Auslegung von
Willenserklärungen, Widerrufsrecht nach § 312 I Nr. 1 BGB bei Schuld(mit)übernahme
und Bürgschaft
BGH, Urteil vom 2. Mai 2007 - XII ZR 109/04
Fundstelle:
NJW 2007, 2110
Amtl. Leitsatz:
Zum Widerrufsrecht eines
Angestellten, der an seinem Arbeitsplatz zum Abschluss eines Bürgschafts-
oder Schuldmitübernahmevertrages für Verbindlichkeiten seines Arbeitgebers
bestimmt worden ist.
Zentrale Probleme:
Ein für Ausbildungszwecke sehr lehrreicher, wunderbar klar
durchgelöster Fall, wie er auch Gegenstand einer Klausur sein könnte. Der
BGH läßt offen, ob in der "Mitunterzeichnung" des Mietvertrags durch einen
Angestellten, der eigentlich nur den Empfang quittieren wollte, ein
Schuldbeitritt oder eine Bürgschaft liegt, da jedenfalls die Vorschriften
über die "Haustürgeschäfte" (§§ 312 ff BGB) Anwendung fänden und deshalb
jedenfalls ein wirksamer Widerruf nach § 355 BGB vorliegt. Insofern wird auf
die Entscheidung BGHZ 165, 363 Bezug genommen.
Dort hatte der BGH - nach langen Umwegen und einer Entscheidung des EuGH (EuGH
NJW 1998, 1295 f (RS C-45/96 "Dietzinger") -
schließlich anerkannt, daß es für den persönlichen Anwendungsbereich der §§
312 ff bei Sicherungsgeschäften allein auf die Verbrauchereigenschaft des
Sicherungsgebers ankommt (s. die dortige Anm.)
Nach heutiger Rechtslage ist die Entscheidung überholt, s.
BGH v. 22.9.2020 - XI ZR 219/19.
©sl 2007
Tatbestand:
1 Der Kläger verlangt von dem Beklagten Miete aus einem Mietvertrag vom 14.
November 2002 über einen Lkw.
2 Der Kläger, der gewerblich Fahrzeuge vermietet, ließ auf Bestellung seiner
Kundin, der M. GmbH, durch seinen Mitarbeiter einen Lkw auf deren
Betriebsgelände bringen. Auf Aufforderung des Mitarbeiters des Klägers
unterzeichnete der Beklagte, der als Fahrer bei der inzwischen insolventen
M. GmbH angestellt war, den Formularvertrag als "2. Mieter" neben einem
Bevollmächtigten der als "Kunde" und "Mieter" bezeichneten M. GmbH.
3 Der Kläger ist der Ansicht, der Beklagte sei neben der M. GmbH Mieter
geworden. Er behauptet, der Beklagte sei vor Vertragsabschluss ausdrücklich
auf seine Haftung aus dem Mietvertrag hingewiesen worden.
4 Der Beklagte behauptet, er habe mit seiner Unterschrift lediglich die
Entgegennahme des Lkw quittieren wollen, der ausschließlich von seiner
Arbeitgeberin, der M. GmbH, gemietet worden sei. Der Mitarbeiter des Klägers
habe ihn nicht darauf hingewiesen, dass er selbst Mieter des Lkw werden
solle.
5 Hilfsweise hat der Beklagte den Vertrag wegen arglistiger Täuschung und
Irrtums angefochten.
6 Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist
erfolglos geblieben. Mit der vom Landgericht zugelassenen Revision verfolgt
der Kläger seinen Klageantrag weiter.
Entscheidungsgründe:
7 Die Revision hat keinen Erfolg.
I.
8 Das Berufungsgericht hat im Wesentlichen ausgeführt:
9 Der Beklagte sei zwar Mieter geworden. Denn die Beantwortung der von ihm
als "2. Mieter" im Formularmietvertrag erfragten Angaben zu seiner Person
(Wohnort, Personalausweisnummer, Führerscheinnummer) setzten voraus, dass
der Beklagte die Fragen gelesen und verstanden habe. Gegen seine Stellung
als Mieter spreche auch nicht, dass mehrere im Vertrag getroffene
Vereinbarungen nur von der M. GmbH, nicht aber von dem Beklagten
unterschrieben worden seien. Denn daraus folge lediglich, dass diese
Vereinbarungen nur zwischen der M. GmbH und dem Kläger Geltung hätten.
10 Es könne dahingestellt bleiben, ob der Vertrag infolge der Anfechtung des
Beklagten nichtig sei. Denn der Vertrag sei jedenfalls in Bezug auf die
Einbeziehung des Beklagten sittenwidrig im Sinne von § 138 Abs. 1 BGB.
11 Die Situation des Beklagten bei Vertragsschluss sei mit der eines
Arbeitnehmers vergleichbar, der sich für Schulden seines Arbeitgebers
verbürge. Die Bürgschaftsübernahme eines Arbeitnehmers für einen
Geschäftskredit seines Arbeitgebers sei gemäß § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig,
wenn der Arbeitnehmer zu der Bürgschaftserklärung durch den Hauptschuldner
unter Ausnutzung seiner geschäftlichen Unerfahrenheit und aus Sorge um den
Bestand seines Arbeitsplatzes veranlasst worden sei und ein besonders grobes
Missverhältnis zwischen dem Verpflichtungsumfang und der Leistungsfähigkeit
des Bürgen bestehe. Hier werde der Beklagte zwar wirtschaftlich durch die
Forderung des Klägers nicht auf unabsehbare Zeit völlig überfordert. Es
reiche aber für die Anwendbarkeit von § 138 BGB aus, dass die Folgen des
Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend seien,
wenn es sich um eine typisierbare Fallgestaltung handele, die eine
strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lasse.
12 Das Haftungsrisiko sei für den Beklagten nicht überschaubar gewesen. Er
habe nämlich neben der Haftung für Miete und Ansprüche aus verspäteter
Rückgabe des Lkw sämtliche weiteren Ansprüche des Klägers, die sich aus
einer etwaigen Beschädigung oder dem Untergang der gemieteten Sache ergeben
könnten, übernommen, ohne dass er im Verhältnis zur M. GmbH auf den
Zeitpunkt der Rückgabe oder die Verwendung des Lkw habe Einfluss nehmen
können. Das sei auch für den Mitarbeiter des Klägers, dessen Kenntnis der
Kläger sich gemäß § 166 Abs. 1 BGB zurechnen lassen müsse, ohne weiteres
erkennbar gewesen. Es habe mangels entgegenstehender Anhaltspunkte auf der
Hand gelegen, dass der den Wagen übernehmende Fahrer ausschließlich im
Auftrag und Interesse seines Arbeitgebers tätig geworden sei und intern
keine Verfügungsbefugnis über das Fahrzeug gehabt habe. Die untergeordnete
Stellung des Beklagten sei nicht zuletzt daraus erkennbar gewesen, dass er
allein nicht berechtigt gewesen sei, Mietverträge im Namen der M. GmbH
abzuschließen.
13 Bedeutung und Ausmaß des übernommenen Risikos habe der Beklagte als
angestellter Fahrer nicht abschätzen können. Es sei für einen Angestellten
auch ungewöhnlich belastend, für sämtliche Ansprüche zu haften, die sich aus
einem Mietvertrag über einen Lkw ergeben, dessen Einsatz ausschließlich
seinem (früheren) Arbeitgeber zugute kommen solle. Des Weiteren sei zu
beachten, dass die Inanspruchnahme des Beklagten als Angestellten regelmäßig
erst dann für den Kläger wirtschaftlich interessant sei, wenn die M. GmbH
insolvent geworden sei, das Angestelltenverhältnis also nicht mehr
fortbestehe.
14 Bei so ausgeprägter Unterlegenheit eines Vertragspartners komme es
entscheidend darauf an, auf welche Weise der Vertrag zustande gekommen sei
und wie sich insbesondere der überlegene Vertragspartner verhalten habe.
15 Im vorliegenden Fall hätte der Kläger das Fahrzeug unstreitig nicht
ausgehändigt, wenn der Beklagte den Mietvertrag nicht unterschrieben hätte.
Ob der Beklagte bei dieser Gelegenheit auch ausdrücklich über seine
mietvertraglichen Verpflichtungen belehrt worden sei, könne dahinstehen.
Auch wenn dies geschehen sei, ändere es nichts daran, dass der geschäftlich
ungewandte Beklagte habe annehmen müssen, die ihm von seinem damaligen
Arbeitgeber übertragene Aufgabe zur Entgegennahme des Lkw nur erfüllen zu
können, wenn er das Dokument unterzeichne. Dieser Konflikt sei für den
Abschlussvertreter des Klägers auch deutlich gewesen.
II.
16 Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten einer revisionsrechtlichen
Prüfung zwar nicht in der Begründung, aber im Ergebnis stand.
17 1. Es bestehen durchgreifende Bedenken gegen die - nicht auf
tatrichterlicher Feststellung, sondern auf einer Würdigung des Vertrages
beruhende -Annahme des Berufungsgerichts, der Beklagte sei neben der M. GmbH
Mieter des Lkw geworden. Das Berufungsgericht hat bei der Auslegung der
Willenserklärung des Beklagten gegen anerkannte Auslegungsgrundsätze,
insbesondere gegen das Gebot der nach beiden Seiten interessengerechten
Auslegung verstoßen (BGHZ 131, 136, 138; BGH Urteil vom 7. November 2001 -
VIII ZR 213/00 - NJW 2002, 506).
18 Es ist davon ausgegangen, dass der Beklagte allein deshalb Mieter
geworden sei, weil er den Vertrag über der Zeile "2. Mieter" unterschrieben
habe und die ihm gestellten Fragen nach Wohnort, Personalausweisnummer,
Führerscheinnummer nur habe beantworten können, wenn er sie zuvor gelesen
und verstanden habe.
19 Dabei berücksichtigt das Berufungsgericht nicht hinreichend, dass der
objektive Erklärungswert der Willenserklärung des Beklagten sich danach
bestimmt, wie seine Erklärung zur Zeit ihres Wirksamwerdens nach Treu und
Glauben von dem Kläger verstanden werden musste (BGH Urteil vom 18.
Februar 1993 - IX ZR 108/92 - NJW-RR 1993, 945, 946 m.w.N.). Dafür kann
nicht allein die Wortwahl "2. Mieter" herangezogen werden, vielmehr ist der
gesamte Vertragsinhalt maßgeblich. Darüber hinaus sind Begleitumstände zu
berücksichtigen, soweit sie einen Schluss auf den Sinngehalt der abgegebenen
Erklärung zulassen (BGH Urteil vom 16. Oktober 1997 - IX ZR 164/96 -
NJW-RR 1998, 259).
20 Schon der Vertragsinhalt spricht gegen den Willen des Beklagten zum
Abschluss eines Mietvertrages. Denn die wesentlichen vertraglichen
Vereinbarungen, wie Haftungsreduzierung, Abschluss einer
Insassenunfallversicherung, Verbot der Nutzung des Lkw im Ausland,
Einbeziehung und Kenntnisnahme der AGB, sind auf den im Formularvertrag
gesondert vorgesehenen Unterschriftsfeldern nur von dem Bevollmächtigten der
M. GmbH als Mieter, nicht aber von dem Beklagten unterschrieben worden.
Angesichts der hierfür gesondert vorgesehenen Unterschriftsfelder ist davon
auszugehen, dass der Abschluss dieser Vereinbarungen deren Unterzeichnung
voraussetzt. Da es sich bei den durch die Unterzeichnung besonders
hervorgehobenen Vereinbarungen um wichtige Bestandteile des Mietvertrages
handelt, ist davon auszugehen, dass sie von dem Mieter unterzeichnet werden
sollten. Eine Unterzeichnung durch den Beklagten ist jedoch nicht erfolgt.
21 Auch die Begleitumstände der Vertragsunterzeichnung weisen darauf hin,
dass der Beklagte keinen Mietvertrag abschließen wollte.
22 Der Beklagte hat an seinem Arbeitsplatz den von seiner Arbeitgeberin bei
dem Kläger zur Miete bestellten Lkw entgegengenommen. Daraus ergab sich für
den Vertreter des Klägers erkennbar, dass der Beklagte weder ein
sachliches noch ein persönliches Interesse an der Miete des Lkw hatte und
ihm neben seiner Arbeitgeberin kein eigenes Verfügungsrecht über den Lkw
zustand. Angesichts der daraus folgenden Interessenlage des Beklagten durfte
der Kläger die Unterschrift des Beklagten auf dem Formularvertrag nicht
dahin verstehen, dass der Beklagte selbst Mieter mit allen Rechten und
Pflichten werden wollte. Auch aus den persönlichen Angaben des Beklagten
ergibt sich nichts anderes. Das gilt selbst dann, wenn der Vertreter des
Klägers den Beklagten auf seine Haftung aus dem Mietvertrag hingewiesen
haben sollte. Daraus könnte allenfalls auf den Abschluss einer
Schuldmitübernahme oder einer Bürgschaft geschlossen werden.
23 2. Es kann dahingestellt bleiben, ob zwischen den Parteien ein
Schuldmitübernahmevertrag oder ein Bürgschaftsvertrag abgeschlossen worden
ist, der gegebenenfalls wegen ungewöhnlicher Belastung und struktureller
Unterlegenheit des Beklagten gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig wäre. Denn der
Beklagte hat jedenfalls seine auf einen etwaigen Vertragsabschluss
gerichtete Willenserklärung wirksam gemäß §§ 312, 355 BGB widerrufen.
24 Nach §§ 312 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1, 355 Abs. 1 Satz 2 BGB kann ein
Verbraucher einen Vertrag mit einem Unternehmer, der eine entgeltliche
Leistung zum Gegenstand hat, binnen einer Frist von zwei Wochen widerrufen,
wenn er durch mündliche Verhandlung an seinem Arbeitsplatz zum Abschluss des
Vertrages bestimmt worden ist und die mündliche Verhandlung nicht auf seine
Bestellung hin an seinem Arbeitsplatz geführt worden ist.
25 Die Widerrufsfrist beginnt mit dem Zeitpunkt, zu dem dem Verbraucher eine
Belehrung über sein Widerrufsrecht in Textform mitgeteilt worden ist (§ 355
Abs. 2, 3 Satz 3 BGB). Für die Belehrung ist der Unternehmer darlegungs- und
beweispflichtig.
26 Im vorliegenden Fall wurde der Lkw unstreitig von der Arbeitgeberin des
Beklagten, der M. GmbH, telefonisch bestellt und von einem Mitarbeiter des
Klägers auf deren Betriebsgelände gebracht, auf dem der bei der M. GmbH
angestellte Beklagte seinen Arbeitsplatz hatte. Dort ist der streitige
Vertrag von dem Beklagten, der den Lkw für seine Arbeitgeberin
entgegennehmen sollte, mit unterzeichnet worden.
27 Der hier in Betracht kommende Schuldmitübernahme- oder
Bürgschaftsvertrag, der weder einer gewerblichen noch einer selbständigen
beruflichen Tätigkeit des Beklagten zugerechnet werden kann, ist ein Vertrag
über eine entgeltliche Leistung (vgl. BGHZ 165,
363, 367 f.; 139, 21, 23 f.; BGH Urteil vom
9. März 1993 - XI ZR 179/92 - NJW 1993, 1594, 1595;
EuGH NJW 1998,1295, 1296 zur Auslegung der Richtlinie). Für das
Widerrufsrecht des Beklagten kommt es auch allein darauf an, dass er
Verbraucher ist und den Vertrag in einer Haustürsituation abgeschlossen hat.
Dass diese Voraussetzungen für die Hauptschuldnerin, die M. GmbH, nicht
vorliegen, ist unerheblich (BGHZ 165, 363, 367 f.).
Denn § 312 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB dient dem Schutz des Verbrauchers vor der
Gefahr, bei der Anbahnung eines Vertrages in einer ungewöhnlichen räumlichen
Situation überrumpelt und zu einem unüberlegten Geschäftsabschluss
veranlasst zu werden. Dieser Gefahr ist der Schuldüber-nehmer oder Bürge,
der sich in einer Haustürsituation befindet, unabhängig davon ausgesetzt, ob
sich der Hauptschuldner ebenfalls in dieser Situation befindet (BGHZ
165, 363, 367 f.).
28 Der Kläger hat weder dargelegt noch unter Beweis gestellt, dass der
Beklagte ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht belehrt worden ist. Auch
eine entsprechende Verfahrensrüge wurde - nach rechtlichem Hinweis in der
Revisionsinstanz - nicht erhoben. Der Beklagte war somit zum Widerruf
berechtigt. Er hat seine Willenserklärung auch widerrufen. Durch seine
Anfechtungserklärung wegen arglistiger Täuschung und Irrtums im Schriftsatz
vom 26. August 2003 hat er hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass
er einen etwaigen Vertrag nicht gelten lassen will. Die Verwendung des
Wortes "Widerruf" ist hierfür nicht erforderlich (BGH Urteile vom 21.
Oktober 1992 - VIII ZR 143/91 - NJW 1993, 128, 129; vom 25. April 1996 - X
ZR 139/94 - NJW 1996, 1964, 1965).
29 Durch die Widerrufserklärung des Beklagten hat sich ein etwaiger
Bürgschafts- oder Schuldmitübernahmevertrag in ein Rückabwicklungsverhältnis
umgewandelt. Aus diesem ergibt sich aber kein Anspruch des Klägers gegen den
Beklagten auf Ersatz von Nutzungen gemäß § 357 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. §
346 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 oder § 346 Abs. 1 BGB. Der Lkw ist nicht dem
Beklagten, sondern der M. GmbH als alleiniger Mieterin zum Gebrauch
überlassen und von dieser auch genutzt worden.
30 Da sich das Urteil des Berufungsgerichts somit im Ergebnis als richtig
erweist, war die Revision zurückzuweisen.
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