Übertragung von
Verkehrssicherungspflichten: Wandlung zur Aufsichtspflicht auch bei
unwirksamen Vertrag; Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte
BGH, Urteil vom 22. Januar
2008 - VI ZR 126/07
Fundstelle:
NJW 2008, 1449
Amtl. Leitsatz:
1. Die Übertragung der
Streupflicht durch den Vermieter auf einen Dritten dient auch der Sicherung
des Zugangs zum Mietobjekt. Die dort wohnhaften Mieter können deshalb in den
Schutzbereich des Übertragungsvertrages einbezogen sein.
2. Die deliktische Einstandspflicht des mit der Wahrnehmung der
Verkehrssicherung Beauftragten besteht auch dann, wenn der Vertrag mit dem
Primärverkehrssicherungspflichtigen nicht rechtswirksam zustande gekommen
ist.
Zentrale Probleme:
Deliktische Verkehrssicherungspflichten sind insbesondere
bei Unterlassungsdelikten von Bedeutung. Eine Schädigung durch Unterlassen
(hier: Unterlassen des Streuens bei Eisglätte) steht einer Handlung i.S.v. §
823 I BGB gleich , wenn das Unterlassen pflichtwidrig ist. Als eine solche
Pflicht kommen insbesondere Verkehrssicherungspflichten in Betracht: Wer
eine objektive Gefahrenlage schafft oder beherrscht, muss für entsprechende
Sicherungsvorkehrungen sorgen. Deren Umfang richtet sich nach dem Grad der
Gefahr, der Höhe und der Art des drohenden Schadens und dem notwendigen
Aufwand zu seiner Verhütung. Ein absoluter Schutz vor jeder denkbaren Gefahr
ist also nicht geboten (s. dazu etwa
BGH, Urteil vom 31. Oktober
2006 - VI ZR 223/05: "Die rechtlich
gebotene Verkehrssicherung umfasst diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger
und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig
und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren. Dabei ist zu
berücksichtigen, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnet
werden kann. Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden,
wäre unrealistisch. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung
ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar.
Haftungsbegründend wird eine Gefahr deshalb erst dann, wenn sich für ein
sachkundiges Urteil die nahe liegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter
anderer verletzt werden können. Auch dann reicht es jedoch anerkanntermaßen
aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger,
umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der betroffenen
Verkehrskreise für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden
zu bewahren, und die ihm den Umständen nach zuzumuten sind").
Verkehrssicherungspflichten können delegiert werden. Sie wandeln sich dann
in Überwachungspflichten um. Diese Delegation ist rein faktisch zu
verstehen, so dass, wenn - wie hier - die Delegation der Streupflicht auf
einen Hausverwalter auch dann eintritt, wenn der dem zugrundeliegende
(Werk)Vertrag unwirksam ist: "Entscheidend ist, dass der in die
Verkehrssicherungspflicht Eintretende faktisch die Verkehrssicherung für den
Gefahrenbereich übernimmt und im Hinblick hierauf Schutzvorkehrungen durch
den primär Verkehrssicherungspflichtigen unterbleiben, weil sich dieser auf
das Tätigwerden des Beauftragten verlässt. Dieser ist aufgrund der von ihm
mitveranlassten neuen Zuständigkeitsverteilung für den übernommenen
Gefahrenbereich nach allgemeinen Deliktsgrundsätzen verantwortlich. Insofern
ist seine Verkehrssicherungspflicht nicht abgeleiteter Natur. Vielmehr
erfährt sie mit der Übernahme durch den Beauftragten in seine Zuständigkeit
eine rechtliche Verselbständigung. Er ist es fortan, dem unmittelbar die
Gefahrenabwehr obliegt und der dafür zu sorgen hat, dass niemand zu Schaden
kommt. Inhalt und Schutzbereich dieser verselbständigten
Verkehrssicherungspflicht bestimmen sich allein danach, was objektiv
erforderlich ist, um mit der Gefahrenstelle in Berührung kommende Personen
vor Schaden zu bewahren."
Weiter betont der Senat hier zu recht, dass ein solcher Vertrag Schutzwirkung
für Dritte entfalten kann. Er prüft dabei schulmäßig die Voraussetzungen
einer solchen Schutzwirkung, nämlich Leistungsnähe, Schutzinteresse des
Vertragspartners und Erkennbarkeit für den Verpflichteten (zum Vertrag mit
Schutzwirkung für Dritte s. die Anm. zu
BGH
NJW 2001, 514 sowie zu BGH v. 14.11.2006 - VI
ZR 48/06 sowie Köhler/Lorenz,
PdW SchuldR I Fälle 89 - 94).
©sl 2008
Tatbestand:
1 Die Klägerin verlangt von der Beklagten materiellen und immateriellen
Schadensersatz für die Folgen eines durch Eisglätte verursachten Sturzes.
2 Am 5. Februar 2001 gegen 9.30 Uhr stürzte die Klägerin beim Verlassen des
von ihr bewohnten Hauses in Berlin, weil trotz Schnee- und Eisglätte der
Eingangsbereich nicht hinreichend bestreut war. Sie zog sich dabei
erhebliche Verletzungen zu. Die Stadt Berlin hat die ihr obliegende Räum-
und Streupflicht auf die Hauseigentümer übertragen. Der Eigentümer des
betreffenden Grundstücks hat seinerseits seit über 10 Jahren die Beklagte
mit der Erfüllung der ihm obliegenden Pflichten betraut. Die nach § 6 Abs. 1
Straßenreinigungsgesetz Berlin vorgeschriebene Übertragungsanzeige an die
Stadt Berlin fehlte für den Winter 2000/2001. Die Klägerin ist der
Auffassung, dass die Beklagte aufgrund der Übernahme der Räum- und
Streupflicht für die Folgen des Sturzes hafte.
3 Mit Beschluss vom 25. April 2003 wurde gegen die Beklagte das
Insolvenzverfahren eröffnet. Am 7. April 2005 wurde vom Amtsgericht die
Restschuldbefreiung angekündigt und am 18. Mai 2005 nach Abhaltung des
Schlusstermins das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beklagten
aufgehoben. Das Landgericht hat die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnisses
als unzulässig abgewiesen. Die Berufung der Klägerin blieb erfolglos. Mit
der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre
Ansprüche in vollem Umfang weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
4 Das Berufungsgericht hält die Klage zwar für zulässig, aber nicht für
begründet. Die Insolvenzordnung sehe eine Präklusion von Ansprüchen, die
nicht zur Insolvenztabelle angemeldet worden sind, nicht vor. Sie ergebe
sich auch nicht aus § 87 InsO. Der Klageerhebung stehe auch nicht § 294 InsO
entgegen (vgl. LG Arnsberg NZI 2004, 515, 516). Ein Titel könne während der
Wohlverhaltensphase nicht vollstreckt werden und im Fall einer
Restschuldbefreiung stünde § 301 InsO einer Vollstreckung entgegen.
5 Im Übrigen verneint das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten, weil
eine Anspruchsgrundlage nicht gegeben sei. Es ist der Auffassung, dass der
Vertrag, mit dem die Räum- und Streupflicht für die Wintersaison 2000/2001
vom Hauseigentümer auf die Beklagte übertragen worden sei, keine
Schutzwirkung zugunsten der Klägerin entfalte. Der Mietvertrag mit dem
Eigentümer umfasse nicht die öffentliche Straße, so dass die Klägerin den
übrigen Straßenbenutzern gleichgestellt sei. Die deliktische Haftung unter
dem Gesichtspunkt der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht scheitere
daran, dass die Beklagte am 5. Februar 2001 für den Unfallort nicht
verkehrssicherungspflichtig gewesen sei. Zwar könne nach § 6 Abs. 1 des
Straßenreinigungsgesetzes Berlin ein Dritter in die Verpflichtung des
Eigentümers des Anliegergrundstücks zur Durchführung des Winterdienstes
eintreten. Hierfür sei aber die Anzeige der Übertragung an die Behörde und
deren Zustimmung Voraussetzung. Beides fehle für die Wintersaison 2000/2001.
II.
6 Das Berufungsurteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
7 1. Zwar hat das Berufungsgericht mit Recht die Klage für zulässig
erachtet. Hierfür besteht ein Rechtsschutzbedürfnis, auch wenn sich die
Beklagte in der Wohlverhaltensphase befindet und für die Klägerin das
Vollstreckungsverbot nach § 294 Abs. 1 InsO gilt, obwohl die
streitgegenständliche Forderung nicht zur Tabelle angemeldet wurde und nicht
bei der Verteilung der eingegangenen Beträge durch den Treuhänder
berücksichtigt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Juli 2006 - IX ZB 288/03 -
WM 2006, 1780 m.w.N.). Mangels Vollstreckungswirkung der Klage kann der
Klägerin die Geltendmachung der Forderung aber nicht aufgrund des
Vollstreckungsverbots nach § 294 Abs. 1 InsO untersagt werden. Die Parteien
befinden sich noch im Erkenntnisverfahren und nicht im
Vollstreckungsverfahren. Ein Rechtsschutzinteresse kann der Klägerin auch
nicht mit Blick auf die Regelung in § 301 Abs. 1 InsO abgesprochen werden.
Danach wirkt die Restschuldbefreiung, wird sie erteilt, gegen alle
Insolvenzgläubiger. Dies gilt nach Satz 2 der Vorschrift auch für Gläubiger,
die ihre Forderungen nicht angemeldet haben. Ob der Beklagten die begehrte
Restschuldbefreiung erteilt werden wird, kann derzeit nicht abschließend
beurteilt werden (vgl. §§ 295 ff. InsO). Würde die Restschuldbefreiung
versagt, könnten die Insolvenzgläubiger sofort gegen die Beklagte aus der
Eintragung in die Tabelle vollstrecken (§ 201 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 und 2
InsO). Das Vollstreckungsverbot des § 294 Abs. 1 InsO stünde dem nicht mehr
entgegen (vgl. § 299 In-sO). Würde die Klägerin darauf verwiesen, sie müsse
erst die Versagung bzw. den Widerruf einer bereits erteilten
Restschuldbefreiung abwarten, um den Rechtsstreit fortzusetzen, würde sie
gegenüber den anderen Gläubigern, die sofort vollstrecken dürfen und
könnten, benachteiligt. Dies ist nicht Sinn und Zweck der Regelungen der §§
294 Abs. 1, 301 Abs. 1 InsO (vgl. BGH, Urteil vom 28. Juni 2007 - IX ZR
73/06 - WM 2007, 1844, 1845; Brandenburgisches Oberlandesgericht - Urteil
vom 12. Dezember 2007 - 3 U 82/07 - Rn. 14/17 juris; LG Arnsberg, NZI 2004,
515, 516; Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl., § 87 Rn. 3). Entgegen der Auffassung
der Revisionserwiderung ist § 87 InsO nicht analog für das
Restschuldbefreiungsverfahren anwendbar (vgl. Uhlenbruck, aaO). Dagegen
spricht schon, dass die gesetzliche Regelung in § 301 Abs. 1 Satz 2 In-sO
davon ausgeht, dass auch Gläubiger, die nicht Insolvenzgläubiger sind,
Forderungen geltend machen können.
8 2. Durchgreifende rechtliche Bedenken bestehen jedoch gegen die
rechtlichen Ausführungen, mit denen das Berufungsgericht jegliche
Anspruchsmöglichkeit für die Klägerin gegen die Beklagte verneint. Die
Beklagte könnte aufgrund der Übernahme der Streu- und Räumpflicht deliktisch
zum Schadensersatz und damit auch zur Zahlung eines Schmerzensgeldes
verpflichtet sein.
9 a) Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats können
Verkehrssicherungspflichten mit der Folge eigener Entlastung delegiert
werden. Die Verkehrssicherungspflichten des ursprünglich Verantwortlichen
verkürzen sich dann auf Kontroll- und Überwachungspflichten. Wer sie
übernimmt, wird seinerseits deliktisch verantwortlich. Voraussetzung hierfür
ist, dass die Übertragung klar und eindeutig vereinbart wird (vgl.
Senatsurteile vom 4. Juni 1996 - VI ZR 75/95 - VersR 1996, 1151, 1152; vom
17. Januar 1989 - VI ZR 186/88 -VersR 1989, 526 f. und vom 8. Dezember 1987
- VI ZR 79/87 - VersR 1988, 516, 517; OLG Hamm VersR 2000, 862; OLG Nürnberg
VersR 1996, 900; OLG Düsseldorf NJW 1992, 2972; VersR 1995, 535; OLG Celle
RuS 1997, 501; Geigel/Wellner, Der Haftpflichtprozess 25. Aufl. Kap. 14 Rn.
204). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist hingegen nicht
erforderlich, dass die nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften
erforderliche Anzeige der Übertragung gegenüber der zuständigen Behörde
erfolgt ist. Die deliktische Einstandspflicht des mit der Wahrnehmung der
Verkehrssicherung Beauftragten besteht auch dann, wenn der Vertrag mit dem
Primärverkehrssicherungspflichtigen nicht rechtswirksam zustande gekommen
ist (vgl. Senatsurteil vom 17. Januar 1989 - VI ZR 186/88 - aaO;
BGB-RGRK/Steffen 12. Aufl., § 823 Rn. 129; Münch-Komm-BGB/Wagner, 4. Aufl.,
§ 823 Rn. 288 f.; Soergel/Krause, BGB, 13. Aufl., § 823 Anh. II Rn. 53 f.;
Staudinger/J. Hager (1999) § 823 BGB E 64; von Bar, Verkehrspflichten, 1980,
S. 121). Entscheidend ist, dass der in die Verkehrssicherungspflicht
Eintretende faktisch die Verkehrssicherung für den Gefahrenbereich übernimmt
und im Hinblick hierauf Schutzvorkehrungen durch den primär
Verkehrssicherungspflichtigen unterbleiben, weil sich dieser auf das
Tätigwerden des Beauftragten verlässt. Dieser ist aufgrund der von ihm
mitveranlassten neuen Zuständigkeitsverteilung für den übernommenen
Gefahrenbereich nach allgemeinen Deliktsgrundsätzen verantwortlich. Insofern
ist seine Verkehrssicherungspflicht nicht abgeleiteter Natur. Vielmehr
erfährt sie mit der Übernahme durch den Beauftragten in seine Zuständigkeit
eine rechtliche Verselbständigung. Er ist es fortan, dem unmittelbar die
Gefahrenabwehr obliegt und der dafür zu sorgen hat, dass niemand zu Schaden
kommt. Inhalt und Schutzbereich dieser verselbständigten
Verkehrssicherungspflicht bestimmen sich allein danach, was objektiv
erforderlich ist, um mit der Gefahrenstelle in Berührung kommende Personen
vor Schaden zu bewahren.
10 b) Hat die Beklagte die von ihr übernommene Verpflichtung zur Streuung
des Fußweges schuldhaft verletzt, ist die Klägerin infolgedessen gestürzt
und sind die geltend gemachten Verletzungen darauf zurückzuführen, ist der
Anspruch dem Grunde nach zu bejahen. Ob dies der Fall ist, kann der
erkennende Senat aufgrund der vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen
nicht entscheiden.
11 3. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommen - da es sich
um einen Altfall handelt nur hinsichtlich des materiellen Schadens (Art. 229
§§ 5, 8 Abs. 1 EGBGB) - auch vertragliche Schadensersatzansprüche aufgrund
der Schutzwirkung des Vertrages zwischen dem Eigentümer und der Beklagten zu
Gunsten der Klägerin in Betracht. In den Schutzbereich eines Vertrages sind
Dritte einbezogen, auf die sich Schutz- und Fürsorgepflichten aus
vertraglichen Vereinbarungen nach dem Vertragszweck zwangsläufig erstrecken.
Um die Schutzpflichten zugunsten Dritter nicht zu weit auszudehnen, ist
allerdings erforderlich, dass der Dritte bestimmungsgemäß mit der
Hauptleistung in Berührung kommt und der Gläubiger ein schutzwürdiges
Interesse an der Einbeziehung des Dritten in den Schutzbereich des Vertrages
hat (vgl. BGHZ 133, 168, 171 ff.). Mit Recht weist die Revision
darauf hin, dass im Streitfall diese Voraussetzungen zu bejahen sind. Die
Sicherung des unmittelbaren Zugangs zum Haus bei Schnee- und Eisglätte ist
Aufgabe des Vermieters. Sie dient vor allem dem Schutz der Mieter (vgl.
Senatsurteil vom 12. Juli 1968 - VI ZR 134/67 - VersR 1968, 1161;
Palandt/Weidenkaff BGB 67. Aufl. § 535 Rn. 60). Dass die Übertragung der
Streupflicht den sicheren Zugang der Mieter zum Haus und damit u.a. für die
Klägerin gewährleisten sollte, liegt auf der Hand. Dies war auch für die
Beklagte ohne weiteres erkennbar.
12 4. Nach alledem ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das
Berufungsgericht zur weiteren Sachaufklärung zurückzuverweisen.
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