Sittenwidrigkeit von Bürgschaften bei beeinträchtigter Entscheidungsfreiheit
und wirtschaftlicher Überforderung (Arbeitnehmerbürgschaft)
BGH, Urteil vom 14.
Oktober 2003
- XI ZR 121/02
Fundstelle:
NJW 2004, 161
BGHZ 156, 302
Zentrale Probleme:
Es geht wieder einmal um das
"Klassikerproblem" der Sittenwidrigkeit von Bürgschaften. Anders als in den
meisten Fällen handelt es sich aber nicht um die Mithaftung eines nahen
Angehörigen, sondern eines Arbeitnehmers. Der BGH legt dabei die Grundlagen
der mittlerweile stark ausdifferenzierten Rspr. zur Sittenwidrigkeit bei
wirtschaftlicher Überforderung dar (s. dazu zuletzt auch
BGH NJW 2002, 2634).
Danach beruht das Verdikt der Sittenwidrigkeit immer auf zwei
Grundsatzkomponenten: Krasse finanzielle Überforderung sowie das
Hinzutreten "weiterer belastender Umstände". Bei den Angehörigenbürgschaften
ist dies meist die Ausnutzung emotionaler Verbundenheit, welche die Rspr.
sogar vermutet (s. etwa BGH NJW 2001, 815 = BGHZ
146, 37). Bei Arbeitnehmern besteht, wie der BGH hier darlegt, eine
solche Vermutung nicht (ebenso bereits für die Mithaftung von
Gesellschaftern und Geschäftsführern, s. etwa
BGH NJW 2002, 1337 und BGH NJW 2003, 967).
Der Mithaftende hat dann zu beweisen, daß "weitere belastende Umstände"
vorlagen, er sich also nur aus einer Zwangslage heraus auf die Haftung
eingelassen hat und dem Gl. dies bekannt war. Im konkreten Fall bestanden
solche Umstände in verharmlosenden und risikoverschleiernden Äußerungen des
Gl. sowie in der Ausnutzung der Angst um den Arbeitsplatz.
©sl 2003
Amtl. Leitsatz:
Eine von einem Arbeitnehmer mit mäßigem Einkommen aus Sorge um den Erhalt
seines Arbeitsplatzes für einen Bankkredit des Arbeitgebers übernommene
Bürgschaft ist sittenwidrig, wenn sie den Arbeitnehmer finanziell kraß
überfordert und sich der Arbeitgeber in einer wirtschaftlichen Notlage
befindet.
Tatbestand:
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Bürgschaft. Dem liegt
folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Beklagte war seit dem 1. Januar 1991 bei der neu gegründeten H.
Baugesellschaft mbH i.G. (nachfolgend: H. GmbH)
in M. als Bauleiter angestellt. Sein monatliches Nettoeinkommen, von dem er
356 DM Unterhalt für seine Tochter zu leisten hatte, betrug ab 1. Mai 1991
2.222,70 DM. Nachdem die Gesellschaft Ende 1991 in finanzielle
Schwierigkeiten geraten war, verhandelte ihr Geschäftsführer mit der
klagenden Sparkasse über die Gewährung eines kurzfristigen
Kontokorrentkredits von 200.000 DM. Die Klägerin erklärte sich dazu nur
unter der Voraussetzung bereit, daß die Gesellschaft hinreichende
Sicherheiten stellt. Nach einem Gespräch mit der Klägerin über die Stellung
von Arbeitnehmerbürgschaften am 17. Dezember 1991 übernahmen der Beklagte
und zwei andere Arbeitnehmer am 6. Januar 1992 je eine selbstschuldnerische
Bürgschaft mit weiter Sicherungszweckerklärung bis zum Höchstbetrag von
200.000 DM. Die formularmäßige Bürgschaft umfaßt nach ihrer Nr. 2 die auf
die Bürgschaftssumme entfallenden Zinsen, Provisionen und Kosten auch dann,
wenn dadurch der Höchstbetrag überschritten wird. Die Einrede der
Aufrechenbarkeit und § 776 BGB sind ausgeschlossen.
Kurze Zeit später gab die H. GmbH das von ihr betriebene Baugeschäft auf und
stellte im April 1992 einen Antrag auf Eröffnung des
Gesamtvollstreckungsverfahrens, der mangels Masse abgelehnt wurde. Am 5. Mai
1992 kündigte die Klägerin das Darlehen, für das sie 17% Zinsen berechnete,
fristlos. Nach ihrer Darstellung betrugen die Verbindlichkeiten der
Hauptschuldnerin zu diesem Zeitpunkt 121.831,92 DM.
Die Klägerin nimmt den Beklagten aus dem Bürgschaftsvertrag auf Zahlung
eines Teilbetrages von 70.000 DM zuzüglich Zinsen in Anspruch. Der Beklagte,
der nach eigenen Angaben über kein Vermögen verfügt, erachtet die Bürgschaft
wegen krasser finanzieller Überforderung und anderer Umstände für
sittenwidrig. Die Bürgschaft habe er allein aus Sorge um den Erhalt seines
Arbeitsplatzes bei der Hauptschuldnerin übernommen. Außerdem sei er durch
schönende Angaben der Klägerin, die die Bürgschaft als bloße Formsache
verharmlost habe, über die wirtschaftlichen Verhältnisse sowie die
Ertragsaussichten der sanierungsbedürftigen Hauptschuldnerin getäuscht
worden.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Berufungsgericht ihr
stattgegeben. Mit der Revision erstrebt der Beklagte die Wiederherstellung
des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe:
Die Revision des Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der
angefochtenen Entscheidung und zur Wiederherstellung des landgerichtlichen
Urteils.
I. Das Berufungsgericht hat im wesentlichen ausgeführt:
Der Bürgschaftsvertrag über 200.000 DM sei nicht sittenwidrig. Zwar werde
der Beklagte durch die Bürgschaft finanziell kraß überfordert. Von seinem
Monatseinkommen sei nur ein Betrag von 564 DM pfändbar. Dieser reiche zur
Zahlung der darlehensvertraglichen Zinsen nicht aus. Die finanzielle
Überforderung des Beklagten könne eine Sittenwidrigkeit der Bürgschaft
grundsätzlich aber nur dann begründen, wenn zusätzlich erschwerende, dem
Gläubiger zurechenbare Umstände hinzukämen. Der Grundsatz, daß eine krasse
finanzielle Überforderung des dem Hauptschuldner persönlich nahe stehenden
Bürgen ein gewichtiges Indiz dafür sei, daß er sich entgegen seinen eigenen
Interessen nur aus einer durch die emotionale Verbundenheit mit dem
Hauptschuldner bedingten unterlegenen Position heraus auf das Geschäft
eingelassen und der Gläubiger dies in verwerflicher Weise ausgenutzt habe,
komme hier nicht zum Tragen. Die vom Beklagten gegenüber der Klägerin bei
den Vertragsverhandlungen nicht einmal offengelegte Sorge um den Erhalt
seines Arbeitsplatzes stelle keinen erschwerenden Umstand dar, der die
Sittenwidrigkeit der Bürgschaft begründe.
Aus der Entscheidung des Kammergerichts vom 25. April 1997 (MDR 1998, 234)
zur Sittenwidrigkeit einer Arbeitnehmerbürgschaft ergebe sich nichts
anderes. Sie betreffe einen besonders gelagerten Ausnahmefall, in dem die
verbürgte Verbindlichkeit so hoch sei, daß bereits bei Vertragsschluß
feststehe, der Bürge werde, wenn sich das Risiko verwirkliche, auch bei
günstigster Prognose mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die
Forderung des Gläubigers nicht einmal zu großen Teilen tilgen können. Davon
sei hier aber nicht auszugehen. Vielmehr habe der Beklagte sich nach dem
unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Klägerin aufgrund seines Einsatzes
eine baldige wirtschaftliche Gesundung der Hauptschuldnerin und höhere
Bezüge versprochen. Außerdem habe bei den Vertragsverhandlungen eine
Gesellschaftsbeteiligung des Beklagten und eine damit verbundene
Einflußnahme auf die Unternehmensführung zur Diskussion gestanden. Für die
Klägerin sei deshalb nicht auszuschließen gewesen, daß der Beklagte in
Zukunft ein deutlich höheres Einkommen erziele und die laufenden Zinsen des
verbürgten Kredits tragen könne.
Besondere Umstände, die die Bürgschaft als sittenwidrig erscheinen lassen
könnten, lägen nicht vor. Für die Behauptung, durch verharmlosende
Erklärungen der Klägerin und/oder eine ihr anzulastende Überrumpelung zum
Vertragsschluß veranlaßt worden zu sein, sei der Beklagte beweisfällig
geblieben.
II. Diese Ausführungen halten rechtlicher Überprüfung im entscheidenden
Punkt nicht stand.
Der Bürgschaftsvertrag über 200.000 DM ist, wie die Revision zutreffend
rügt, wegen Verstoßes gegen die guten Sitten gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig.
1. Zutreffend ist allerdings die auch von der Klägerin nicht ernsthaft in
Zweifel gezogene Ansicht des Berufungsgerichts, die Höchstbetragsbürgschaft
über 200.000 DM überfordere den Beklagten finanziell in krasser Weise.
Nach der inzwischen übereinstimmenden Rechtsprechung des IX. und des XI.
Zivilsenats des Bundesgerichtshofs liegt eine solche Überforderung des
Bürgen oder Mitverpflichteten bei nicht ganz geringen Bankschulden
grundsätzlich vor, wenn er voraussichtlich nicht einmal die von den
Darlehensvertragsparteien festgelegte Zinslast aus dem pfändbaren Teil
seines Einkommens und Vermögens bei Eintritt des Sicherungsfalls dauerhaft
tragen kann (siehe etwa Senatsurteile vom 28.
Mai 2002 XI ZR 205/01, WM 2002, 1649, 1651 und vom 11. Februar 2003 XI
ZR 214/01, ZIP 2003, 796, 797, jeweils m.w.Nachw.). Ob die von der Klägerin
angesprochene Möglichkeit der Restschuldbefreiung, wie sie die seit dem 1.
Januar 1999 geltenden §§ 286 ff. InsO vorsehen, Anlaß geben kann, die Grenze
für eine finanzielle Überforderung anders festzulegen, kann offenbleiben.
Bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit ist grundsätzlich auf den Zeitpunkt
des Vertragsabschlusses abzustellen (siehe etwa BGHZ 125, 206, 209; 140,
395, 399). Der Darlehensvertrag wurde indes bereits im Januar 1992, also vor
Inkrafttreten der Insolvenzordnung, geschlossen. Schon deshalb ist es nicht
möglich, das in ihr normierte Verfahren zur Restschuldbefreiung zu
berücksichtigen (siehe bereits Senatsurteil vom 4.
Dezember 2001 XI ZR 56/01, WM 2002, 223, 225).
Bei Übernahme der Bürgschaft im Januar 1992 verdiente der Beklagte als
Bauleiter bei der H. GmbH 2.222,70 DM netto im Monat. Der unter
Berücksichtigung seiner Unterhaltspflicht pfändbare Teil von 564 DM reichte
bei weitem nicht aus, die von der Klägerin berechneten laufenden Zinsen des
verbürgten Geschäftskredits von 17% bis zum Vertragsende allein zu tragen.
Hinzu kommt, daß sein Gehalt von dem finanziellen Leistungsvermögen der
Hauptschuldnerin abhängig und davon auszugehen war, daß sie bei Eintritt des
Sicherungsfalles entweder zahlungsunfähig oder überschuldet sein würde. Dies
wird bei der vom Berufungsgericht in anderem Zusammenhang ohne ausreichende
tatsächliche Anhaltspunkte erwogenen Möglichkeit, der Beklagte werde bei der
Hauptschuldnerin künftig deutlich mehr verdienen und könne in der Lage sein,
die laufenden Zinsen des verbürgten Kredits zu tragen, außer acht gelassen.
Daß der Beklagte aufgrund seiner Ausbildung als Bauleiter oder in ähnlicher
Stellung bei einem anderen Bauunternehmen in absehbarer Zeit wesentlich mehr
verdienen könnte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
2. Zutreffend ist auch die Ansicht des Berufungsgerichts, dem Beklagten
komme ohne Hinzutreten weiterer belastender Umstände nicht die in der
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 136, 347, 351;
146, 37, 42; 151, 34, 37; BGH, Urteile vom 8.
Oktober 1998 IX ZR 257/97, WM 1998, 2327, 2328, vom
28. Mai 2002 XI ZR 205/01, WM 2002, 1649, 1651, vom 11. Februar 2003 XI
ZR 214/01, ZIP 2003, 796, 797 und vom 27. Juli 2003 IX ZR 283/99, ZIP 2003,
1596, 1598) anerkannte widerlegliche Vermutung zugute, daß ein kraß
finanziell überforderter, dem Hauptschuldner persönlich nahestehender Bürge
die Bürgschaft nur aus einer durch die emotionale Verbundenheit mit dem
Hauptschuldner bedingten unterlegenen Position heraus übernommen und der
Gläubiger dies in verwerflicher Weise ausgenutzt habe. Die Vermutung beruht
auf der Lebenserfahrung, daß sich ein Bürge bei Übernahme einer ruinösen
Bürgschaft für einen Ehe- oder Lebenspartner, einen engen Verwandten oder
Freund vor allem von Emotionen hat leiten lassen und der Kreditgeber diese
ausgenutzt hat.
Zwischen einem Arbeitgeber und einem Arbeitnehmer besteht in aller Regel
kein von Emotionen geprägtes, einer Ehe, einer eheähnlichen Partnerschaft
oder einer engen Verwandtschaft oder Freundschaft vergleichbares
persönliches Näheverhältnis. Das gilt besonders, wenn der Arbeitnehmer wie
hier der Beklagte einer von etwa 20 und bei Übernahme der Bürgschaft für den
Arbeitgeber erst seit etwa einem Jahr tätig war. Bei einem Arbeitsverhältnis
stehen nicht Emotionen, die die Fähigkeit zu rationalem Handeln erheblich
beeinträchtigen, sondern die beiderseitigen, häufig gegensätzlichen
Interessen der Arbeitsvertragsparteien im Vordergrund. Besondere Umstände,
die hier eine andere Beurteilung nahelegen könnten, sind weder vorgetragen
noch ersichtlich.
3. Dem Berufungsgericht kann aber nicht gefolgt werden, soweit es meint,
die Bürgschaft sei wirksam, weil die Klägerin nicht in unzulässiger Weise
auf die Entschließung des Beklagten durch die Tragweite der Haftung
verharmlosende bzw. verschleiernde Erklärungen oder durch schönende Angaben
über die wirtschaftlichen Verhältnisse und Aussichten der Hauptschuldnerin
eingewirkt habe. Dabei kann dahinstehen, ob und gegebenenfalls unter
welchen Voraussetzungen sich auch im Bereich der Arbeitnehmerbürgschaften
eine tatsächliche widerlegliche Vermutung für ein weitgehend fremdbestimmtes
Handeln des Betroffenen ergibt. Jedenfalls liegen entgegen der Ansicht des
Berufungsgerichts hinreichende Umstände vor, die den Beklagten auch ohne
derartige verbotene Handlungen der Klägerin an einer freien und
eigenverantwortlichen Entscheidung hinderten und von ihr in sittlich
anstößiger Weise ausgenutzt wurden.
a) Bei der zu beurteilenden ruinösen Bürgschaft des Beklagten handelt es
sich um eine Arbeitnehmerbürgschaft für Bankverbindlichkeiten der
Arbeitgeberin, einer finanzschwachen GmbH. Diese hatte erst Anfang 1991 mit
Hilfe erheblicher Kredite ihre Geschäftstätigkeit aufgenommen und befand
sich bei Aufnahme des verbürgten Kredits von 200.000 DM Ende 1991/Anfang
1992 in ernsten Liquiditätsschwierigkeiten. Diese waren so akut, daß die
Arbeitgeberin den Geschäftsbetrieb trotz des gewährten Kredits bereits drei
Monate später einstellen und Antrag auf Eröffnung der Gesamtvollstreckung
stellen mußte, der mangels Masse abgelehnt wurde. Der Beklagte stand damit
bei Übernahme der Bürgschaft vor der Alternative, entweder dem über die
Arbeitgeberin an ihn herangetragenen Sicherungsbegehren der Klägerin
zusammen mit zwei anderen Arbeitskollegen nachzugeben oder den sofortigen
Verlust seines Arbeitsplatzes in Kauf zu nehmen.
Ein unmittelbares eigenes wirtschaftliches Interesse an der Gewährung des
verbürgten Kredits hatte der Beklagte für die Klägerin erkennbar nicht. An
der GmbH war er nicht beteiligt, von Gewinnen und Wertsteigerungen der GmbH
profitierte er deshalb nicht. Der Vorschlag der Klägerin im Rahmen der
Verhandlungen über den Bürgschaftsvertrag, er solle möglichst in naher
Zukunft Gesellschafter werden, wurde vom alleinigen Gesellschafter der GmbH
nicht aufgegriffen, die Übernahme der risikoreichen Bürgschaft von einer
wesentlichen und werthaltigen Beteiligung an der Hauptschuldnerin nicht
abhängig gemacht. Eine etwaige Vorstellung des Beklagten, von einer
Sanierung der Hauptschuldnerin mit Hilfe des verbürgten Kredits künftig
durch ein höheres Gehalt zu profitieren, war ersichtlich nichts weiter als
eine vage Hoffnung.
Durch die Übernahme der Bürgschaft über 200.000 DM wurde der Beklagte, der
mit 2.222,70 DM monatlich nur über ein mäßiges Nettoeinkommen verfügte, ohne
Gewinnbeteiligung und ohne irgendeine Gegenleistung in einem Umfang mit dem
wirtschaftlichen Risiko der Arbeitgeberin und dem Kreditrisiko belastet, der
geeignet war, ihn für den Rest seines Lebens wirtschaftlich zu ruinieren.
Wenn der Beklagte die ihn kraß überfordernde Bürgschaft dennoch übernahm, so
geschah dies allein aus Angst um seinen Arbeitsplatz bei der
Hauptschuldnerin und den Verlust seines Einkommens, mit dem er seinen
Lebensunterhalt bestritt. Dafür besteht in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit,
wie sie seit längerer Zeit vor allem auch in den neuen Bundesländern
herrscht, eine tatsächliche, widerlegliche Vermutung (vgl. KG MDR 1998, 234,
235). Diese Angst, die sich der mit den dortigen Arbeitsmarktverhältnissen
vertrauten Klägerin als Grund für die ersichtlich unüberlegte Übernahme der
für ihn ruinösen Bürgschaft durch den Beklagten aufdrängte, hat den
Beklagten daran gehindert, das Risiko der ruinösen, ohne jeden Ausgleich
übernommenen Bürgschaft realistisch abzuschätzen, sich zu vergegenwärtigen,
daß die Verpflichtung aus der Bürgschaft nicht mit der Auflösung des
Arbeitsverhältnisses mit der Hauptschuldnerin endet, und eine vernünftige
Entscheidung zu treffen.
Das hat die dem Beklagten strukturell weit überlegene Klägerin
ausgenutzt, um das mit der Ausreichung des Geschäftskredits über 200.000 DM
verbundene Risiko (auch) dem Beklagten sowie zwei anderen Arbeitnehmern der
nahezu illiquiden Hauptschuldnerin aufzubürden, obwohl sich die
Fragwürdigkeit der Arbeitnehmerbürgschaften für sie aufdrängen mußte. Sie
hat damit versucht, von der aufgezeigten Zwangslage des Beklagten und seiner
Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes zu profitieren. Dies gibt, wie das
Bundesarbeitsgericht (NJW 1991, 860, 861) für eine Vereinbarung über die
Belastung eines am Gewinn nicht beteiligten Arbeitnehmers mit dem
Wirtschaftsrisiko des Arbeitgebers entschieden hat, dem Bürgschaftsvertrag
nach seinem aus der Zusammenfassung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu
beurteilenden Gesamtcharakter das Gepräge der Sittenwidrigkeit.
b) Hier kommt noch erschwerend hinzu, daß der formularmäßige
Bürgschaftsvertrag mehrere den Bürgen unangemessen belastende Klauseln
enthält. Die weite Sicherungszweckerklärung, die die Bürgschaft auf alle
bestehenden und künftigen Forderungen der Klägerin gegen die
Hauptschuldnerin aus der bankmäßigen Geschäftsverbindung erweitert, verstößt
nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gegen §§ 3 und 9 AGBG
(BGHZ 126, 174, 177; 130, 19, 24 ff.; 137, 153, 155 f.; 142, 213, 215 f.;
143, 95, 96 f.; 151, 374, 377; BGH, Urteile vom 15. Januar 2002 XI ZR 98/01,
WM 2002, 436, 438 und vom 16. Januar 2003 IX ZR 171/00, WM 2003, 669, 670,
für BGHZ vorgesehen). Die vorgesehene Erstreckung der
Höchstbetragsbürgschaft auf Nebenforderungen über den Höchstbetrag hinaus
ist mit § 9 AGBG unvereinbar (BGHZ 151, 374, 381 ff.). Der formularmäßige
Verzicht auf die Einrede der Aufrechenbarkeit benachteiligt den Beklagten
ebenfalls unangemessen (§ 9 AGBG), wenn er wie hier auch für den Fall gilt,
daß die Gegenforderung des Hauptschuldners unbestritten oder rechtskräftig
festgestellt ist (BGH, Urteil vom 16. Januar 2003 IX ZR 171/00, WM 2003,
669, 671, für BGHZ vorgesehen). Der Ausschluß des § 776 BGB verstößt
ebenfalls gegen § 9 AGBG (BGHZ 144, 52, 55 ff.; BGH, Urteil vom 6. April
2000 IX ZR 2/98, WM 2000, 1141, 1144). Daß diese unangemessenen Klauseln,
die bei der nach § 138 Abs. 1 BGB erforderlichen Gesamtbetrachtung einen
Verstoß des Bürgschaftsvertrages gegen die guten Sitten allein nicht zu
begründen vermöchten, unwirksam sind, kommt der Klägerin nach dem
Schutzzweck des AGB-Gesetzes bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit nicht
zugute (BGHZ 80, 153, 172; 98, 174, 177; 136, 347, 355 f.).
III. Die angefochtene Entscheidung war daher aufzuheben und das
landgerichtliche Urteil wiederherzustellen.
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