Rücktrittsausschluss bei unerheblichem Sachmangel (§ 437 Nr. 2, 323 Abs. 5 S. 2 BGB)


BGH, Beschluss vom 8. Mai 2007 - VIII ZR 19/05


Fundstelle:

NJW 2007, 2111


Amtl. Leitsatz:

Ein Sachmangel stellt eine unerhebliche Pflichtverletzung dar, die den Käufer gemäß § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB nicht zum Rücktritt berechtigt, wenn er im Sinne von § 459 Abs. 1 Satz 2 BGB aF den Wert oder die Tauglichkeit der Kaufsache nur unerheblich mindert. Bei einer Abweichung des Kraftstoffverbrauchs eines verkauften Neufahrzeugs von den Herstellerangaben um weniger als 10 % ist ein Rücktritt vom Kaufvertrag daher ausgeschlossen (im Anschluss an BGH, Urteil vom 18. Juni 1997 - VIII ZR 52/96, BGHZ 136, 94).


Zentrale Probleme:

Im Mittelpunkt der Entscheidung steht der Rücktrittsausschluss im Falle einer „unerheblichen Pflichtverletzung“ gem. § 323 V 2 BGB: Anders als das bis zum 1.1.2002 geltende Kaufrecht schließt das reformierte Kaufrecht im Falle unerheblicher Sachmängel Gewährleistungsansprüche des Käufers nicht mehr vollständig aus. Während nach § 459 I 2 BGB a.F. eine „unerhebliche Minderung des Werts oder der Tauglichkeit“ schon das Vorliegen eines Sachmangels als solchen ausschloss, wirkt sich die Unerheblichkeit eines Sachmangels nach dem reformierten Kaufrecht lediglich auf Art und Inhalt des Gewährleistungsrechtsbehelfs aus: Ist – was der Verkäufer darzulegen und zu beweisen hat – die „Pflichtverletzung“ unerheblich, kann der Käufer gem. § 323 V 2 BGB nicht zurücktreten. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen eines Anspruchs auf Schadensersatz statt der Leistung vor, schließt § 281 I 3 BGB (ggf. über die Verweisungen in §§ 283 S. 2, 311 a II 3 BGB) auch den Schadensersatz statt der „ganzen“ Leistung aus, das heißt der Käufer kann im Wege des Schadensersatzes statt der Leistung nur die Differenz zwischen Soll-Wert und Ist-Wert des Kaufgegenstandes geltend machen („kleiner“ Schadensersatz), nicht aber unter Rückgabe der Kaufsache Ersatz des Ist-Wertes verlangen. Dem Käufer verbleiben dann Nacherfüllung (§ 439 BGB), Minderung (s. § 441 I 2 BGB) und „kleiner“ Schadensersatz (zu den Abgrenzungsfragen zu Teillieferungen s. S. Lorenz, NJW 2003, 3097 m.w. Nachw.). Dem liegt der auch im UN-Kaufrecht (CISG) geltende Grundsatz der Vertragserhaltung zu Grunde: Der Käufer soll einen Sachmangel nicht zum Anlass nehmen dürfen, sich aus sachfremder Erwägung wie z.B. Kaufreue vom Kaufvertrag zu lösen. Das ist dann der Fall, wenn trotz der Mangelhaftigkeit sein Leistungsinteresse „im Grunde nicht gestört ist“ (BT-Dr 14/6040, S. 187).

Im vorliegenden Fall ging es um die Abweichung des tatsächlichen Benzinverbrauchs eines Neuwagens von den Herstellerangaben. Voraussetzung der Gewährleistung ist dabei zunächst Vorliegen eines Sachmangels (§ 434 BGB), was sich hier wohl im Rahmen des „objektiven Fehlerbegriffs“ aus § 434 I 3 BGB ergab. Minimale Abweichungen dürften dabei bereits das Vorliegen eines Sachmangels ausschließen (s. aber LG Ravensburg, NJW 2007, 2127: Abweichung von 3,03 % als Sachmangel). Bei der Frage der Unerheblichkeit orientiert sich der Senat an seiner bisherigen Rechtsprechung zu § 459 I 2 BGB und zieht die Grenze zur Unerheblichkeit bei einer Abweichung von 10 %.

Die Orientierung an der Rechtsprechung zu § 459 I 2 BGB a.F. dürfte grundsätzlich auch dem Willen des Gesetzgebers entsprechen. Es sollte insoweit aber dennoch auf die unterschiedliche Zwecksetzung beider Regelungen geachtet werden: Während § 459 I 2 BGB a.F. dem Grundsatz „minima non curat praetor“ folgend jedweden Gewährleistungsanspruch ausschloss, dienen die §§ 323 V 2, 281 I 3 BGB dem Grundsatz der Vertragserhaltung. Dies steht einer – vom Senat sicher auch nicht intendiert – „blinden“ Übertragung der Rechtsprechung zu § 459 I 2 BGB a.F. entgegen. Immer dort, wo diese maßgeblich davon geprägt war, den Käufer nicht vollständig rechtlos zu stellen, ist eine Übertragung auf das neue Recht zumindest nicht ohne Weiteres angebracht. So ist es etwa bedenklich, wenn der BGH im Falle einer arglistigen Täuschung über einen an sich unerheblichen Sachmangel in Anlehnung an seine frühere Rechtsprechung Unerheblichkeit i.S. von § 323 V 2 BGB verneint (
BGH NJW 2006, 1960; krit. dazu H. Roth, JZ 2006, 1026; S. Lorenz, NJW 2006, 1925; zust. Wertenbruch, LMK 2006, 182969; Reinking, NJW 2007, 2112).

Vorliegend vermeidet der Senat – wie schon in NJW 2006, 1960 – die Aufstellung abstrakter Maßstäbe für die Frage der „Unerheblichkeit“. Richtigerweise sollte man dabei grundsätzlich vom Parteiwillen ausgehen und primär nach der Vertragswesentlichkeit fragen. Ebenso wie das UN-Kaufrecht eine vertragliche Definition der „Wesentlichkeit“ einer Vertragsverletzung als Voraussetzung einer Vertragsauflösung nach Art. 25, 49 I lit. a CISG zulässt, definieren auch im nationalen Recht primär die Parteien nicht nur den Fehlerbegriff, sondern auch die Erheblichkeit eines Mangels. Zutreffend hält deshalb die in der Literatur vorherrschende Ansicht einen Mangel zumindest in der Regel dann nicht für unerheblich, wenn die betreffende Beschaffenheit Gegenstand einer Garantie war. Gleiches muss gelten, wenn sie lediglich Gegenstand einer Beschaffenheitsvereinbarung im Sinne des subjektiven Fehlerbegriffs war: Was ausdrücklich vereinbart wird, ist nach dem Parteiwillen in der Regel gerade nicht unerheblich. Damit ist es ausgeschlossen, für die Frage der Unerheblichkeit ausschließlich objektive oder ökonomische Kriterien gelten zu lassen. Man stelle sich etwa vor, der Käufer bekommt an Stelle des geschuldeten roten Autos ein blaues geliefert: Der objektive Wert der Leistung ist durch die unterschiedliche Farbe nicht affektiert, dennoch kann der Mangel nicht als unerheblich bezeichnet werden, wenn dem Käufer ein blaues Auto schlicht nicht gefällt. Im Rahmen eines Handelskaufs wird man angesichts der Absetzbarkeit und Austauschbarkeit auch minderwertiger Waren einen strengeren Maßstab anlegen können. Aus diesem Grund setzt auch etwa das UN-Kaufrecht in Art. 25, 49 I lit. a CISG der Vertragsauflösung eine äußerst hohe, § 323 V 2 BGB noch übersteigende Schwelle, die sich aber hierauf nicht ohne Weiteres übertragen lässt. Es wäre deshalb auch nicht angebracht, wie in Teilen von Rechtsprechung und Literatur gefordert, unter dem neuen Recht in Anlehnung an das UN-Kaufrecht generell einen deutlich strengeren Maßstab anzulegen als unter § 459 I 2 BGB a.F. Bei behebbaren Sachmängeln würde dies auch mittelbar den Nacherfüllungsanspruch des Käufers entwerten, weil Letzterem jedes Druckmittel fehlte, diesen effektiv durchzusetzen. Denn der Verkäufer, der bei unerheblichen Mängeln die Nacherfüllung grundlos verweigert, riskiert nicht mehr die Rückabwicklung des Vertrags, sondern allenfalls Minderung. Er wird weit weniger gewillt sein, Reklamationen effektiv und zeitnah nachzugehen.

Im Umkehrschluss ist der Entscheidung zu entnehmen, dass eine die 10 %-Grenze übersteigende Abweichung des Benzinverbrauchs von den Herstellerangaben nicht unerheblich ist und den Käufer zum Rücktritt berechtigt. Das kann aber nicht pauschal auf jedwede Fallkonstellation übertragen werden. Zunächst steht es einem Kfz-Verkäufer frei, im Rahmen des vorrangigen subjektiven Fehlerbegriffs durch eine abweichende Beschaffenheitsvereinbarung (§ 434 I 1 BGB) oder aber durch ausdrückliche Distanzierung von Herstellerangaben eine Haftung für Abweichungen im Benzinverbrauch zu vermeiden. Distanziert er sich vor Abschluss des Kaufvertrags ausdrücklich von diesen, bleibt die Angabe nämlich im Rahmen der Haftung für Werbeangaben nach § 434 I 3 BGB außer Betracht, weil sie dann „die Kaufentscheidung nicht beeinflussen konnte“. Das muss auch im Rahmen eines Verbrauchsgüterkaufs möglich sein, weil es insoweit nicht um einen nach § 475 BGB unzulässigen Gewährleistungsausschluss, sondern um die vorgelagerte Frage des Vorliegens eines Sachmangels geht (s. dazu S. Lorenz, in: MünchKomm, 4. Aufl. [2004], § 475 Rdnr. 8). Aber auch auf der Käuferseite ist der Vorrang der Privatautonomie zu beachten: Legt der Käufer besonderen Wert auf eine Einhaltung der Herstellerangaben zum Benzinverbrauch, verbleibt ihm die Möglichkeit, diese im Rahmen einer ausdrücklichen Beschaffenheitsvereinbarung oder einer Garantie zum Vertragsinhalt zu machen. Gelingt ihm dies, ist eine Abweichung auch unterhalb der 10 %-Marke nicht unerheblich. S. auch
BGH v. 12.3.2008 - VIII ZR 253/05 sowie BGH NJW-RR 2010, 1289 und BGH v. 28.5.2014 - VIII ZR 94/13.. Zu § 323 V S. 1 s. auch BGH v. 16.10.2009 - V ZR 203/08.

©sl 2007


Gründe:

1 Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet, weil weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO).

2 Das Berufungsgericht hat angenommen, eine unerhebliche Minderung des Wertes oder der Tauglichkeit einer Kaufsache zu dem gewöhnlichen oder dem nach dem Vertrag vorausgesetzten Gebrauch im Sinne des § 459 Abs. 1 Satz 2 BGB aF sei gleichzusetzen mit einer unerheblichen Pflichtverletzung, die gemäß § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB nicht zum Rücktritt berechtigt. Daraus hat es abgeleitet, dass der Verkäufer, der ein Neufahrzeug liefert, dessen Kraftstoffverbrauch die Herstellerangaben um weniger als 10 % im Durchschnitt der Fahrzyklen nach der EG-Richtlinie 80/1268 EWG in der Fassung 1999/100/EG überschreitet, nur eine unerhebliche Pflichtverletzung begeht, aufgrund derer ein Rücktritt des Käufers ausgeschlossen ist. An der Richtigkeit dieser Beurteilung bestehen keine Zweifel.

3 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 132, 55; 136, 94) stellt es nur eine unerhebliche Minderung des Fahrzeugswerts im Sinne des § 459 Abs. 1 Satz 2 BGB aF dar, wenn der Kraftstoffverbrauch eines verkauften Neufahrzeugs um weniger als 10 % von den Herstellerangaben abweicht, wobei die Abweichung vom Durchschnittswert maßgeblich ist, wenn sich die Herstellerangaben auf verschiedene Fahrzyklen beziehen. Aus den Gesetzesmaterialien zum Schuldrechtsmodernisierungsgesetz (BT-Drs. 14/6040 S. 222 f.) ergibt sich eindeutig, dass § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB gerade in den früheren Fällen des § 459 Abs. 1 Satz 2 BGB aF Anwendung finden soll. Soweit im Schrifttum vertreten wird, die Rechtsprechung zum erhöhten Kraftstoffverbrauch nach altem Recht sei auf das neue Recht nicht übertragbar (Reinking/Eggert, Der Autokauf, 9. Aufl., Rdnr. 250 f.), gilt dies nur für die Mangelhaftigkeit des Fahrzeugs als solche, für die nach geltendem Recht (§ 434 BGB) anders als nach § 459 Abs. 1 Satz 2 BGB aF eine Erheblichkeitsschwelle nicht mehr überschritten zu sein braucht, aber nicht für die Frage, wann nach § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB das Rücktrittsrecht wegen Unerheblichkeit der Pflichtverletzung ausgeschlossen ist.

4 Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kommt es für die Beurteilung der Erheblichkeit der Pflichtverletzung nicht darauf an, ob die Messverfahren nach der EG-Richtlinie 80/1268 EWG in der Fassung 1999/100/EG realitätsnäher sind als die früher maßgeblichen Prüfverfahren, die in den durch die oben genannten Urteile des Bundesgerichtshofs entschiedenen Fällen angewandt worden sind. Die Grenze von 10 % ist keine technische oder physikalische Toleranzgrenze, die sich an Messungenauigkeiten oder Fertigungstoleranzen orientiert. Entscheidend sind vielmehr - ausgehend vom Maßstab des § 459 Abs. 1 Satz 2 BGB aF - die Auswirkungen, die der Kraftstoffmehrverbrauch für den Käufer im Hinblick auf den Wert des Fahrzeugs hat (BGHZ 136, 94, 98 f.). Diese sind, wie oben ausgeführt, auch für die Beantwortung der Frage maßgeblich, ob eine nachteilige Abweichung von der nach § 434 BGB geschuldeten Beschaffenheit des Fahrzeugs eine unerhebliche Pflichtverletzung im Sinne von § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB darstellt. Letzteres hat das Berufungsgericht bei dem von ihm festgestellten Kraftstoffmehrverbrauch von 11 % im städtischen Verkehr, 7 % im außerstädtischen Verkehr und 6 % im Durchschnitt der Fahrzyklen nach alledem zutreffend angenommen.