"Offener Kalkulationsirrtum":
Vertragsauslegung und Irrtumsanfechtung ("Rubel-Fall")
RG, Urt. v. 30.11.1922; VI 465/22
Fundstelle:
RGZ 105, 406
Amtl. Leitsatz:
Zur Abgrenzung des Irrtums über den Inhalt
der Willenserklärung vom Irrtum im Beweggrunde
Zentrales Problem:
Für eine Schuld von 30 000.- Rubel vereinbarten
die Parteien eine Rückzahlung von 7500.- RM in der irrigen Ansicht,
dies entspreche dem Wechselkurs. Während das RG Anfechtbarkeit des
Vertrages für den Schuldner wegen eines sog. "erweiterten" Inhaltsirrtums
bejahte, sieht die wohl h.M. hier zu Recht einen Fall der falsa demonstratio,
da nach insoweit übereinstimmenden Parteiwillen der Kurswert geschuldet
sein sollte. Die unrichtige Umrechnung ist dann ein Fall der übereinstimmenden
falsa
demonstratio, vgl. etwa Köhler AT Rn. 25 m.w.N. sowie Larenz/Wolf
AT § 36 Rn. 75; Medicus BürgR Rn. 154. Es gilt also der
Vorrang der Vertragsauslegung vor der Irrtumsanfechtung.
Diese Überlegung darf allerdings nicht dazu
führen, in allen Fällen, in welchen eine Partei oder die Parteien
bestimmte Vorstellung von dem Zustandekommen des (bezifferten) Preises
haben, vorschnell eine Einigung über die Berechnungsgrundlage bzw.
das Vorliegen eines Inhaltsirrtums anzunehmen: I.d.R ist die Berechnungsgrundlage
nicht Gegenstand der vertraglichen Einigung und kann auch nicht (als einseitiges
Motiv) zum Gegenstand der Willenserklärung erhoben werden, weil sie
den anderen Teil nicht zu interessieren braucht, weil für ihn nur
der Endpreis als solcher von Bedeutung ist. So kann insbesondere in den
Fällen des sog. "Kurswertirrtums" (z.B. Verkauf eines Wertpapiers
zu einem bestimmten Preis in der Annahme, es handele sich um den Börsenkurs)
nicht ein Vertragsschluß zum tatsächlichen Tageskurs bzw. die
Anfechtbarkeit wegen Inhaltsirrtums bejaht werden.
Vgl. im übrigen die Anm. zu
RGZ
101, 107 ff ("Silber-Fall"),
BGH
NJW 1998, 3192 ff = BGHZ 139, 177 sowie
zu BGH, Urteil
vom 19.05.2006 - V ZR 264/05.
Sachverhalt:
Die Parteien, deutsche Reichsangehörige, hielten
sich im Jahre 1920 in Moskau auf. Dort hat der Kläger dem Beklagten,
der Kriegsgefangener war, für Zwecke seiner Heimreise 30.000 sowjetrubel
vorgestreckt und sich dafür zwei vom 16. und 17. Mai 1920 datierte
Schuldschein ausstellen lassen, durch die sich der Beklagte verpflichtete,
dem Kläger innerhalb zwei Monaten nach Rückkehr in die Heimat
5000 + 2500 M zurückzuzahlen. Hierauf sich stützend klagt dieser
auf Zahlung von 7500 M. Der Beklagte macht geltend, die 30.000 Rubel hätten-
wie unstreitig - zur Zeit ihrer Hingabe einen Kurswert von nur 300 M gehabt
und will dem Kläger nur diesen Betrag bewilligen. Das Landgericht
erkannte auf den dem Kläger zugeschobenen und von ihm angenommenen
Eid darüber, die Parteien seien bei der Hingabe des Geldes davon ausgegangen,
daß damals der Rubel eine Wert von 25 Pf hatte, und es sei dem Kläger
damals nicht bekannt gewesen, daß der Rubel in Wirklichkeit einen
geringeren Wert hatte. Die Berufung des Beklagten wurde vom Oberlandesgericht
zurückgewiesen. Seine Revision hatte Erfolg.
Aus den Gründen:
(Ein Revisionsangriff, daß dem Klaganspruch
die Einrede der Arglist entgegenstehe, wird zurückgewiesen. Dann wird
fortgefahren:) Andererseits muß die Stellungnahme des Berufungsgerichts
zu der Frage Bedenken erregen, ob dem Beklagten eine Anfechtung seiner
in den beiden Schulscheinen enthaltenen Verpflichtungserklärung
wegen Irrtums nach § 119 BGB zustatten kommen kann. Er führt
aus, wenn der Beklagte - was ungeprüft gelassen wurde - eine solche
Anfechtung ausgesprochen hätte, so sei sie nicht rechtswirksam, da
er nach seinem eigenen Vorbringen weder über den Inhalt der Erklärung
im Irrtum gewesen sei, noch etwas anderes habe erklären wollen, als
das tatsächlich Erklärte, es sich vielmehr nur um eine Irrtum
über den Wert des Sowjetrubels, also über den Beweggrund für
die abgegebene Erklärung handele.
Mit Recht greift die Revision diese Auffassung
als von Rechtsirrtum beeinflußt an. Für die Beurteilung der
Sachlage sind folgende Gesichtspunkte maßgebend: Das Darlehen war
in Sowjetrubeln gegeben, deshalb gemäß § 607 Abs. 1 BGB
an sich in derselben Währung zurückzuerstatten. Durch eine Sonderabmachung,
die in den Schuldscheinen niedergelegt wurde, verpflichtete sich indes
der Beklagte, statt der 30.000 Rubel 7500 M zurückzuzahlen. hierzu
gelangten die Parteien, indem sie - wie für die Revisionsinstanz zu
unterstellen ist, übrigens auch außer Streit zu sein scheint
- übereinstimmend davon ausgingen, daß der Sowjetrubel in Deutschland
einen Wert von 25 Pf darstelle. Somit umfaßt die Erklärung des
Beklagten, an Stelle der eigentlichen Darlehenssumme dem Kläger 7500
M schulden zu wollen, in einer diesem ohne weiteres erkennbaren Weise die
Kundgabe des Willens, die Darlehenssumme nach jenem Kurse in deutsche Währung
umzurechnen. Diese von der irrigen Meinung, der Rubel sei nicht 1 Pf, sondern
25 Pf wert, unmittelbar beeinflußte Willensrichtung war zwar bestimmend
für den Entschluß des Beklagten, aber sie bezog sich nicht auf
solche Umstände, die seiner rechtsgeschäftlichen Erklärung
vorausgingen und nur innere Erwägungen von seiner Seite bedeuteten,
sondern sie war Teil der Erklärung selbst und wurde bei der Vertragsverhandlung
dem Gegner verlautbart. daß dies durch Erwähnung in den Urkunden
oder durch ausdrückliche mündliche Erklärung geschah, war
nicht erforderlich; der Wille, zu dem als richtig angenommenen Kurswerte
umzurechnen, lag ohne weiteres in den bei der Sonderabmachung ausgetauschten
Erklärungen. Übrigens würde der Kläger seine schriftsätzliche
Behauptung, er habe mit dem Beklagten ausdrücklich abgemacht, daß
der Rubel mit 1/4 Mark zu rechnen sei, gegen sich geltende machen müssen.
Hiernach liegt kein rechtlich unbeachtlicher Irrtum
im Beweggrunde vor, vielmehr bezieht sich der Irrtum auf die Grundlagen
des Rechtsgeschäfts und hat somit als Irrtum über den Inhalt
der Erklärung zu gelten, der die Anfechtung aus § 119 Abs. 1
BGB rechtfertigt. (vgl. RGZ Bd. 64 S. 268, Bd. 85 S.326, Bd. 94 S. 67,
Bd. 97 S. 140, Bd. 101 S. 53 und s. 108; Komm. z. BGB von RGRäten,
3. Aufl., Anm. 2 und 3 zu § 119).
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