/Reinhart,
4. Aufl., Art. 26 EuInsVO Rn. 1, 16; Renger, Wege zur Restschuldbefreiung
nach dem Insolvency Act 1986, 2012, S. 210 ff.; Koch, in: Festschrift Jayme,
2004, S. 437, 443; Mehring, ZInsO 2012, 1247, 1251).
|