Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch analog § 1004
BGB; Verhältnis zu gerichtlichen Anordnungen nach dem GewSchG; Grundrechte
und Privatrecht
BGH, Beschluss vom 26. Februar 2014 -
XII ZB 373/11 - OLG Karlsruhe
Fundstelle:
NJW 2014, 1381
Amtl. Leitsatz:
a) § 1 GewSchG stellt eine verfahrensrechtliche
Vorschrift dar und regelt daher keinen eigenständigen materiell-rechtlichen
Anspruch, sondern setzt ihn voraus.
b) Die materiell-rechtliche Grundlage eines nach § 1 GewSchG durchsetzbaren
Anspruchs ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung von § 1004 BGB auf
die in § 1 GewSchG genannten - wie das Eigentum absolut geschützten -
Rechtsgüter des Körpers, der Gesundheit und der Freiheit.
c) Die Verpflichtung eines Gewalttäters zur Aufgabe einer von ihm und dem
Opfer nicht gemeinsam genutzten Wohnung kann Gegenstand eines Anspruchs des
Opfers entsprechend § 1004 BGB und Inhalt einer Anordnung nach § 1 GewSchG
sein, wenn sich eine solche Anordnung als rechtlich nicht zu beanstandendes
Ergebnis der einzelfallbezogenen Abwägung der kollidierenden Grundrechte von
Gewaltopfer und -täter als verhältnismäßig darstellt.
Zentrale Probleme:
Es geht um einen "stalking"-Fall. Im Zentrum steht die
Frage, ob einer Person, die eine andere bedroht, nach dem "Gesetz
zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen"
(GewSchG) gerichtlich auferlegt werden kann, eine (eigene, nicht gemeinsame)
Wohnung aufzugeben. Der Senat legt dar, dass § 1 GewSchG, in welchem
mögliche Maßnahmen aufgezählt werden, keine materielle Norm ist, sondern
lediglich verfahrensrechtlichen Charakter hat. Der Anordnung selbst muss
aber ein materiellrechtlicher zivilrechtlicher Unterlassungs- oder
Beseitigungsanspruch des Gewaltopfers zugrunde liegen. Dieser ergibt sich
aus einer analogen Anwendung von § 1004 BGB. Diese Norm, die direkt nur für
die Verletzung des Eigentumsrechts gilt, wird auf andere absolute Rechte
(hier: Gesundheit, allgemeines Persönlichkeitsrecht) analog angewendet (s.
dazu auch
BGH NJW 2004, 1034;
BGH v. 17.12.2010 - V ZR 44/10;
BGH v. 14.5.2013 - VI ZR 269/12;
zum Begriff des"Störers" s. auch
BGH v. 4.2.2005 - V ZR
142/04.)
©sl 2014
Gründe:
I.
1 Gegenstand des Verfahrens ist eine Gewaltschutzanordnung.
2 Die Beteiligten sind miteinander verheiratet, leben aber getrennt.
Die Trennung war von erheblichen Auseinandersetzungen geprägt. Es waren
mehrere Verfahren nach dem Gewaltschutzgesetz anhängig, in denen Näherungs-,
Betretungs- und Kommunikationsverbote gegen den Antragsgegner angeordnet
wurden.
3 Die Antragstellerin zog im Verlauf der Trennung aus der bisherigen
Ehewohnung in ein Mehrfamilienhaus um. Unter Vorspiegelung eines
falschen Namens gelang es dem Antragsgegner, die direkt unter der Wohnung
der Antragstellerin liegende Wohnung anzumieten. Dadurch kam es
weiterhin zu Begegnungen der Beteiligten, die bei der Antragstellerin zu
gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen. Sie befindet sich deshalb in
psychiatrischer Behandlung.
4 Im vorliegenden Verfahren hat das Amtsgericht dem Antragsgegner das
Betreten der Wohnung der Antragstellerin, das Herbeiführen von Begegnungen
im Treppenhaus und das Aufsuchen der Antragstellerin an ihrem Arbeitsplatz
verboten. Außerdem hat es ein Kontakt- und Kommunikationsverbot erlassen.
Den weitergehenden Antrag, den Antragsgegner zu verpflichten, seinen in dem
Mehrfamilienhaus gelegenen Wohnsitz aufzugeben, hat das Amtsgericht
zurückgewiesen.
5 Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Antragstellerin hat das
Beschwerdegericht zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde
verfolgt die Antragstellerin ihr Begehren in vollem Umfang weiter.
II.
6 Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des
angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das
Beschwerdegericht.
7 1. Das Beschwerdegericht hat seine in FamRZ 2012, 455 veröffentlichte
Entscheidung wie folgt begründet: Für die Verpflichtung eines Gewalttäters
zur Aufgabe seines Wohnsitzes biete das Gewaltschutzgesetz keine
Rechtsgrundlage. Auf § 1 GewSchG könne eine solche Maßnahme nicht gestützt
werden, da die Sphäre des Opfers vor der nach Art. 13 GG geschützten Wohnung
des Gewalttäters ende. Die vorgenannte Verpflichtung überschreite auch den
Regelungsbereich des Gewaltschutzgesetzes, was sich daran zeige, dass die in
§ 1 Abs. 1 Satz 2 GewSchG vorgesehene Befristung bei einer derartigen
Anordnung letztlich nicht möglich sei. Denn ihre Durchsetzung werde
regelmäßig zu einer endgültigen Wohnungsaufgabe führen. Auch eine analoge
Anwendung von § 1 GewSchG komme nicht in Betracht, da eine Verpflichtung zur
Wohnsitzaufgabe eine hinsichtlich ihrer Grundrechtsrelevanz über die in § 1
GewSchG vorgesehenen Regelbeispiele hinausgehende Maßnahme darstelle. Aus §
2 GewSchG lasse sich eine solche Verpflichtung nicht ableiten, weil sich die
Vorschrift lediglich auf ursprünglich von den Beteiligten gemeinsam genutzte
Wohnungen beziehe. Dies gelte auch für § 2 Abs. 4 GewSchG. Da sich aus § 2
GewSchG Regelungen hinsichtlich der Wohnung eines Gewalttäters insgesamt
nicht ableiten ließen, komme auch eine analoge Anwendung dieser Vorschrift
nicht in Betracht. Soweit die Antragstellerin weitergehende Ansprüche nach
§§ 823, 1004 BGB geltend machen wolle, sei ihr dies nicht verwehrt. Möglich
sei dies allerdings nicht in einem Verfahren nach dem Gewaltschutzgesetz,
sondern als sonstige Familiensache nach § 266 FamFG. Nachdem die
Antragstellerin ihren Antrag aber auf das Gewaltschutzgesetz gestützt habe,
sei das Amtsgericht nicht verpflichtet gewesen, den Antrag auch unter diesem
Gesichtspunkt zu würdigen.
8 2. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
9 a) Die Auffassung des Beschwerdegerichts, § 2 GewSchG biete für
die beantragte Maßnahme keine Rechtsgrundlage, ist allerdings nicht zu
beanstanden. Die genannte Vorschrift betrifft nach ihrem
eindeutigen Wortlaut lediglich den Fall einer von Gewaltopfer und -täter
ursprünglich gemeinsam genutzten Wohnung. Die Bestimmung kann daher auf den
vorliegenden Fall weder direkt noch entsprechend angewendet werden.
10 b) Nicht frei von Rechtsfehlern ist jedoch die Auffassung des
Beschwerdegerichts, § 1 GewSchG sei einschränkend dahingehend auszulegen,
dass die Vorschrift die Verpflichtung eines Gewalttäters zur Wohnsitzaufgabe
nicht erfasst.
11 aa) § 1 Abs. 1 GewSchG ist hinsichtlich der zum Gewaltschutz
erforderlichen Maßnahmen seinem Wortlaut nach offen gehalten. § 1 Abs. 1
Satz 3 GewSchG nennt die zulässigen gerichtlichen Maßnahmen nicht
abschließend, sondern in Form von Regelbeispielen. Die Vorschrift lässt also
auch andere als die ausdrücklich genannten Anordnungen zu (s. dazu
BTDrucks. 14/5429 S. 28, 41).
12 bb) Der Umstand, dass eine Verpflichtung zur Aufgabe des Wohnsitzes einen
schwerwiegenden Eingriff in Grundrechte des Verpflichteten darstellt,
begründet ebenfalls keine Notwendigkeit, die Vorschrift einschränkend
dahingehend auszulegen, dass sie eine solche Anordnung nicht umfasst.
13 Der Gesetzgeber hat mit § 1 GewSchG eine verfahrensrechtliche
Vorschrift geschaffen. Dies hat im Gesetzgebungsverfahren in
Übereinstimmung mit dem ursprünglichen Regierungsentwurf (BTDrucks. 14/5429
S. 17) und gegen einen Änderungsvorschlag des Bundesrates (BTDrucks. 14/5429
S. 38) im Wortlaut der Vorschrift Niederschlag gefunden. Danach ist
Normadressat das Gericht, welches die "zur Abwendung weiterer Verletzungen
erforderlichen Maßnahmen zu treffen" hat (s. die Gegenäußerung der
Bundesregierung BTDrucks. 14/5429 S. 41). Ein eigenständiger
materiell-rechtlicher Anspruch ist in § 1 GewSchG hingegen nicht normiert,
sondern vielmehr vorausgesetzt (MünchKommBGB/Krüger 6. Aufl. § 1
GewSchG Rn. 11; Heinke GewSchG § 1 Rn. 1; Nomos Erläuterungen zum Deutschen
Bundesrecht/Schumacher Anm. zu § 1 GewSchG). Die
materiell-rechtliche Grundlage eines nach § 1 GewSchG durchsetzbaren
Anspruchs ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung von § 1004 BGB auf
die in § 1 GewSchG genannten - wie das Eigentum absolut geschützten -
Rechtsgüter des Körpers, der Gesundheit und der Freiheit (Palandt/Bassenge
BGB 73. Aufl. § 1004 Rn. 4; vgl. auch BTDrucks. 14/5429 S. 11 f.).
14 Bei der Prüfung dieses Anspruchs ist eine einzelfallbezogene Abwägung
kollidierender Grundrechte des Gewaltopfers und des Täters durchzuführen, da
es sich bei der in § 1004 BGB enthaltenen Voraussetzung der Rechtswidrigkeit
der Rechtsgutsbeeinträchtigung um ein Tatbestandsmerkmal handelt, das nach
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten mittelbaren
Drittwirkung der Grundrechte im Lichte ihrer Bedeutung auszulegen ist
(vgl.
etwa BVerfGE 73, 261, 269 ff. mwN). Im Rahmen dieser Abwägung ist bei der
Prüfung eines gegen einen Gewalttäter gerichteten Anspruchs auf
Wohnsitzaufgabe zu beachten, dass das Besitzrecht des Mieters an der
gemieteten Wohnung nicht, wie das Beschwerdegericht meint, in den
Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 13 GG fällt, sondern dass es Eigentum
im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG darstellt (zur Abgrenzung BVerfGE 89,
1, 5 ff., 11 ff.). Da Inhalt und Schranken des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1
Satz 2 GG durch die Gesetze bestimmt werden, kann das Besitzrecht eines
Gewalttäters an einer gemieteten Wohnung gegenüber dem gebotenen Schutz des
Opfers keine absolute Schranke darstellen, sondern es ist der Abwägung
zugänglich. Für den Fall der von Opfer und Täter ursprünglich gemeinsam
genutzten Wohnung bestätigt dies die gesetzliche Wertung des § 2 GewSchG. Da
folglich eine einzelfallbezogene Abwägung kollidierender Grundrechte im
Rahmen der materiell-rechtlichen Anspruchsprüfung stets durchzuführen ist,
ist die rein verfahrensrechtliche Vorschrift des § 1 GewSchG nicht wegen
möglicher Berührung der Grundrechte eines Gewalttäters einschränkend
auszulegen.
15 cc) Dieses Ergebnis wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass bei
einer gegen einen Gewalttäter ergehenden Anordnung, seine Wohnung
aufzugeben, eine nach § 1 Abs. 1 Satz 2 GewSchG vorgesehene Befristung ins
Leere ginge. § 1 Abs. 1 Satz 2 GewSchG als Ausdruck des
Verhältnismäßigkeitsprinzips (vgl. BTDrucks. 14/5429 S. 28) sieht eine
Befristung nur für den Regelfall vor ("soll"), lässt also auch unbefristete
Maßnahmen zu.
16 dd) Nach diesen Maßgaben kann die Verpflichtung zur Aufgabe einer nicht
gemeinsam genutzten Wohnung Gegenstand eines Anspruchs eines Gewaltopfers
gegen einen Täter entsprechend § 1004 BGB und demzufolge auch Inhalt einer
Anordnung nach § 1 GewSchG sein, wenn sich eine solche Anordnung als
rechtlich nicht zu beanstandendes Ergebnis der einzelfallbezogenen Abwägung
der kollidierenden Grundrechte von Gewaltopfer und -täter als
verhältnismäßig darstellt.
17 c) Die Entscheidung des Beschwerdegerichts, das eine gesetzliche
Grundlage für die beantragte Anordnung vermisst hat, kann deswegen keinen
Bestand haben. Der Senat ist nicht in der Lage, in der Sache abschließend zu
entscheiden, weil es hierzu weiterer Feststellungen bedarf. Die Sache ist
deshalb an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen.
|