Vorvertragliche Aufklärungspflichten beim Kauf;
Haftung aus culpa in contrahendo (§§ 280 I, 311 II Nr. 1, 241 II BGB);
Konkurrenz zum Gewährleistungsrecht; "Minderung" durch c.i.c.
BGH, Urteil vom 11. November 2011 - V
ZR 245/10
Fundstelle:
NJW 2012, 846
Amtl. Leitsatz:
Mit der Übergabe von
Unterlagen erfüllt ein Verkäufer seine Aufklärungspflicht nur dann, wenn er
aufgrund der Umstände die berechtigte Erwartung haben kann, dass der Käufer
die Unterlagen nicht nur zum Zwecke allgemeiner Information, sondern unter
einem bestimmten Gesichtspunkt gezielt durchsehen wird.
Zentrale Probleme:
Die Entscheidung behandelt ein
Klassikerproblem: Reichweite der Aufklärungspflichten, Konkurrenz des
Gewährleistungsrechts zur c.i.c.; Voraussetzungen und Rechtsfolgen der
Haftung durch c.i.c.. Sofern die Verletzung der Aufklärungspflicht
"Beschaffenheiten" i.S.v. § 434 BGB betrifft, ist die Haftung aus
fahrlässiger c.i.c. durch das Gewährleistungsrecht verdrängt, nicht aber
Fälle von Vorsatz. Ob Vorsatz vorliegt, lässt der Senat hier offen, da es
hier nicht um die Größe des Grundstücks ging, sondern um die Frage, dass das
verkaufte Grundstück kleiner war, als es aufgrund der baulichen
Besonderheiten den Anschein hatte. Es lag also nach Ansicht des Senats gar
kein Sachmangel vor, so dass auch für fahrlässige c.i.c. frei Bahn war.
Die Argumentation, die Größe des Grundstücks sei keine Beschaffenheit, mag
auf den ersten Blick erstaunen, ist aber bei näherer Betrachtung angesichts
der Formstrenge des Grundstücksrechts wohl zutreffend. Angesichts der
genauen Identifikation des Grundstücks durch seine Flurnr. hat der Käufer
hier eben nicht ein zu kleines Grundstück erworben, sondern schlicht etwas
anderes gekauft, als er zu kaufen glaubte.
Selbst wenn man dem nicht folgen wollte, bleibt folgendes zu bedenken: Der
Bekl. zu 2. haftet hier als Dritter aus c.i.c., da er selbst nicht Partei
des Kaufvertrags war und werden sollte. Es dürfte sich dabei um den
klassischen, von § 311 Abs. 3 S. 1 BGB ebenfalls erfassten Fall der Haftung
des Verhandlungsgehilfen wegen wirtschaftlichen Eigeninteresses handeln: Da
dem Bekl. zu 2 die Hälfte des Kaufpreises zukommen sollte, handelte er als
„procurator quasi in rem suam“. Da er aber selbst nicht Partei des
Kaufvertrages ist, Gewährleistungsansprüche gegen ihn also gar nicht in
Betracht kommen, besteht schon aus diesem Grund kein Konkurrenzverhältnis
zur Sachmängelhaftung. Auch bei Bejahung eines Sachmangels wäre damit eine
Haftung des Bekl. zu 2 aus bloß fahrlässiger c.i.c. nicht ausgeschlossen (s.
dazu BGH NJW-RR 2011, 463). S.
zum Ganzen auch die Anm. zu den im Urteil zitierten Entscheidungen. Zur
gleichen Rechtslage bei einer Haftungsbegründung aus § 826 BGB s.
BGH v. 6.7.2021 - VI ZR 40/20.
©sl 2012
Tatbestand:
1 Die Klägerin kaufte mit notariellem
Vertrag vom 29. Dezember 2005 unter Ausschluss der Gewährleistung von der
Beklagten zu 1 das 759 qm große Hausgrundstück, Flurstück 275, in D. zum
Kaufpreis von 330.000 €. Die Verkaufsverhandlungen wurden von dem Beklagten
zu 2, dem geschiedenen Ehemann der Beklagten zu 1, geführt, der die Hälfte
des Verkaufserlöses erhalten sollte. Das Grundstück ist mit einem massiven
Holzzaun eingefriedet. In die Einfriedung einbezogen ist ein 185 qm großer
Grundstückteil des Nachbargrundstücks (Fl.-Nr. 274). Für den unbefangenen
Betrachter scheint diese Teilfläche aufgrund ihrer gärtnerischen Gestaltung,
aufgrund der Einfriedung und des darin befindlichen vier Meter breiten
Eingangstores und der Einfahrt dem Anwesen als Vorgarten zuzugehören.
Die Klägerin verlangt von den Beklagten Schadensersatz wegen
unterlassener Aufklärung über die Eigentumsverhältnisse an dem
Vorgartenbereich des Kaufobjekts.
2 Das Landgericht hat die Beklagten zur Zahlung von 60.000 € verurteilt und
festgestellt, dass diese, falls der Eigentümer des Nachbargrundstücks den
Rückbau des Vorgartens verlangt, verpflichtet sind, die erforderlichen
Rückbaukosten zu zahlen. Auf die Berufung der Beklagten hat das
Oberlandesgericht das Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der
von dem Senat zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Beklagten
beantragen, verfolgt die Klägerin ihren Klageantrag weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
3 Das Berufungsgericht verneint einen Schadensersatzanspruch der
Klägerin aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen. Zwar hätten die
Beklagten vor Abschluss des Kaufvertrages über die von der Einfriedung
abweichende Grundstücksgrenze aufklären müssen. Im Sachbereich der §§ 434
ff. BGB seien Ansprüche aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen
wegen des Vorrangs der kaufrechtlichen Regelungen aber grundsätzlich
ausgeschlossen. Eine Ausnahme gelte lediglich bei arglistigem
Verhalten des Verkäufers. Ein solches Verhalten könne nicht festgestellt
werden. Denn die Klägerin habe nicht ausschließen können, dass sich in einem
ihr von dem Beklagten zu 2 im Vorfelddes Kaufvertragsabschlusses übergebenen
Ordner Lagepläne des Grundstücks befunden haben. Jedenfalls aus einem dieser
Lagepläne habe sich der Grenzverlauf des Grundstücks mit hinreichender
Deutlichkeit ergeben.
II.
4 Die Beklagte zu 1 war trotz rechtzeitiger Bekanntmachung im
Verhandlungstermin nicht vertreten. Deshalb ist insoweit über den
Revisionsantrag der Klägerin durch Versäumnisurteil zu entscheiden. Das
Urteil beruht jedoch inhaltlich nicht auf einer Säumnisfolge, sondern auf
einer Sachprüfung (vgl. Senat, Urteil vom 4. April 1962 - V ZR 110/60, BGHZ
37, 79, 82).
5 Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen
Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
Die Verneinung eines Schadensersatzanspruchs der Klägerin aus Verschulden
bei Vertragsverhandlungen (§ 280 Abs. 1, § 311 Abs. 2 Nr. 1, 241 Abs. 2 BGB)
hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
6 1. Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass die Beklagten
verpflichtet waren, die Klägerin vor Abschluss des Kaufvertrages darüber
aufzuklären, dass der Gartenzaun und das darin befindliche Eingangstor im
Vorgartenbereich - wie die Beklagten wussten - fremden Grund und Boden
ein-schloss und sich das zu verkaufende Grundstück im dortigen Bereich nicht
bis an die Grundstückseinfriedung erstreckt. Nach der ständigen
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs besteht auch bei
Vertragsverhandlungen, in denen die Parteien entgegengesetzte Interessen
verfolgen, für jeden Vertragspartner die Pflicht, den anderen Teil über
solche Umstände aufzuklären, die den Vertragszweck des anderen vereiteln
können und daher für den Entschluss eines verständigen Käufers von
wesentlicher Bedeutung sind, sofern er eine Mitteilung nach der
Verkehrsauffassung erwarten kann (vgl. nur Senat,
Urteil vom 15. Juli 2011 - V ZR
171/10, WM 2011, 1956, 1957 Rn. 7; BGH,
Urteil vom 16. Dezember 2009 -
VIII ZR 38/09, NJW 2010, 858 Rn. 15, jeweils mwN).
Zu Recht nimmt das Berufungsgericht an, dass die Einfriedung eines
Hausgrundstücks Kaufinteressenten regelmäßig den Eindruck vermittelt, es
handle sich um ein einheitliches, nach außen abgeschlossenes Grundstück.
Dieser Eindruck wurde hier dadurch verstärkt, dass nach den Feststellungen
des Berufungsgerichts in der der Klägerin von dem Beklagten zu 2 zur
Verfügung gestellten Objekt- und Lagebeschreibung ausdrücklich auf die
Umfriedung des Grundstücks mit Zaun und Eingangstor hingewiesen wurde.
Unter diesen Umständen waren die Beklagten verpflichtet, einem
Irrtum der Klägerin durch Aufklärung über den tatsächlichen Grenzverlauf
vorzubeugen.
7 2. Ihre Pflicht zur Aufklärung haben die Beklagten nicht dadurch erfüllt,
dass der Beklagte zu 2 der Klägerin die erbetenen Finanzierungsunterlagen,
die für die Bank benötigt wurden, sowie einen Ordner überlassen hat, in dem
sich neben dem Expose und diversen anderen Unterlagen Lagepläne des
Grundstücks befunden haben. Mit der Übergabe von Unterlagen erfüllt
ein Verkäufer seine Aufklärungspflicht nur dann, wenn er aufgrund der
Umstände die berechtigte Erwartung haben kann, dass der Käufer die
Unterlagen nicht nur zum Zweck allgemeiner Information, sondern unter einem
bestimmten Gesichtspunkt gezielt durchsehen wird. Solche Umstände liegen
etwa vor, wenn der Verkäufer dem Käufer im Zusammenhang mit möglichen
Mängeln ein Sachverständigengutachten überreicht (Senat,
Urteil vom 12. November 2010 - V ZR 181/09, NJW 2011, 1280 Rn. 11).
Ein verständiger und redlicher Verkäufer kann dagegen nicht
erwarten, dass ein Käufer Finanzierungsunterlagen oder einen ihm übergebenen
Ordner mit Unterlagen zu dem Kaufobjekt darauf durchsieht, ob in die
Einfriedung des Grundstücks möglicherweise fremder Grund einbezogen wurde.
Dies gilt hier umso mehr, als die Klägerin aufgrund des
ausdrücklichen Hinweises in der Objekt- und Lagebeschreibung auf die
Umfriedung des Grundstücks mit Zaun und Eingangstor ersichtlich keinen Grund
für die Annahme hatte, dass in diese Teile des Nachbargrundstücks einbezogen
sein könnten, und sie daher erkennbar auch keinen Anlass hatte, die Frage
des Grenzverlaufs einer näheren Prüfung zu unterziehen.
8 3. Rechtsfehlerhaft nimmt das Berufungsgericht an, unabhängig von der
Frage der Erfüllung der Aufklärungspflicht scheide eine Haftung der
Beklagten jedenfalls deswegen aus, weil aufgrund der Übergabe des Ordners,
der neben zahlreichen anderen Unterlagen auch einen Lageplan des Grundstücks
enthalten habe, kein arglistiges Verhalten der Beklagten festgestellt werden
könne.
9 Auf die Frage, ob die Beklagten arglistig gehandelt haben, kommt
es nicht an. Denn es geht hier nicht um Verhaltenspflichten der Beklagten im
Zusammenhang mit der Beschaffenheit der Kaufsache. Zur Beschaffenheit des
verkauften Grundstücks Fl.-Nr. 275 gehört es nicht, dass es sich auch auf
Teile des Nachbargrundstücks Fl.-Nr. 274 erstreckt. Dies
könnte auch nicht Gegenstand einer Beschaffenheitsvereinbarung sein;
vielmehr legte eine solche Vereinbarung den Kaufgegenstand selbst und nicht
lediglich dessen Beschaffenheit fest (vgl. zu einem solchen
Sachverhalt Senat, Urteil vom 18. Januar 2008 - V ZR 174/06, NJW 2008,
1658). Da der Sachbereich der §§ 434 ff. BGB somit nicht betroffen
ist, kann uneingeschränkt auf die Grundsätze des Verschuldens bei
Vertragsschluss zurückgegriffen werden (vgl. hierzu Senat, Urteil
vom 26. Januar 1996 - V ZR 42/94, NJW-RR 1996, 690).
10 Unabhängig davon hat das Berufungsgericht fehlerhaft den subjektiven
Tatbestand der Arglist der Beklagten verneint. Eine arglistige
Verletzung der Aufklärungspflicht liegt dann vor, wenn der Beklagte zu 2,
dessen Verhalten sich die Beklagte zu 1 gemäß § 278 BGB zurechnen lassen
muss, gewusst oder zumindest damit gerechnet und billigend in Kauf genommen
hat, dass die Klägerin keine Kenntnis von den tatsächlichen
Grundstücksgrenzen hatte (Senat, Urteil vom 26. Januar 1996 - V ZR
42/94, NJW-RR 1996, 690). Zwar trägt die
Klägerin die Darlegungs- und Beweislast auch für den subjektiven Tatbestand
der Arglist. Da es sich bei der unterbliebenen Aufklärung aber um eine
negative Tatsache handelt, kommen ihr Erleichterungen nach den Grundsätzen
der sekundären Darlegungslast zugute. Daher ist es Sache der Beklagten,
diejenigen Umstände in räumlicher, zeitlicher und inhaltlicher Weise zu
konkretisieren, aufgrund deren sie von einer Kenntnis der Klägerin über die
tatsächlichen Grundstückverhältnisse ausgegangen sein wollen
(Senat, Urteil vom 12.
November 2010 - V ZR 181/09, BGHZ 188, 43, 48 Rn. 15).
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts rechtfertigen die von den
Beklagten vorgetragenen Umstände nicht deren Annahme, die Klägerin sei über
den tatsächlichen Grenzverlauf im Bilde gewesen. Wie bereits
ausgeführt, durfte ein verständiger und redlicher Verkäufer nicht davon
ausgehen, mit der Übergabe von Finanzierungsunterlagen sowie eines Ordners
mit verschiedensten Unterlagen der Klägerin die erforderliche Kenntnis über
die von der Einfriedung des Grundstücks abweichenden Grundstücksgrenzen
verschafft zu haben.
11 4. Der Rechtsstreit ist nicht zur Endentscheidung reif, da das
Berufungsgericht offen gelassen hat, ob die Beklagten ihre
Aufklärungspflicht - wie sie behaupten - durch einen ausdrücklichen
mündlichen Hinweis auf den tatsächlichen Grenzverlauf erfüllt haben. Die
Klärung dieser Frage ist vom Berufungsgericht nachzuholen. Daher ist das
Urteil aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
12 Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
Bejaht das Berufungsgericht einen Schadensersatzanspruch der Klägerin wegen
Verschuldens bei Vertragsschluss, so ist als zu ersetzender Schaden nicht
die Differenz zwischen dem Wert des Grundstücks mit und ohne Vorgarten
anzusetzen. Denn der zum Nachbargrundstück gehörende Vorgartenbereich ist
nicht Gegenstand des Kaufvertrages. Vielmehr ist der Betrag
maßgeblich, um den die Klägerin wegen der unterlassenen Aufklärung das
verkaufte Grundstück zu teuer erworben hat.
Sie ist also so zu behandeln, als wäre es ihr bei Kenntnis
der wahren Sachlage gelungen, den Kaufvertrag zu einem günstigeren Kaufpreis
abzuschließen; dabei kommt es nicht darauf an, ob sich die Beklagten mit
einem niedrigeren - objektiv angemessenen - Kaufpreis einverstanden erklärt
hätten (Senat,
Urteil vom 6. April 2001 - V ZR 394/99, NJW 2001, 2875, 2877 mwN).
Das Berufungsgericht wird daher zu prüfen haben, ob und in welcher Höhe der
Klägerin über die Kosten eines eventuellen Rückbaus des Vorgartens hinaus
ein weiterer Schaden entstanden ist.
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