Zugang einer
Willenserklärung bei Abgabe gegenüber einem Empfangsboten
BGH, Urteil vom 17.03.1994 - X ZR 80/92
(Hamburg)
Fundstelle:
NJW 1994, 2613
Amtl. Leitsatz:
Zu den Voraussetzungen, unter denen der Ehegatte des Erklärungsempfängers
nach der Verkehrsanschauung als dessen Empfangsbote angesehen werden kann
(Empfänger auf hoher See).
Zentrale Probleme:
s. dazu die Anm. zu
BGH NJW 2002, 1041; zur Frage des Zugangs bei
einem nicht abgeholten Einschreibebrief sowie der Problematik der
Zugangsvereitelung durch den Empfänger s.
BGH NJW 1998, 976 ff; zum Empfangsvertreter s.
auch BGH NJW 2003, 3270. Zum Zugangszeitpunkt
s. auch BGH NJW 2008, 843.
Zum Sachverhalt:
Gegenstand des Streits der Parteien ist eine Schadensersatzforderung,
welche die Kl. aus einem zwischen ihr und dem Bekl. am 20. 11. 1981 geschlossenen
Vertrag über die Bergung des im Zweiten Weltkrieg etwa 18 Seemeilen
nordwestlich von Penang in der Straße von Malakka gesunkenen deutschen
U-Boots "U-859" herleitet. Eigentümer dieses Wracks war die Bundesrepublik
Deutschland. Diese hatte durch Vertrag vom 10. 12. 1970 der Kl. unter bestimmten
Voraussetzungen die Bergung und Verwertung des Wracks gestattet. In §
4 des Vertrags heißt es: "Der Bergungsunternehmer unterrichtet unverzüglich
die Botschaft, wenn menschliche Überreste im Wrack gefunden worden
sind. Er verpflichtet sich, in diesem Falle dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge
bei der Erfüllung seiner Aufgabe behilflich zu sein und seinen Weisungen
nachzukommen. Über die ... humanitäre Seite der Bergung und Beisetzung
der Toten dürfen von dem Bergungsunternehmer nur mit vorheriger Zustimmung
der Bundesrepublik Deutschland Auskünfte gegeben oder Verlautbarungen
herausgegeben werden. Während der Bergung der Toten dürfen keine
Foto- oder Fernsehaufnahmen gemacht werden. ..."
Zur Bergung des U-Boots ist es nicht gekommen. Die Vorinstanzen haben
den Bekl. verurteilt, aufgrund des § 15a des Bergungsvertrags der
Kl. ihre Aufwendungen in Höhe von 357000 DM zu erstatten. Die Revision
des Bekl. führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.
Aus den Gründen:
I. ... 2. ... a) Keinen Erfolg hat die Revision allerdings mit der Rüge
einer Verletzung von § 134 BGB i. V. mit § 168 StGB.
Die Revision rügt insoweit, das BerGer. habe die Nichtigkeit des
Bergungsvertrags nicht mit der Begründung verneinen dürfen, ein
Verstoß gegen § 134 BGB i. V. mit § 168 StGB liege deshalb
nicht vor, weil Gegenstand des Bergungsvertrags das Heben und Verwerten
des gesunkenen U-Bootes, nicht aber die Bergung der Überreste der
Bootsbesatzung gewesen sei. Denn der Tatbestand des § 168 StGB sei
auch dann erfüllt, wenn eine Beisetzungsstätte zerstört
oder beschädigt werde. Das U-Boot "U-859" sei als "Kriegsgrab" eine
Beisetzungsstätte i. S. des § 168 StGB. Die von den Parteien
vorgesehene Bergung des Wracks wäre mit einer Zerlegung des U-Boots
und damit der Zerstörung der Beisetzungsstätte verbunden gewesen.
Daraus folge die Nichtigkeit des Bergungsvertrags gem. § 134 BGB.
Die Rüge ist unbegründet.
Mit Recht macht die Revision nicht mehr geltend, der Bergungsvertrag
verstoße gegen § 168 I Alt. 1 StGB. Danach macht sich strafbar,
wer aus dem Gewahrsam des Berechtigten eine Leiche oder Leichenteile wegnimmt.
Der zwischen der Rechtsvorgängerin der Kl. und dem Bekl. geschlossene
Bergungsvertrag hatte die Bergung und Verwertung des gesunkenen U-Bootes,
nicht die Bergung im U-Boot etwa noch vorhandener Überreste der ertrunkenen
Bootsbesatzung zum Gegenstand. Im übrigen setzt § 168 I Alt.
1 StGB als Tathandlung die Wegnahme einer Leiche oder von Leichenteilen
aus dem Gewahrsam des Berechtigten voraus. Selbst wenn sich - wie das LG
angenommen hat - im Bootsrumpf noch menschliche Überreste befinden
sollten, wäre die Bergung keine Wegnahme von Leichenteilen aus dem
Gewahrsam des Berechtigten (vgl. dazu Dippel, in: LK, 10. Aufl., §
168 Rdnrn. 23, 24, 26; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB,
24. Aufl., § 168 Rdnr. 6).
Entgegen der Ansicht der Revision würde durch die Bergung des
Wracks von "U-859" auch nicht der Tatbestand des § 168 I Alt. 3 StGB
verwirklicht, wenn sich im Bootsrumpf noch menschliche Überreste befinden
sollten. Nach dieser Vorschrift macht sich strafbar, wer eine Beisetzungsstätte
zerstört oder beschädigt. Das in der Straße von Malakka
gesunkene U-Boot "U-859" ist weder ein "Kriegsgrab" i. S. von § 1
des Gesetzes über die Erhaltung der Kriegsgräber aus dem Weltkrieg
vom 29. 12. 1922 (RGBl I 1923, 25) noch ein Grab im Sinne des Gesetzes
über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft
vom 1. 7. 1965 (BGBl I, 589) noch überhaupt eine Beisetzungsstätte.
Eine Beisetzungsstätte i. S. des § 168 StGB ist eine der Ruhe
und dem Andenken eines Verstorbenen dienende, d. h. eine diesem Zweck gewidmete
Stätte (RGSt 28, 139; vgl. Dippel, in: LK, § 168 Rdnr. 38; Lenckner,
in: Schönke/Schröder, § 168 Rdnr. 10). Ein durch Kriegseinwirkung
gesunkenes U-Boot erfüllt diese Voraussetzung auch dann nicht, wenn
sich darin Überreste der ertrunkenen Schiffsbesatzung befinden. Durch
die Bergung des U-Boots wäre deshalb § 168 I Alt. 3 StGB tatbestandsmäßig
nicht verwirklicht worden.
b) Die Revision rügt die Auffassung des BerGer., der Bekl. habe
durch die Unterzeichnung der von der Kl. vorformulierten Erklärung
vom 1. 10. 1983 anerkannt, daß die vereinbarte Bergungsaktion gescheitert
sei und die Kl. demgemäß entsprechend § 15a des Bergungsvertrags
von ihm die Erstattung der von ihr investierten Aufwendungen verlangen
könne. Eine solche Erklärung habe der Bekl. nicht abgeben wollen
und auch nicht abgegeben. Das BerGer. habe die Erklärung vom 1. 10.
1983 rechtsfehlerhaft für eindeutig gehalten und jede Auslegung unterlassen.
Der objektive Erklärungsinhalt der Urkunde sei keineswegs eindeutig,
insbesondere weder ein abstraktes noch ein deklaratorisches Schuldanerkenntnis
...
Die Rüge ist begründet. Die Auffassung, der Bekl. habe mit
der Erklärung vom 1. 10. 1983 anerkannt, daß die vereinbarte
Bergungsaktion gescheitert sei und die Kl. gem. § 15a des Bergungsvertrags
vom Bekl. die Erstattung der von ihr investierten Aufwendungen verlangen
könne, begründet das BerGer. lediglich damit, dies sei "erkennbar
der Sinn jener Vereinbarung" gewesen, "nur so" habe sie verstanden werden
können. Das BerGer. verneint damit schlechthin die Auslegungsfähigkeit
der Erklärung, die es für eindeutig hält. Ob das zutrifft,
ist eine Rechtsfrage, die der Prüfung des RevGer. unterliegt (BGHZ
32, 60 (63) = NJW 1960, 959 = LM § 1967 BGB Nr. 1). Selbst wenn man
in der knappen Würdigung des BerGer. eine Auslegung der Erklärung
vom 1. 10. 1983 erblicken wollte, unterläge diese der revisionsrechtlichen
Überprüfung insoweit, als Auslegungsgrundsätze, Denkgesetze
oder Erfahrungssätze verletzt sind. Dazu gehört auch die Prüfung,
ob alle für die Auslegung wesentlichen Tatsachen berücksichtigt
worden sind (BGH, WM 1991, 495 (496); 1984, 271 (272) m. w. Nachw.).
Um diese Prüfung zu ermöglichen, müssen die tragenden Gründe
der Würdigung im Urteil so weit angeführt werden, daß erkennbar
wird, ob eine sachentsprechende Beurteilung stattgefunden hat (BGH,
NJW 1992, 2080 (2082)). (Wird im einzelnen ausgeführt.)
II. Das angefochtene Urteil erweist sich auf der Grundlage der bisherigen
Tatsachenfeststellungen auch nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis
richtig.
Das LG hat die Auffassung vertreten, die Ehefrau des Bekl. habe als
dessen Empfangsbotin sowohl das Abmahnschreiben vom 16. 6. 1983 als auch
das Rücktrittsschreiben vom 21. 7. 1983 unstreitig erhalten. Es komme
nicht darauf an, ob sie dieses Schreiben an den Bekl. weiterübermittelt
habe oder ob die Schreiben den Bekl. im Rahmen der Weiterübermittlung
erreicht und er von ihnen Kenntnis genommen habe, denn der Bekl. trage
das Risiko der Weiterübermittlung. Diese Schreiben hätten deshalb
die in § 15a des Bergungsvertrags vereinbarten Folgen ausgelöst.
Diese Begründung ist rechtsfehlerhaft. Die Nachfristsetzung ist
eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung (RGZ 53,
161 (167)), der Rücktritt ein ebenfalls durch einseitige, empfangsbedürftige
Willenserklärung ausgeübtes Gestaltungsrecht (§ 349 BGB).
Diese Erklärungen werden gem. § 130 I 1 BGB einem Abwesenden
gegenüber erst wirksam, wenn sie ihm zugehen. Es kommt also darauf
an, ob und wann dem Bekl. diese Erklärungen zugegangen sind.
Das LG geht davon aus, daß Eheleute untereinander nach der
Verkehrsanschauung grundsätzlich zur Entgegennahme von Erklärungen
an einen von ihnen als bestellt anzusehen, d. h. jeweils Empfangsbote des
anderen sind. Das entspricht Rechtsprechung und herrschender Meinung (BGH,
NJW 1951, 313 r. Sp.; BGH, LM § 130 BGB Nr. 20; Palandt/Heinrichs,
BGB, 53. Aufl., § 130 Rdnr. 9) und daran ist grundsätzlich festzuhalten.
Diese Verkehrsanschauung beruht auf der Lebenserfahrung, daß in aller
Regel ohne weiteres davon auszugehen ist, daß die für einen
Ehepartner bestimmte Erklärung durch Aushändigung an den anderen
so in dessen Macht- und Zugriffsbereich gelangt, daß er von der Erklärung
Kenntnis nehmen kann (BGHZ 67, 271 (275) = NJW 1977, 194 = LM § 132
BGB Nr. 3). Ohne weiteres kann dies jedoch nicht angenommen werden, wenn
sich der Adressat der Erklärung - wie im Streitfall der Bekl. - auf
hoher See befindet. In diesem Fall sind tatsächliche Feststellungen
erforderlich, die den Schluß zulassen, daß die vom Ehepartner
in Empfang genommene Erklärung so in den Macht- und Zugriffsbereich
des Adressaten gelangt ist, daß er (überhaupt) von ihr Kenntnis
nehmen konnte. Das wäre vorliegend etwa der Fall, wenn die Eheleute
in (telefonischer oder telegraphischer) Verbindung zueinander standen.
Dazu fehlen jedoch Feststellungen. Selbst wenn das der Fall gewesen sein sollte und die Ehefrau des
Bekl. mithin als seine Empfangsbotin anzusehen wäre, wären die
Erklärungen dem Bekl. erst in dem Zeitpunkt zugegangen, in dem nach
dem regelmäßigen Verlauf der Dinge die Weiterleitung an ihn
zu erwarten war (BGH, LM § 130 BGB Nr. 20). Denn wenn eine Erklärung
gegenüber einem Empfangsboten abgegeben wird, kommt es - anders als
im Fall der Empfangsvollmacht - allein auf die Person des Adressaten an.
Erst wenn dieser unter Zugrundelegung gewöhnlicher Übermittlungsverhältnisse
die (theoretische) Möglichkeit der Kenntnisnahme hat, ist die an seinen
Empfangsboten abgegebene Erklärung zugegangen. Denn der Empfangsbote
hat lediglich die Funktion einer personifizierten Empfangseinrichtung des
Adressaten. Als dessen Übermittlungswerkzeug soll er die Willenserklärung
entgegennehmen und an ihn weiterleiten, also noch eine Tätigkeit entfalten,
um dem Adressaten die Möglichkeit der Kenntnisnahme zu verschaffen.
Vom Adressaten, auf den es für den Zugang allein ankommt, kann daher
erst nach dem Ablauf der Zeit, die der Empfangsbote für die Übermittlungstätigkeit
unter den obwaltenden Umständen normalerweise benötigt, erwartet
werden, daß er von der Erklärung Kenntnis nehmen kann. Wenn
sich der Adressat im Ausland oder auf hoher See aufhält, muß
zur Bestimmung des Zeitpunkts, in dem die Erklärung als zugegangen
gilt und damit wirksam i. S. des § 130 I BGB wird, die Zeitspanne
berücksichtigt werden, die der Bote bei sachgerechter Ausübung
seiner Botenfunktion unter den obwaltenden Umständen normalerweise
benötigen würde, um die Erklärung dem Adressaten tatsächlich
zu übermitteln (vgl. BGH, LM § 130 BGB Nr. 20). Auch insoweit
fehlt es an den erforderlichen Feststellungen. Die Tatsache, daß
die Ehefrau des Bekl. die Erklärungen der Kl. vom 16. 6. und 21. 7.
1983 erhalten hat, reicht nicht aus. Schließlich muß geprüft werden, ob es unter den besonderen
Umständen des vorliegenden Falles rechtsmißbräuchlich war,
daß die Kl. das Abmahnschreiben vom 16. 6. 1983 und die Rücktrittserklärung
vom 21. 7. 1983 an die Heimatadresse des Bekl. richtete, obwohl ihr bekannt
war, daß dieser sich in Erfüllung seiner vertraglichen Verpflichtungen
ihr gegenüber aus dem Bergungsvertrag vom 20. 11. 1981 im Ausland
oder auf hoher See befand, und obwohl sie wußte, daß nur der
Bekl. vor Ort das Erforderliche zur Sicherung der Bergungsaktion in die
Wege leiten konnte und ihm dafür nach der gesetzten Erklärungsfrist
lediglich vier Wochen "nach Datum dieses Schreibens" zur Verfügung
standen.