Produzentenhaftung nach
ProdHaftG: Begriff des Produktfehlers (§ 3 ProdHaftG), berechtigte
Verkehrserwartung ("Kirschtaler"), Verkehrssicherungspflichten
BGH, Urteil vom 17. März
2009 - VI ZR 176/08
Fundstelle:
NJW 2009, 1669
Amtl. Leitsatz:
Zur Produktsicherheit
eines Gebäckstücks mit einer Kirschfüllung ("Kirschtaler").
Zentrale Probleme:
Eine sehr vernünftige Entscheidung zur
Produzentenhaftung, die zugleich sehr lehrreich für den Begriff des
Produktfehlers i.S.v. § 3 ProdHaftG sowie zugleich für die deliktische
Verkehrssicherungspflicht des Produzenten im Rahmen von § 823 I BGB ist.
Lesen! S. auch BGH v.
16.6.2009 - VI ZR 107/08 sowie
BGH NJW 2009, 1080 sowie
BGH v. 25.2.2014 - VI
ZR 144/13.
©sl 2009
Tatbestand:
1 Der Kläger nimmt die Beklagte, die eine Bäckerei und Konditorei betreibt,
auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Er verzehrte
am 29. Januar 2007 einen von der Beklagten hergestellten Kirschtaler, ein
Gebäckstück mit Kirschfüllung und Streuselbelag. Zur Herstellung der Füllung
verwendet die Beklagte Dunstsauerkirschen, die im eigenen Saft liegen und
über einen Durchschlag abgesiebt werden. Beim Verzehr dieses Gebäckstücks
biss der Kläger auf einen darin eingebackenen Kirschkern. Dabei brach ein
Teil seines oberen linken Eckzahns ab. Für die dadurch erforderlich
gewordene zahn-prothetische Versorgung hatte der Kläger einen Eigenanteil
von 235,60 € zu zahlen. Er begehrt Ersatz dieser Kosten sowie ein
angemessenes Schmerzensgeld (Vorstellung: 200,00 €).
2 Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben und die Berufung zugelassen.
Diese hatte keinen Erfolg. Mit der vom Landgericht zugelassenen Revision
verfolgt die Beklagte ihr Klageabweisungsbegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
3 Das Berufungsgericht bejaht eine Haftung der Beklagten gemäß §§ 1 Abs. 1,
8 Satz 1 und 2 ProdHaftG. Es meint, der von der Beklagten hergestellte
Kirschtaler habe wegen des darin eingebackenen Kirschkerns einen
Produktfehler aufgewiesen. Ein Haftungsausschluss nach § 1 Abs. 2 Nr. 5
ProdHaftG komme nicht in Betracht.
II.
4 Dagegen wendet sich die Revision mit Erfolg.
5 1. Das Berufungsgericht geht rechtlich einwandfrei davon aus, dass ein
Produkt gemäß § 3 Abs. 1 ProdHaftG einen Fehler hat, wenn es nicht die
Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände
berechtigterweise erwartet werden kann.
6 a) Die nach § 3 Abs. 1 ProdHaftG maßgeblichen Sicherheitserwartungen
beurteilen sich grundsätzlich nach denselben objektiven Maßstäben wie die
Verkehrspflichten des Herstellers im Rahmen der deliktischen Haftung gemäß §
823 Abs. 1 BGB (vgl. Staudinger/Oechsler, BGB [2003], § 3 ProdHaftG, Rn.
19, MünchKomm-BGB/Wagner, 5. Aufl., § 3 ProdHaftG, Rn. 3; Kullmann/Pfister,
Produzentenhaftung [Stand: September 2008], Bd. I., Kza 1515, S.7; Kullmann,
Produkthaftungsrecht, 5. Aufl., Rn. 435). Auf welchen Personenkreis für die
Bestimmung des zu erwartenden Sicherheitsniveaus abzustellen ist, lässt der
Wortlaut des Gesetzes offen. In der Literatur wird hierzu teilweise auf
den Erwartungshorizont der durch die fehlende Produktsicherheit betroffenen
Allgemeinheit (Staudinger/Oechsler, aaO, Rn. 15 m.w.N.), teilweise
aber auch auf die Erwartung des durchschnittlichen Benutzers oder
Verbrauchers abgestellt (vgl. Kullmann, aaO, Rn. 435 f.). In der
Sache besteht jedoch Einigkeit, dass es für die Bestimmung des
Fehlerbegriffs nicht auf die subjektiven Sicherheitserwartungen des konkret
Geschädigten ankommt, sondern dass in erster Linie die
Sicherheitserwartungen des Personenkreises maßgeblich sind, an den sich der
Hersteller mit seinem Produkt wendet. Da der Schutzbereich der Haftung
nach dem Produkthaftungsgesetz indessen nicht auf die Erwerber oder Nutzer
von Produkten beschränkt ist, sondern auch unbeteiligte Dritte
einschließt, sind nicht nur die Sicherheitserwartungen des Adressatenkreises
des vermarkteten Produkts zu berücksichtigen, sondern darüber hinaus auch
das Schutzniveau, welches Dritte berechtigterweise erwarten können, sofern
sie mit der Sache in Berührung kommen (MünchKomm-BGB/Wagner, aaO, Rn. 5;
Staudinger/Oechsler, aaO, Rn. 15 ff. und Rn. 20). Maßgeblich ist der
Sicherheitsstandard, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende
Verkehrsauffassung für erforderlich hält (Senatsurteil vom 16. Februar 1972
- VI ZR 111/70 - VersR 1972, 559, 560).
7 b) Ist die Ware für den Endverbraucher bestimmt, muss sie erhöhten
Sicherheitsanforderungen genügen, die auf Wissen und
Gefahrsteuerungspotential des durchschnittlichen Konsumenten Rücksicht
nehmen (MünchKomm-BGB/Wagner, aaO, Rn. 8; Schmidt-Salzer/Hollmann,
Kommentar EG-Richtlinie Produkthaftung, 2. Aufl., Bd. 1, Art. 6 Rn. 122).
Die Haftung des Herstellers erweitert sich gegenüber den allgemeinen
Maßstäben dann, wenn seine Produkte an Risikogruppen vertrieben werden bzw.
diese typischerweise gefährden. Dementsprechend bestimmt Art. 2 lit. b
der Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95 EG (ABl. EG L 11 vom 15. Januar
2002, S. 4), dass die Produktsicherheit auch von den Erwartungen solcher
Produktbenutzer abhängt, die bei der Verwendung des Produkts einem erhöhten
Risiko ausgesetzt sind. In diesem Zusammenhang werden ausdrücklich vor
allem Kinder genannt (vgl. Staudinger/Oechsler, aaO, Rn. 28). Wird
ein Produkt mehreren Adressatenkreisen dargeboten, hat sich der Hersteller
an der am wenigsten informierten und zur Gefahrsteuerung kompetenten Gruppe
zu orientieren, also den jeweils höchsten Sicherheitsstandard zu
gewährleisten (Foerste in: v. Westphalen, Produkthaftungshandbuch, 2.
Aufl., Bd. 2, § 74, Rn. 46; MünchKomm-BGB/Wagner, aaO).
8 c) Zur Gewährleistung der erforderlichen Produktsicherheit hat der
Hersteller diejenigen Maßnahmen zu treffen, die nach den Gegebenheiten
des konkreten Falles zur Vermeidung bzw. Beseitigung einer Gefahr objektiv
erforderlich und nach objektiven Maßstäben zumutbar sind (Kullmann/Pfister,
aaO; Foerste, aaO, § 24, Rn. 1). Dabei sind Art und Umfang einer
Sicherungsmaßnahme vor allem von der Größe der Gefahr abhängig (vgl.
Senatsurteil BGHZ 80, 186, 192). Je größer die Gefahren sind, desto höher
sind die Anforderungen, die in dieser Hinsicht gestellt werden müssen
(Senatsurteil vom 26. Mai 1954 - VI ZR 4/53 - VersR 1954, 364, 365; vgl.
auch Senatsurteil BGHZ 116, 60, 67 f. und BVerfG, NJW 1997, 249). Bei
erheblichen Gefahren für Leben und Gesundheit von Menschen sind dem
Hersteller deshalb weitergehende Maßnahmen zumutbar als in Fällen, in denen
nur Eigentums- oder Besitzstörungen oder aber nur kleinere körperliche
Beeinträchtigungen zu befürchten sind (vgl. Senatsurteil BGHZ 99, 167, 174
f.).
9 2. Nach diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht den von der Beklagten
hergestellten Kirschtaler zu Unrecht als fehlerhaft beurteilt.
10 a) Da es sich bei einem Gebäckstück um ein für den Endverbraucher
bestimmtes Lebensmittel handelt, muss es zwar grundsätzlich erhöhten
Sicherheitsanforderungen genügen (vgl. Kullmann/Pfister, aaO, Kza 1520, S.
25). Dem steht entgegen der Auffassung der Revision auch nicht entgegen,
dass es sich bei der Kirschfüllung um ein Naturprodukt handelt. Der
Verbraucher, der ein verarbeitetes Naturprodukt verzehrt, darf davon
ausgehen, dass sich der Hersteller im Rahmen des Verarbeitungsprozesses
eingehend mit dem Naturprodukt befasst und dabei Gelegenheit gehabt hat, von
dem Naturprodukt ausgehende Gesundheitsrisiken zu erkennen und zu
beseitigen, soweit dies möglich und zumutbar ist (vgl. Buchwaldt, ZLR
1999, 417, 421).
11 b) Wie die Revision mit Recht geltend macht, kann aus Sicht des
Konsumenten bei einer aus Steinobst bestehenden Füllung eines Gebäckstücks
nicht ganz ausgeschlossen werden, dass dieses in seltenen Fällen auch einmal
einen kleinen Stein oder Teile davon enthält. Eine vollkommene Sicherheit
wäre nur dann zu erreichen, wenn der Hersteller entweder die Kirschen durch
ein engmaschiges Sieb drücken würde, wodurch nur Kirschsaft hervorgebracht
würde, mit dem die Herstellung eines Kirschtalers nicht möglich wäre, oder
wenn er jede einzelne Kirsche auf eventuell noch vorhandene Kirschsteine
untersuchen würde. Ein solcher Aufwand ist dem Hersteller nicht zumutbar. Er
ist aber auch objektiv nicht erforderlich, da dem Verbraucher, der auf einen
eingebackenen Kirschkern beißt, keine schwerwiegende Gesundheitsgefahr
droht, die um jeden Preis und mit jedem erdenklichen Aufwand vermieden oder
beseitigt werden müsste.
12 Eine völlige Gefahrlosigkeit kann der Verbraucher nicht erwarten.
Das Maß der Verkehrssicherheit, das von einem Produkt berechtigterweise
erwartet werden kann, hängt u.a. von seiner Darbietung (§ 3 Abs. 1 lit. a
ProdHaftG), also von der Art und Weise ab, in der es in der Öffentlichkeit
präsentiert wird (Kullmann/Pfister, aaO, Kza 3604, S. 10). Bei einem
Gebäckstück, das unter der Bezeichnung "Kirschtaler" angeboten wird, geht
der Verbraucher davon aus, dass es unter Verwendung von Kirschen hergestellt
wird. Der Verbraucher weiß auch, dass die Kirsche eine Steinfrucht ist und
dass ihr Fruchtfleisch mithin einen Stein (Kirschkern) enthält. Seine
Sicherheitserwartung kann deshalb berechtigterweise nicht ohne weiteres
darauf gerichtet sein, dass das Gebäckstück "Kirschtaler" zwar Kirschen,
aber keinerlei Kirschkerne enthält. Eine solche Erwartung wäre vielmehr nur
dann berechtigt, wenn bei der Darbietung eines solchen Gebäckstücks der
Eindruck erweckt würde, dass dieses ausschließlich vollkommen entsteinte
Kirschen enthält. Daran fehlt es im Streitfall.
III. 13 Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. |