Ergänzende
Vertragsauslegung und Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB)
BGH, Versäumnisurteil vom
9. Januar 2009 - V ZR 168/07
Fundstelle:
noch nicht bekannt
Amtl. Leitsatz:
Enthält die
schuldrechtliche Vereinbarung über die Bestellung eines Wohnungsrechts keine
Regelung, wie die Wohnung genutzt werden soll, wenn der Wohnungsberechtigte
sein Recht wegen Umzugs in ein Pflegeheim nicht mehr ausüben kann, kommt
eine ergänzende Vertragsauslegung in Betracht. Eine Verpflichtung des
Eigentümers, die Wohnung zu vermieten oder deren Vermietung durch den
Wohnungsberechtigten zu gestatten, wird dem hypothetischen Parteiwillen im
Zweifel allerdings nicht entsprechen.
Zentrale Probleme:
Eine sehr lehrreiche Entscheidung zur ergänzenden
Vertragsauslegung und ihrer Abgrenzung zur Geschäftsgrundlage, s. auch die
Anm. zu
BGH NJW 2007, 1884 sowie
BGH v. 10.2.2009 - VI ZR 28/08.
Zum Wohnungsrecht s. auch
BGH v. 13.7.2012 - V ZR 206/11.
©sl 2009
Tatbestand:
1 Die Beklagte erwarb 1979 von ihrer Mutter ein
Hausgrundstück zum Preis von 180.000 DM. In dem notariellen Vertrag
verpflichtete sie sich ferner, der Mutter ein unentgeltliches Wohnungsrecht
auf Lebenszeit an der im Erdgeschoß des Hauses befindlichen Wohnung zu
bestellen. Das Wohnungsrecht wurde in das Grundbuch eingetragen.
2 Die inzwischen pflegebedürftige Mutter wird seit dem Jahr 2001 in einem
Pflegeheim betreut. Die durch ihre Einkünfte nicht gedeckten
Heimpflegekosten übernimmt der Kläger als Träger der Sozialhilfe. Er leitete
durch bestandkräftigen Bescheid „einen vertraglichen Ausgleichsanspruch für
das nicht mehr in natura wahrnehmbare Wohnrecht“ der Mutter bis zur Höhe der
gewährten Sozialhilfe auf sich über.
3 Die Beklagte vermietete die von der Mutter genutzte Wohnung nach deren
Auszug und erzielte hierbei von Mitte 2003 bis Mitte 2006 eine monatliche
Nettomiete von 400 €.
4 Der Kläger verlangt von der Beklagten den Ausgleich vor September 2006
erbrachter Sozialleistungen in Höhe von 10.023,55 €; ferner beantragt er,
sie zu verurteilen, beginnend ab dem 1. September 2006 monatlich 232,34 €
nebst Zinsen an ihn zu zahlen.
5 Das Landgericht hat der Klage teilweise stattgegeben. Auf die Berufung der
Beklagten hat das Oberlandesgericht sie auch insoweit abgewiesen; die
Anschlussberufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Mit der von dem Senat
zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine zuletzt gestellten Anträge
weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
6 Nach Auffassung des Berufungsgerichts, dessen Urteil in NJW 2008, 607
veröffentlicht ist, ist das Wohnungsrecht der Mutter zwar nicht erloschen.
Einen Zahlungsanspruch könne der Kläger daraus jedoch nicht herleiten. Die
Beklagte und ihre Mutter hätten weder ausdrücklich noch konkludent eine
Vermietungsvereinbarung getroffen. Es könne nicht einmal angenommen werden,
dass die Mutter Kenntnis von der Vermietung habe. Ein Zahlungsanspruch lasse
sich auch nicht aus dem Gesichtspunkt des Wegfalls der Geschäftsgrundlage (§
313 Abs. 1 BGB) herleiten. Die Möglichkeit, dass der Wohnungsberechtigte im
Alter pflegebedürftig und in einem Heim untergebracht werde, sei für die
Vertragsparteien regelmäßig und typischerweise vorhersehbar und rechtfertige
daher keine Vertragsanpassung nach § 313 BGB. Ob der Kläger
bereicherungsrechtliche Ansprüche geltend machen könne, bedürfe keiner
Entscheidung, da solche von der Überleitungsanzeige nicht erfasst seien.
II.
7 Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Nachprüfung in einem
entscheidenden Punkt nicht stand.
8 1. Zutreffend geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, dass das
Wohnungsrecht der Mutter trotz ihres Umzugs in ein Pflegeheim fortbesteht
(vgl. Senat, Urt. v. 19. Januar 2007, V ZR 163/06,
NJW 2007, 1884, 1885 Rdn. 11 ff.)
und dass der Kläger etwaige Zahlungsansprüche der Mutter wegen der
Nichtausübung des Wohnungsrechts auf sich übergeleitet hat.
9 2. Richtig ist auch, dass Grundlage solcher Zahlungsansprüche nur eine
schuldrechtliche Vereinbarung, nicht aber das dingliche Wohnungsrecht als
solches sein kann. Als Recht, ein Gebäude oder den Teil eines solchen unter
Ausschluss des Eigentümers als Wohnung zu benutzen (§ 1093 Abs. 1 Satz 1
BGB), verpflichtet es den Eigentümer lediglich, diese Nutzung zu dulden.
Geldersatzansprüche des Berechtigten begründet ein Wohnungsrecht auch dann
nicht, wenn der Berechtigte es aufgrund der Gestattung des Eigentümers einem
anderen zur Ausübung überlassen darf (§ 1092 Abs. 1 Satz 2 BGB).
10 3. a) Ohne Rechtsfehler und von der Revision nicht angegriffen nimmt das
Berufungsgericht ferner an, die Beklagte und ihre Mutter hätten für den
Fall, dass diese ihr Wohnungsrecht auf absehbare Zeit, möglicherweise auch
dauerhaft, nicht ausüben könne, keine Vereinbarung getroffen, die eine
Zahlungsverpflichtung der Beklagten begründe. Der Grundstückskaufvertrag von
1979 enthält lediglich die Verpflichtung der Beklagten, ihrer Mutter im
Gegenzug zu der Übereignung des Grundstücks ein lebenslanges unentgeltliches
Wohnungsrecht zu bestellen.
11 b) Richtig ist auch, dass eine Anpassung dieses Vertrages nach den
Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage (vgl. § 313 BGB) nicht in
Betracht kommt. Selbst wenn ihm die übereinstimmende Erwartung von Mutter
und Tochter zugrunde gelegen haben sollte, die Mutter werde das
Wohnungsrecht bis zu ihrem Tode ausüben können, fehlt es jedenfalls an der
für eine gerichtliche Vertragsanpassung notwendigen Voraussetzung der
unvorhergesehenen Änderung der Umstände, die Geschäftsgrundlage geworden
sind (vgl. Erman/Hohloch, BGB, 12. Aufl., § 313 Rdn. 24). Bei der
Vereinbarung eines lebenslangen Wohnungsrechts muss jeder Vertragsteil
grundsätzlich damit rechnen, dass der Berechtigte sein Recht wegen Krankheit
und Pflegebedürftigkeit nicht bis zu seinem Tod ausüben kann. Der Umzug in
ein Pflegeheim ist daher in aller Regel kein Grund, den der Bestellung eines
lebenslangen Wohnungsrechts zugrunde liegenden Vertrag nach § 313 BGB
anzupassen (vgl. Senat, Urt. v. 19. Januar 2007, V ZR 163/06, NJW 2007,
1884, 1885 Rdn. 11 ff [dort noch offen gelassen]; ebenso: Krauß, NotBZ 2007,
129, 130; Mayer, DNotZ 2008, 672, 678; Auktor, MittBayNot 2008, 14, 15).
12 c) Rechtsfehlerhaft erwägt das Berufungsgericht indessen nicht die -
gegenüber der Vertragsanpassung wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage
vorrangige (vgl. BGHZ 90, 69, 74; BGH, Urt. v. 24. Januar 2008, III ZR
79/07, NJW-RR 2008, 562, 563 Rdn. 12 m.w.N.) - ergänzende Auslegung des der
Bestellung des Wohnungsrechts zugrunde liegenden Vertrages. Sie ist
nicht deshalb ausgeschlossen, weil die eingetretene Veränderung der
tatsächlichen Verhältnisse objektiv vorhersehbar war. Eine ergänzende
Vertragsauslegung käme mangels Regelungslücke nur dann nicht in Betracht,
wenn die Vertragsparteien ihre Vereinbarung auch für den Fall eines Umzugs
der Mutter in ein Pflegeheim bewusst als abschließend angesehen hätten
(vgl. Senat, BGHZ 111, 110, 115). Wurde die Möglichkeit eines Wegzugs
dagegen nicht bedacht oder in der unzutreffenden Annahme, das Wohnungsrecht
würde dann erlöschen, irrtümlich für nicht regelungsbedürftig gehalten, ist
eine ergänzende Vertragsauslegung möglich und geboten.
13 Die Annahme einer planwidrigen Regelungslücke liegt hier nahe. Handelte
es sich bei dem Vertrag aus dem Jahr 1979 um eine bewusst abschließende
Regelung, hätte dies nämlich zur Folge, dass die dem Wohnungsrecht
unterliegenden Räume nach dem Umzug der Mutter in ein Pflegeheim von
niemandem genutzt werden könnten. Die Mutter als Berechtigte wäre aus
tatsächlichen Gründen gehindert, ihr Recht wahrzunehmen; die Beklagte wäre
angesichts des fortbestehenden Wohnungsrechts nicht befugt, die Räume ohne
Zustimmung der Mutter selbst zu nutzen oder Dritten zu überlassen (vgl. dazu
Brückner, NJW 2008, 1111, 1112). Dass dies nicht der Vereinbarung der
Parteien aus dem Jahr 1979 entspricht, wird schon daraus deutlich, dass sich
die Beklagte ohne weiteres für berechtigt gehalten hat, die Wohnung zu
vermieten.
III.
14 1. Das angefochtene Urteil kann demnach keinen Bestand haben; es ist
aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Sache ist an das Berufungsgericht
zurückzuverweisen, weil der Senat die erforderliche ergänzende
Vertragsauslegung nicht selbst vornehmen kann (§ 563 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3
ZPO). Mit ihrer Berufung hat die Beklagte gegen die von dem Landgericht
vorgenommene ergänzende Auslegung des notariellen Grundstücksvertrages, nach
der die Beklagte zur Vermietung der Wohnung berechtigt ist, Einnahmen
hieraus jedoch der Mutter zustehen, Einwendungen tatsächlicher Art erhoben,
die das Berufungsgericht bislang nicht geprüft hat. Das wird nachzuholen
sein.
15 2. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
16 Bei der Ergänzung des Vertragsinhalts ist darauf abzustellen, was
redliche und verständige Parteien in Kenntnis der Regelungslücke nach dem
Vertragszweck und bei sachgemäßer Abwägung ihrer beiderseitigen Interessen
nach Treu und Glauben vereinbart hätten (st. Rspr., vgl. BGH, Urt. v.
24. Januar 2008, III ZR 79/07, NJW-RR 2008, 562, 563 m.w.N.). Im Hinblick
darauf, dass eine Rückkehr der Mutter aus dem Pflegeheim in absehbarer Zeit
offenbar nicht zu erwarten und die ihr überlassene Wohnung zur Vermietung an
Dritte geeignet ist, spricht viel dafür, den Vertrag dahin zu ergänzen,
dass die Beklagte berechtigt sein soll, die Wohnung zu vermieten.
17 Bei der Feststellung, wem die Einnahmen aus einer von der Beklagten
vorgenommenen Vermietung zustehen, wird das Berufungsgericht zu
berücksichtigen haben, dass das Wohnungsrecht einen Teil der Altersvorsorge
der Mutter darstellt, und dass ein Grund, weshalb ihr Umzug in ein
Pflegeheim zu einer wirtschaftlichen Besserstellung der Beklagten führen
soll, nicht erkennbar ist (vgl. zu diesen Aspekten: Senat, Urt. v. 19.
Januar 2007, V ZR 163/06, NJW 2007, 1884, 1887 sowie Auktor, MittBayNot
2008, 14, 17). Das könnte für die Richtigkeit der von dem Landgericht
vorgenommenen ergänzenden Vertragsauslegung sprechen.
18 Dagegen wird eine Verpflichtung der Beklagten, die Wohnung zu
vermieten, angesichts des Charakters des Wohnungsrechts als eines im
Grundsatz höchstpersönlichen Nutzungsrechts dem hypothetischen Parteiwillen
im Zweifel nicht entsprechen. Zwar kann dessen Ausübung einem Dritten
überlassen werden; dies erfordert jedoch die Gestattung des Eigentümers (§
1092 Abs. 1 Satz 2 BGB). Enthält der Übergabevertrag, hier also der
Grundstücksübertragungsvertrag aus dem Jahr 1979, eine solche Gestattung
nicht, spricht dies dafür, dass der Eigentümer im Fall des Unvermögens des
Berechtigten, sein Wohnungsrecht auszuüben, auch schuldrechtlich nicht
verpflichtet sein sollte, die Nutzung durch Dritte zu dulden.
19 Ebensowenig wird im Zweifel anzunehmen sein, dass ein dem
Wohnungsberechtigten nahestehender Eigentümer verpflichtet sein soll, ein
Nutzungsentgelt an den Wohnungsberechtigten zu zahlen, wenn er die Wohnung
für eigene private Zwecke nutzt oder wenn er sie einem nahen
Familienangehörigen zur Nutzung überlässt. Die familiäre Verbundenheit wird
häufig, wenn auch nicht zwingend, die Annahme rechtfertigen, dass eine
Nutzung der Wohnung innerhalb der Familie unentgeltlich erfolgen sollte.
20 Etwas anderes folgt nicht daraus, dass das Wohnungsrecht der
Alterssicherung des Berechtigten dient. Denn das bedeutet nicht, dass der
Eigentümer die Verpflichtung übernommen hat, die Wohnung auch dann zur
Sicherung der Lebensgrundlage des Berechtigten einzusetzen, wenn dieser sein
Wohnungsrecht nicht mehr ausüben kann (a.A. Gühlstorf/Ette, ZfF 2007, 265,
268). Insbesondere kann ein solcher Wille nicht aus der Regelung in § 1093
Abs. 2 BGB abgeleitet werden, wonach der Wohnungsberechtigte unter anderem
befugt ist, die zu seiner Pflege erforderlichen Personen in die Wohnung
aufzunehmen (a.A. OLG Köln ZMR 1995, 256; OLG Celle MDR 1998, 1344;
Brückner, NJW 2008, 1111, 1112). Eine Befugnis, die Wohnung Dritten zu
überlassen, folgt daraus auch unter Berücksichtigung der sich seit
Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches gewandelten Verhältnisse nicht.
Mit der Bestellung eines Wohnungsrechts haben die Parteien die
Alterssicherung im Zweifel bewusst auf ein höchstpersönliches Nutzungsrecht
beschränkt (ebenso Mayer, DNotZ 2008, 672, 685; Auktor, MittBayNot 2008, 14,
15 f.). Diesem im Übergabevertrag zum Ausdruck gekommenen Parteiwillen darf
die ergänzende Vertragsauslegung nicht widersprechen (vgl. BGH, Urt. v. 17.
April 2002, VIII ZR 297/01, NJW 2002, 2310, 2311). Das wäre indessen der
Fall, wenn der Eigentümer nach einem Wegzug des Berechtigten verpflichtet
wäre, die Wohnung zu vermieten oder der Vermietung durch den Berechtigten
zuzustimmen, um mittels der Erträge der Wohnung zu dessen finanzieller
Absicherung beizutragen. Das Wohnungsrecht würde dadurch in unzulässiger
Weise um Elemente eines - von den Parteien gerade nicht gewählten -
Nießbrauchs an der Wohnung (§§ 1030 Abs. 1, 1059 Satz 2 BGB) erweitert (vgl.
Senat, Beschl. v. 23. Januar 2003, V ZB 48/02, NJW-RR 2003, 577, 578). |