Produkthaftung nach dem ProdHaftG für die
Lieferung von Strom: Elektrizität als Produkt (§ 2 ProdHaftG); Begriff des
Produktfehlers (§ 3 ProdHaftG) und des Herstellers (§ 4 ProdHaftG);
richtlinienkonforme Auslegung des ProdhaftG; keine Vorlagepflicht nach Art.
269 AEUV bei "acte clair"
BGH, Urteil vom 25. Februar 2014 - VI
ZR 144/13 - LG Wuppertal
Fundstelle:
NJW 2014, 2106
BGHZ 200, 242
Amtl. Leitsatz:
a) Führt eine übermäßige Überspannung zu Schäden
an üblichen Verbrauchsgeräten, liegt ein Fehler des Produkts Elektrizität
vor.
b) Nimmt der Betreiber des Stromnetzes Transformationen auf eine andere
Spannungsebene - hier in die sogenannte Niederspannung für die
Netzanschlüsse von Letztverbrauchern - vor, ist er Hersteller des Produkts
Elektrizität.
c) In diesem Fall ist das Produkt Elektrizität erst mit der Lieferung des
Netzbetreibers über den Netzanschluss an den Anschlussnutzer in den Verkehr
gebracht.
Zentrale Probleme:
Eine überaus lehrreiche Entscheidung
zum Produkthaftungsgesetz, in deren Mittelpunkt der Begriff des Herstellers
(§ 4 Abs. 1 ProdHaftG) steht. Aufgrund eines technischen Fehlers bei einem
Betreiber eines kommunalen Stromnetzes kam es zu einer Überspannung, durch
welche Hausgeräte des Klägers beschädigt worden. Dieser macht nun ein
Schadensersatzanspruch nach § 1 ProdHaftG geltend. Dass auch elektrische
Energie ein „Produkt“ im Sinne des Produkthaftungsgesetzes sein kann, ergibt
sich aus § 2 ProdHaftG. Hersteller ist nach § 4 Abs. 1 ProdHaftG, wer das
Endprodukt, einen Grundstoff oder ein Teilprodukt hergestellt hat. Nicht
definiert wird dort der Begriff des Herstellens. Diesen leitet der Senat aus
einer richtlinienkonformen Auslegung her. Hersteller ist danach jeder, in
dessen Organisationsbereich das Produkt entstanden ist. Das ist abzugrenzen
vom bloßen Lieferanten (§ 4 Abs. 3 ProdHaftG). Es kommt damit darauf an, ob
die betreffende Person in die Produktgestaltung oder in eine wesentliche
Produkteigenschaft eingegriffen hat, oder ob nur eine unerhebliche
Manipulation am Produkt erfolgt ist (z.B. Verpackung). Weiter befasst sich
die Entscheidung mit dem Begriff des Inverkehrbringens sowie mit der Frage
eines Haftungsausschlusses nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 ProdHaftG (kein Vorliegen
des Mangels bei Inverkehrbringen).Trotz der vielfältigen
Fragen der richtlinienkonformen Auslegung vor dem Hintergrund der
Produkthaftungsrechts Linie liegt der Senat die Frage der Auslegung der
Richtlinie nicht nach Art. 269 AEUV an den EuGH vor, weil ein so genannter "acte
clair" vorliegt.
©sl 2014
Tatbestand:
1 Der Kläger macht gegen die Beklagte Schadensersatz wegen eines
Überspannungsschadens geltend. Die Beklagte ist Betreiberin eines kommunalen
Stromnetzes und stellt dieses den Stromproduzenten (Einspeisern) und
Abnehmern zur Verfügung. Dazu transformiert sie den Strom auf eine andere
Spannungsebene (Niederspannung). Der Kläger ist mit seinem Haus an das
Niederspannungsnetz der Beklagten angeschlossen.
2 Am 6. Mai 2009 gab es eine Störung der Stromversorgung im Wohnviertel des
Klägers. Nach einem Stromausfall trat in seinem Hausnetz eine
Überspannung auf, durch die mehrere Elektrogeräte und die Heizung beschädigt
wurden. Die Ursache für die Überspannung lag in der Unterbrechung
von zwei sogenannten PEN-Leitern (PEN = protective earth neutral) in der
Nähe des Hauses des Klägers, über die sein Haus mit der Erdungsanlage
verbunden war.
3 Das Amtsgericht hat die auf Zahlung von 2.847,37 € nebst Zinsen und Kosten
gerichtete Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das
Landgericht das Urteil des Amtsgerichts teilweise abgeändert und die
Beklagte zur Zahlung von 2.347,37 € nebst Zinsen und Kosten an den Kläger
verurteilt. Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Mit ihrer vom
Landgericht zugelassenen Revision erstrebt die Beklagte die
Wiederherstellung des amtsgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe:
I.
4 Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht dem Kläger nach § 1 Abs. 1
ProdHaftG ein Anspruch auf Schadensersatz gegen die Beklagte abzüglich der
Selbstbeteiligung von 500 € gemäß § 11 ProdHaftG zu. Elektrizität sei nach §
2 ProdHaftG vom Schutzbereich des Gesetzes als Produkt umfasst. Ein Fehler
im Sinne des § 3 ProdHaftG liege vor, wenn berechtigte
Sicherheitserwartungen hinsichtlich des gelieferten Stroms enttäuscht
würden, also wenn er unzulässige Spannungs- oder Frequenzschwankungen
aufweise. Die Beklagte sei jedenfalls deshalb im Sinne des § 4 ProdHaftG als
Herstellerin der fehlerhaften Elektrizität anzusehen, weil sie das Produkt -
durch Transformation auf eine andere Spannungsebene - verändert habe.
5 Ansprüche aus dem Produkthaftungsgesetz seien nicht durch § 18
Niederspannungsanschlussverordnung (NAV) gesperrt. Der Norm könne keine
Beschränkung der Haftung auf verschuldensabhängige Tatbestände entnommen
werden.
II.
6 Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Nachprüfung stand.
Das Berufungsgericht hat mit Recht eine Haftung der Beklagten für
die durch die Überspannung verursachten Schäden gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1, §
2,§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 ProdHaftG bejaht.
7 1. Das Berufungsgericht ist rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass durch
einen Fehler des Produkts Elektrizität Schäden an üblichen Verbrauchsgeräten
des Klägers entstanden sind. Gemäß § 2 ProdHaftG ist neben
beweglichen Sachen auch Elektrizität ein Produkt im Sinne des
Produkthaftungsgesetzes. Nach den getroffenen Feststellungen wies
die Elektrizität aufgrund der Überspannung einen Fehler gemäß § 3
Abs. 1 ProdHaftG auf, der die Schäden an den Elektrogeräten und der
Heizung verursacht hat.
8 Ein Produkt hat nach § 3 Abs. 1 ProdHaftG einen Fehler, wenn es
nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände
berechtigterweise erwartet werden kann. Abzustellen ist dabei nicht
auf die subjektive Sicherheitserwartung des jeweiligen Benutzers,
sondern objektiv darauf, ob das Produkt diejenige Sicherheit bietet, die die
in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für
erforderlich hält (vgl. Senatsurteile vom
16. Juni 2009 - VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 Rn. 12 mwN; vom
17. März 2009 - VI ZR 176/08, VersR 2009, 649 Rn. 6;
vom 5. Februar 2013 - VI ZR 1/12, VersR 2013, 469 Rn. 12). Die nach
§ 3 Abs. 1 ProdHaftG maßgeblichen Sicherheitserwartungen beurteilen sich
grundsätzlich nach denselben objektiven Maßstäben wie die Verkehrspflichten
des Herstellers im Rahmen der deliktischen Haftung gemäß § 823 Abs. 1 BGB
(vgl. Senatsurteil vom 16. Juni 2009 - VI
ZR 107/08, aaO mwN). Dabei kann die Beachtung gesetzlicher
Sicherheitsvorschriften oder die Befolgung technischer Normen, wie z.B.
DIN-Normen oder sonstiger technischer Standards, von Bedeutung sein, wobei
dies allerdings nicht bedeutet, dass ein Produkt bei Befolgung solcher
Normen immer als fehlerfrei angesehen werden müsste (vgl.
BT-Drucks. 11/2447, S. 19; Kullmann in Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler,
Produzentenhaftung, Kza 3604 II 3 b bb [Stand: Juni 2010]; Palandt/Sprau,
BGB, 73. Aufl., § 3 ProdHaftG Rn. 4; zu Verkehrssicherungspflichten
Senatsurteil vom 9. September 2008 - VI ZR 279/06,
VersR 2008, 1551 Rn. 16 mwN).
9 Die Verordnung über Allgemeine Bedingungen für den Netzanschluss und
dessen Nutzung für die Elektrizitätsversorgung in Niederspannung vom 1.
November 2006 (Niederspannungsanschlussverordnung - NAV, BGBl. I S. 2477,
zuletzt geändert durch Art. 4 der Verordnung vom 3. September 2010, BGBl. I
S. 1261) konkretisiert in ihrem Anwendungsbereich die berechtigten
Sicherheitserwartungen an das Produkt Elektrizität (vgl. zu der
Vorgängerverordnung AVBEltV Klein, BB 1991, 917, 920; ders., Die Haftung der
Versorgungsunternehmen für Störungen in der Versorgungszufuhr, 1988, S. 247
f.; Schmidt-Salzer in Schmidt-Salzer/Hollmann, Kommentar zur EG-Richtlinie
Produkthaftung, Band 1, 1986, Art. 2 Rn. 80 mit Fn. 48; Staudinger/Oechsler,
BGB, Neubearb. 2014, § 2 ProdHaftG Rn. 49). Gemäß § 16 Abs. 3 NAV hat der
Netzbetreiber Spannung und Frequenz möglichst gleichbleibend zu halten;
allgemein übliche Verbrauchsgeräte und Stromerzeugungsanlagen müssen
einwandfrei betrieben werden können (siehe auch Ahnis/de Wyl, IR 2007, 77,
80; zu Spannung und Frequenz § 7 NAV, § 5 Abs. 1
Stromgrundversorgungsverordnung - StromGVV).
10 Danach liegt ein Verstoß gegen die berechtigten
Sicherheitserwartungen in das Produkt Elektrizität jedenfalls dann vor, wenn
eine Überspannung wie im Streitfall zu Schäden an üblichen Verbrauchsgeräten
führt (vgl. Ahnis/de Wyl, aaO; Hartmann in Danner/Theobald,
Energierecht, IV., § 16 NAV Rn. 9 f. [Stand: Januar 2007]; de Wyl/Eder/Hartmann,
Netzanschluss- und Grundversorgungsverordnungen, 2008, § 16 NAV Rn. 3).
In diesem Fall ist der Bereich der Spannungsschwankungen, mit denen der
Verkehr rechnen muss, nicht mehr eingehalten. Es wird allgemein angenommen,
dass zumindest bei übermäßigen Frequenz- oder Spannungsschwankungen eine
Haftung nach § 1 ProdHaftG ausgelöst werden kann (vgl. Graf von
Westphalen in Foerste/Graf von Westphalen, Produkthaftungshandbuch, 3.
Aufl., § 47 Rn. 26; Lenz in Lenz, Produkthaftung, 2014, § 3 Rn. 299; Lorenz,
ZHR 151 (1987), 1, 18; Kullmann in Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler,
Produzentenhaftung, Kza 3603 II 1 [Stand: September 2008] und in ProdHaftG,
6. Aufl., § 2 Rn. 5; Mayer, VersR 1990,
691, 697; MüKoBGB/Wagner, 6. Aufl., § 2 ProdHaftG Rn. 3; Palandt/Sprau, aaO,
§ 2 ProdHaftG Rn. 1 aE; Staudinger/Oechsler, aaO, Rn. 45; Unbe-rath/Fricke,
NJW 2007, 3601, 3604).
11 Die Revision wendet ohne Erfolg ein, das Berufungsgericht habe nicht
berücksichtigt, dass nach den Ausführungen des gerichtlichen
Sachverständigen die redundante Auslegung des Niederspannungsnetzes der
Beklagten dem Stand der Technik sowie der geübten Praxis in vielen deutschen
Verteilungsnetzen entsprochen und die Anforderungen an die ausreichende
Versorgungsqualität erfüllt habe. Denn abzustellen ist bei der
verschuldensunabhängigen Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz allein auf
den Fehler des Produkts, nicht hingegen darauf, ob und ggf. welche Fehler
dem Produktionsvorgang selbst oder den diesem nachfolgenden Prozessen
anhafteten. Im Streitfall war das Produkt Elektrizität fehlerhaft,
weil - wegen der Unterbrechung der beiden PEN-Leiter - eine übermäßige
Überspannung auftrat. Offenbleiben kann, wie die von der Revision
angesprochenen Fälle zu beurteilen sind, in denen die Unregelmäßigkeiten auf
besondere Umstände wie etwa Naturgewalten zurückzuführen sind.
12 2. Die Beklagte ist als Herstellerin des fehlerhaften Produkts
Elektrizität gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 ProdHaftG anzusehen.
13 a) Nach dieser Vorschrift ist Hersteller im Sinne des
Produkthaftungsgesetzes, wer das Endprodukt, einen Grundstoff oder ein
Teilprodukt hergestellt hat. Ebenso wie Art. 3 Abs. 1 der
Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der
Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für
fehlerhafte Produkte (ABl. Nr. L 210 vom 7. August 1985, S. 29,
zuletzt geändert durch Art. 1 der Richtlinie 1999/34/EG vom 10. Mai 1999,
ABl. Nr. L 141 vom 4. Juni 1999, S. 20) definiert § 4 Abs. 1 Satz 1
ProdHaftG weder den Begriff des Herstellens noch den Begriff des Herstellers
direkt. Er bestimmt nur, wer dem Herstellerkreis haftungsrechtlich
zugeordnet werden muss (vgl. Taschner/Frietsch,
Produkthaftungsrecht und EG - Produkthaftungsrichtlinie, 2. Aufl., ProdHaftG
§ 4 Rn. 4; Graf von Westphalen, aaO, § 49 Rn. 2). Wer im Einzelfall
Hersteller des Produkts Elektrizität ist, ist im Wege einer
richtlinienkonformen Auslegung des § 4 Abs. 1 Satz 1 ProdHaftG zu ermitteln
(vgl. EuGH, Urteil vom 29. Mai 1997 - C-300/95, Slg. 1997, I-2649 Rn. 38;
Lenz, aaO, § 3 Rn. 277; Staudinger/Oechsler, aaO, Einl. zum ProdHaftG Rn. 43
ff.). Die Auslegung muss sich so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der
Richtlinie ausrichten, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen
(vgl. BGH, Urteile vom 26. November 2008 - VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 Rn.
19 mwN; vom 21. Dezember 2011 - VIII ZR 70/08, BGHZ 192, 148 Rn. 24 mwN). In
diesem Zusammenhang ist im Streitfall insbesondere zu berücksichtigen, dass
die Richtlinie 85/374/EWG unter anderem das Ziel
verfolgt, den Schutz der Verbraucher zu gewährleisten (vgl. EuGH, Urteil vom
21. Dezember 2011 - C-495/10, VersRAI 2012, 34 Rn. 22, 31 - Dutrueux).
14 b) Zur Richtlinie 85/374/EWG hat der Europäische Gerichtshof unter
Bezugnahme auf die Begründung des Richtlinienvorschlags vom 9. September
1976 (Bulletin der EG, Beilage 11/76, Erl. zu Art. 1 Nr. 6 = BT-Drucks.
7/5812, S. 6 f. zu Art. 1 Buchst. e) darauf hingewiesen, dass nach Abwägung
der jeweiligen Rollen der verschiedenen in den Herstellungs- und
Vertriebsketten tätig werdenden Wirtschaftsteilnehmer die Entscheidung
getroffen wurde, die Haftung für durch fehlerhafte Produkte verursachte
Schäden in der durch die Richtlinie geschaffenen rechtlichen Regelung
grundsätzlich dem Hersteller und nur in einigen beschränkten Fällen dem
Importeur und dem Lieferanten aufzubürden. Da der Lieferant in der
überwiegenden Mehrzahl der Fälle lediglich das gekaufte Produkt unverändert
weitergibt und nur der Hersteller die Möglichkeit hat, auf die Qualität des
Produktes einzuwirken, wird es als angebracht angesehen, die Haftung für
fehlerhafte Produkte auf den Hersteller zu konzentrieren (vgl. EuGH,
Urteil vom 10. Januar 2006 - C-402/03, NJW 2006, 1409 Rn. 27 ff
- Skov und Bilka; Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-495/10, aaO, Rn. 25
- Dutrueux).
15 c) Bei der Auslegung des Herstellerbegriffs ist der enge Zusammenhang zu
dem Produktbegriff des § 2 ProdHaftG zu berücksichtigen (vgl. Staudinger/Oechsler,
aaO, § 4 ProdHaftG Rn. 12; Graf von Westphalen, aaO, § 49 Rn. 3). Der
Herstellerbegriff setzt danach grundsätzlich das "Erzeugen eines Produkts"
im Sinne des § 2 ProdhaftG voraus (vgl. Kullmann in Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler,
aaO, Kza 3605 I 2 b [Stand: Juni 2009]). Nach der Begründung des
Richtlinienvorschlags vom 9. September 1976 sind mit dem Begriff des
Herstellers alle Personen gemeint, die in eigener Verantwortung an dem
Prozess der Herstellung des Produkts beteiligt waren (vgl. Bulletin der EG,
Beilage 11/76, Erl. zu Art. 2 Nr. 7 = BT-Drucks. 7/5812, S. 7 zu Art. 2
Buchst. a). In diesem Sinne wird auch im vierten Erwägungsgrund der
Richtlinie ausgeführt, dass es der Schutz des Verbrauchers erfordert, dass
alle am Produktionsprozess Beteiligten haften, wenn das Endprodukt oder der
von ihnen gelieferte Bestandteil oder Grundstoff fehlerhaft ist (vgl. EuGH,
Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-495/10, aaO, Rn. 23 - Dutrueux; Taschner/Frietsch,
aaO, § 4 Rn. 3 f.).
16 d) Hersteller ist demnach jeder, in dessen Organisationsbereich
das Produkt entstanden ist (vgl. Brüggemeier/Reich, WM 1986, 149, 151; MüKoBGB/Wagner,
aaO, § 4 ProdHaftG Rn. 6; PWW/Schaub, BGB, 8. Aufl.,
§ 4 ProdHaftG Rn. 2; Soergel/Krause, BGB, 13. Aufl., § 4 ProdHaftG Rn. 3;
siehe auch OLG Düsseldorf, IHR 2012, 197, 201; Staudinger/Oechsler, aaO, § 4
ProdHaftG Rn. 10). Der Umkehrschluss aus der Lieferantenhaftung nach § 4
Abs. 3 ProdHaftG ergibt, dass die Herstellung vom Produktvertrieb bzw.
Produkthandel abzugrenzen ist (Staudinger/Oechsler, aaO, Rn. 8).
Für die
Abgrenzung ist entscheidend, ob in die Produktgestaltung oder in eine
wesentliche Produkteigenschaft eingegriffen wird oder ob eine im Vergleich
mit dem Herstellungsprozess nur unerhebliche Manipulation am Produkt
erfolgt (Staudinger/Oechsler, aaO Rn. 37; Taschner/Frietsch, aaO, Rn. 23;
MüKoBGB/Wagner, aaO, Rn. 12; siehe auch die Beispi).ele bei Kullmann in Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler, aaO, Kza 3605 II 1 b [Stand: September
2008]; ders. ProdHaftG, 6. Aufl., § 4 Rn. 16 ff.). Dabei kommt es
insbesondere auf die sicherheitsrelevanten Eigenschaften des Produktes an
(vgl. OLG Düsseldorf, NJW-RR 2001, 458; MüKoBGB/Wagner, aaO, Rn. 7, 12).
Es
kommt hingegen nicht darauf an, ob der Hersteller zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts feststellbar war oder nicht. Dieser
Gesichtspunkt kann allein für die Frage von Bedeutung sein, ob ein Lieferant
gemäß § 4 Abs. 3 ProdHaftG wie
ein Hersteller haftet (Senatsurteil vom 21. Juni 2005 - VI ZR 238/03, VersR
2005, 1297, 1298).
17 e) Nach diesen Grundsätzen ist die Beklagte im Streitfall als
Herstellerin des Produkts Elektrizität anzusehen. Dies ergibt sich bereits
aus der Feststellung des Berufungsgerichts, dass die Beklagte als
Betreiberin des Stromnetzes in W. Transformationen auf eine andere
Spannungsebene, nämlich die sogenannte Niederspannung für die Netzanschlüsse
von Letztverbrauchern, vornimmt. In diesem Fall wird - anders als
bei einem reinen Lieferungs- oder Weiterverteilungsunternehmen - die Eigenschaft des
Produkts Elektrizität durch den Betreiber des Stromnetzes in entscheidender
Weise verändert, weil es nur nach der Transformation für den
Letztverbraucher mit den üblichen Verbrauchsgeräten nutzbar ist.
Folgerichtig wird auch im Schrifttum angenommen, dass in einem solchen Fall
der "Lieferant" der Elektrizität mit der von ihm geänderten Eigenschaft als
Hersteller anzusehen ist (vgl. MüKoBGB/Wagner, aaO, Rn. 12; Klein, BB 1991,
917, 921; Schweers, Vertragsbeziehungen und Haftung im novellierten
Energiewirtschaftsrecht, 2001, S. 141; Unberath/Fricke, aaO, 3605; für eine
- regelmäßig gegebene - Haftung nach § 4 Abs. 3 ProdHaftG Witzstrock, VersR
2002, 1457, 1460).
18 3. Die Revision beruft sich auch ohne Erfolg auf den Haftungsausschluss
nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 ProdHaftG. Sie meint, das Berufungsgericht habe
rechtsfehlerhaft nicht berücksichtigt, dass das Produkt Elektrizität zu dem
Zeitpunkt, zu dem der Strom in das Niederspannungsnetz eingespeist worden
sei, keine unzulässigen Spannungs- und Frequenzschwankungen aufgewiesen habe
und damit nicht fehlerhaft gewesen sei. Damit setzt sie jedoch den Zeitpunkt
des Inverkehrbringens zu früh an. Der Strom ist nicht mit der Einspeisung in
das Niederspannungsnetz in den Verkehr gebracht worden, sondern erst mit der
Belieferung des Klägers über den Netzanschluss. Zu diesem Zeitpunkt war das
Produkt Elektrizität fehlerhaft.
19 a) Nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 ProdHaftG ist die Ersatzpflicht des Herstellers
ausgeschlossen, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das
Produkt den Fehler, der den Schaden verursacht hat, noch nicht hatte, als
der Hersteller es in den Verkehr brachte. Der Begriff des Inverkehrbringens,
den die Richtlinie nicht definiert, ist unter Berücksichtigung der
Zielsetzung der Richtlinie und des mit ihr verfolgen Zwecks auszulegen. Die
Fälle, in denen der Hersteller sich von seiner Haftung befreien kann (Art. 7
der Richtlinie), sind dabei im Interesse der durch ein fehlerhaftes Produkt
Geschädigten eng auszulegen (vgl. EuGH, Urteile vom 10. Mai 2001 - C-203/99,
NJW 2001, 2781 Rn. 14 f.
- Veedfald; vom 9. Februar 2006 - C-127/04, NJW 2006, 825 Rn. 23 ff.
- O'Byrne).
20 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs setzt ein
Inverkehrbringen voraus, dass das Produkt den vom Hersteller eingerichteten
Prozess der Herstellung verlassen hat und in einen Prozess der Vermarktung
eingetreten ist, in dem es in ge- oder verbrauchsfertigem Zustand öffentlich
angeboten wird (vgl. EuGH, Urteil vom 9. Februar 2006 - C-127/04, aaO
- O'Byrne, zu Art. 11 der Richtlinie; Katzenmeier in Dauner-Lieb/Langen,
BGB, 2. Aufl., § 1 ProdHaftG Rn. 17; MüKoBGB/Wagner, aaO, § 1 ProdHaftG Rn.
24 ff.; Staudinger/Oechsler, aaO, § 1 ProdHaftG Rn. 44 ff.). Die Kommission
der Europäischen Gemeinschaften und die Begründungen zum Entwurf des
Produkthaftungsgesetzes haben eine Erläuterung des Begriffs des
Inverkehrbringens nicht als erforderlich angesehen, weil sich der Begriff
"aus seinem natürlichen Wortsinn von selbst verstehe" (Bulletin der EG,
Beilage 11/76, Erl. zu Art. 5 = BT-Drucks. 7/5812, S. 8 sowie BT-Drucks.
11/2447, S. 14). Die amtliche Begründung zu § 1 ProdhaftG führt dazu aus,
ein Produkt sei gewöhnlich in
den Verkehr gebracht, wenn es in die Verteilungskette gegeben worden sei,
also wenn der Hersteller es aufgrund seines Willensentschlusses einer
anderen Person außerhalb seiner Herstellersphäre übergeben habe (BT-Drucks.
11/2447, S. 14). Diese Ansicht wird jedenfalls hinsichtlich des
Endherstellers geteilt, weil aus seiner Perspektive ein Inverkehrbringen nur
die Abgabe an den Handel oder an den Endverbraucher sein könne
(Schmidt-Salzer, aaO, Art. 7 Rn. 15; vgl. auch § 6 des österreichischen
Produkthaftungsgesetzes, wonach ein Produkt in den Verkehr gebracht ist,
sobald es der Unternehmer einem anderen in dessen Verfügungsmacht oder zu
dessen Gebrauch übergeben hat).
21 b) Bei der Übertragung dieser Grundsätze auf den Streitfall ist zu beachten, dass Art. 7 der Richtlinie 85/374/EWG im Unterschied zu deren Art. 11
eng auszulegen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 9. Februar 2006 - C-127/04, aaO -
O'Byrne). Zudem sind die Besonderheiten des Produkts Elektrizität zu
berücksichtigen. Im Hinblick darauf liegt ein Inverkehrbringen des Produkts
Elektrizität erst mit der Lieferung des von dem Netzbetreiber übergabefähig
transformierten Stroms über den Netzanschluss an den Anschlussnutzer vor
(vgl. Katzenmeier in Dauner-Lieb/Langen, aaO; Klein, BB 1991, 917, 923; ders.,
Die Haftung der Versorgungsunternehmen für Störungen in der
Versorgungszufuhr, 1988, S. 245, 250 f.; Schweers, Vertragsbeziehungen und
Haftung im novellierten Energiewirtschaftsrecht, 2001, S. 142). Denn aus der
Niederspannungsanschlussverordnung ergibt sich, dass der Netzbetreiber
gerade für die Stromqualität am Netzanschluss verantwortlich ist. Der
Netzanschluss verbindet das Elektrizitätsversorgungsnetz der allgemeinen
Versorgung mit der elektrischen Anlage des Anschlussnehmers. Er beginnt an
der Abzweigstelle des Niederspannungsnetzes und endet grundsätzlich mit der
Hausanschlusssicherung (vgl. § 5 NAV). Netzanschlüsse werden durch den
Netzbetreiber hergestellt (§ 6 Abs. 1 Satz 1 NAV). Sie gehören noch zu den
Betriebsanlagen des Netzbetreibers (§ 8 Abs. 1 Satz 1 NAV). Die Nutzung
durch den Letztverbraucher mit den
üblichen Verbrauchsgeräten beginnt mithin beim Netzanschluss und setzt einen
fehlerfreien Strom zum Zeitpunkt der Entnahme des Stroms aus dem
Elektrizitätsversorgungsnetz der allgemeinen Versorgung voraus. Nur dies
wird den Interessen der durch die Richtlinie 85/374/EWG geschützten
geschädigten Anschlussnutzer gerecht, für die entscheidend ist, dass ihnen
eine fehlerfreie Elektrizität über ihren Stromanschluss zur Verfügung
gestellt wird. Das Argument der Revision, der Herstellungsprozess
"Umwandlung von Strom aus Mittelspannung in Niederspannung" sei mit der
fehlerfreien Umspannung und Einspeisung in das Niederspannungsnetz
abgeschlossen, greift zu kurz. Zwar qualifiziert - wie gezeigt - jedenfalls
die Umspannung die Beklagte als Herstellerin im Sinne des
Produkthaftungsgesetzes. Daraus folgt aber nicht, dass das Produkt
Elektrizität mit Abschluss des Umspannungsprozesses auch ihre Sphäre als
Herstellerin verlassen hätte. Denn ihre Verantwortung für die Qualität des
gelieferten Stroms (vgl. § 16 Abs. 3 und 4, § 7 NAV) wirkt bis zum Zeitpunkt
der Übergabe an den Anschlussnutzer weiter. Die Beklagte, welche dafür nach
§ 1 Abs. 4 ProdHaftG die Beweislast trägt, hat nichts dafür vorgetragen,
dass zu dem nach den vorstehenden Ausführungen maßgeblichen Zeitpunkt ein
fehlerfreies Produkt vorgelegen hat.
22 4. Das Berufungsgericht hat mit Recht und von der Revision unbeanstandet angenommen, dass die Vorschrift des § 18 NAV der Haftung der
Beklagten nicht entgegensteht. Es hat zutreffend auf die Begründung der
Niederspannungsanschlussverordnung hingewiesen, nach der § 18 NAV die
Haftung der Netzbetreiber nach dem Produkthaftungsgesetz unberührt lässt (BRDrucks.
367/06, S. 60). Dementsprechend bezieht § 18 Abs. 1 Satz 1 NAV sich schon
dem Wortlaut nach nur auf die Haftung aus Vertrag, Anschlussnutzungsverhältnis
oder unerlaubter Handlung.
23 5. Der erkennende Senat ist nicht gehalten, den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 1 bis 3 AEUV um eine Vorabentscheidung zu
ersuchen. Die Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte der Mitgliedstaaten
entfällt, wenn die betreffende gemeinschaftsrechtliche Bestimmung bereits
Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder wenn die richtige
Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass für einen
vernünftigen Zweifel kein Raum mehr bleibt (vgl. EuGH, Urteile vom 6.
Oktober 1982 - C-283/81 - CILFIT, Slg. 1982, 3415, 3429 f., Rn. 14 ff. und
vom 15. September 2005 - C-495/03 - Intermodal Transports, Slg. 2005,
I-8191, 8206 Rn. 33 und ständig; BGH, Beschluss vom 22. März 2010 - NotZ
16/09, BGHZ 185, 30 Rn. 33). Angesichts der augenfälligen
Herstellereigenschaft des den Strom transformierenden Netzbetreibers und der
daraus folgenden Verantwortung für die Stromqualität bei der Übergabe an den
Verbraucher ist letzteres der Fall.
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