"Offener Kalkulationsirrtum"
- Anfechtbarkeit wegen "erweiterten Inhaltsirrtums" ? ("Silber-Fall")
RG, Urt. v. 17.12.1920, II 182/20 Amtl. Leitsatz Wann stellt sich ein Kalkulationsirrtum des Verkäufers als ein die Anfechtung rechtfertigender Irrtum über den Inhalt der Erklärung dar? Fundstelle: RGZ 101, 107 f Zentrales Problem: Es geht um die Problematik des sog. "Kalkulationsirrtums":
Der Verkäufer bot Silber "800 fein" zu 320.- RM/Kilo an. Da der Käufer
aber Silber "1000 fein" haben wollte, rechnete der Verkäufer den Preis
um. Durch einen Rechenfehler kam er zu einem Kilopreis von 360.- RM (anstatt
korrekter 400.- RM). Das RG nahm Anfechtbarkeit der Erklärung des
Verkäufers an. Die Lösung dieser Fälle ist heute überaus
str. Die wohl h.M. nimmt grundsätzlich einen (irrelevanten) Motivirrtum
an, sofern nicht die Auslegung der jeweiligen Vertragserklärungen
ergibt, daß nicht zu der errechneten Endsumme, sondern zu einem auf
eine bestimmte Weise zu errechnenden Preis kontrahiert werden sollte (so
z.B. insbesondere im "Rubel-Fall" RGZ 105,
406 ff: Für eine Schuld von 30 000.- Rubel vereinbarten die Parteien
eine Rückzahlung von 7500.- RM in der irrigen Ansicht, dies entspreche
dem Wechselkurs. Während das RG Anfechtbarkeit des Vertrages für
den Schuldner wegen eines sog. "erweiterten" Inhaltsirrtums bejahte, sieht
die wohl h.M. hier zu Recht einen Fall der falsa demonstratio, da nach
insoweit übereinstimmenden Parteiwillen der Kurswert geschuldet sein
sollte; vgl. etwa Köhler AT Rn. 25 m.w.N.). Auch im vorliegenden
Fall wäre diese Ansicht vertretbar (vgl. etwa Larenz/Wolf AT
§ 36 Rn. 75). Andere sehen hier einen Fall des Dissenses. Will man
dem nicht folgen, bleibt nur noch ein - allerdings nur in Ausnahmefällen
möglicher - Rückgriff auf das Fehlen der Geschäftsgrundlage.
Zum Sachverhalt: Laut Bestätigungsschreiben vom 26. Februar 1919 verkaufte die Beklagte der Klägerin 200 kg Silber 1000 fein zum Preise von 360 M für das Kilogramm. Die Klägerin verlangte mit der Klage Schadensersatz wegen Nichterfüllung. Beide Vorinstanzen erklärten den Anspruch für dem Grunde nach gerechtfertigt. Auf die Revision der Beklagten wurde das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Aus den Gründen: ... Sodann hat die Beklagte den streitigen Vertrag
auf Grund von § 119 BGB wegen Irrtums angefochten, indem sie vortrug:
Bei den Kaufverhandlungen, die ihrem Bestätigungsschreiben unmittelbar
vorausgegangen seien, habe ihr Prokurist U. dem Inhaber der Klägerin
200 kg Silber 800 fein zum Preise von 320 M für das Kilogramm angeboten.
Da der Inhaber der Klägerin wert darauf gelegt habe, Silber 1000 fein
zu erhalten, habe U. im Kopfe den Preis für 1000 fein auf der Basis
von 800 fein zu 320 M umgerechnet. Dabei sei ihm der Rechenfehler unterlaufen,
daß er als Preis für 1000 fein den - in das Bestätigungsschreiben
übergegangenen - Preis von 360 M angegeben habe, während das
Resultat richtig gerechnet 400 M hätte lauten müssen: Silber
800 fein sei damals seit langer Zeit nicht unter 310 M zu kaufen gewesen,
daher sei es ausgeschlossen, daß U. 1000 fein zu 360 M hätte
anbieten können. Dem Inhaber der Klägerin sei bei den Kaufverhandlungen
von U. auch gesagt worden, daß die Beklagte selbst mindestens 310
M für 800 fein zahlen müsse. Diesem Vorbringen, das in der Revisionsinstanz
als richtig zu unterstellen ist, wird das Berufungsgericht nicht gerecht.
Es führt aus, daß nach der Darstellung der Beklagten ein Kalkulationsirrtum
vorliege, der nicht zur Irrtumsanfechtung berechtige; daß der gegenwärtige
Fall wesentlich anders geartet sei als ein von Oertmann, DjurZ. 1909 s.
742 behandelter, wo bei der Addition mehrerer Einzelposten in der Endsumme
ein Fehler unterlaufen sei; daß übrigens weder das Reichsgericht
noch die sonstige Judikatur der - bei solcher Sachlage die Irrtumsanfechtung
zulassenden - Ansicht Oertmannns gefolgt sei. Der Stand der Rechtsprechung
ist ein anderer, als das Berufungsgericht annimmt. Allerdings reicht danach
ein Kalkulationsirrtum regelmäßig nicht aus, die Voraussetzungen
des § 119 BGB zu erfüllen, da er regelmäßig nicht
die rechtsgeschäftliche Erklärung selbst berührt, sondern
nur Umstände, die dieser vorausgegangen sind, und damit nur den Beweggrund
betrifft. Hierin tritt jedoch, wie das Reichsgericht schon mehrfach anerkannt
hat, eine Änderung ein, wenn die Kalkulation zum Gegenstand der entscheidenden
Vertragsverhandlungen gemacht wurde und der geforderte Kaufpreis erkennbar
als ein aus dieser Kalkulation beruhender bezeichnet worden ist; denn der
Inhalt der Erklärung umfaßt dann auch die Preisberechnung (vgl.
RGB Bd. 64 S. 268, Bd. 90 S. 272, Bd. 94 S. 67). Ein solcher Fall ist aber
hier nach dem Vorbringen der Beklagten gegeben, da der für die verkaufte
Ware geforderte Preis sich nur als das Ergebnis einer bei den entscheidenden
Kaufverhandlungen vorgenommenen, dem Käufer kenntlich gemachten Umrechnung
darstellen würde.
|