Sittenwidrigkeit von
Verträgen nach § 138 I BGB ("Schenkkreise" im Schneeballsystem),
Rückforderungsausschluss nach § 817 S. 2 BGB: Keine Anwendung bei
Perpetuierung der Sittenwidrigkeit (Schutzzweck der Nichtigkeitssanktion);
Verhältnis zu § 762 I BGB (Rückforderungsausschluss bei Spiel und Wette)
BGH, Urteil vom 10.
November 2005 - III ZR 72/05 - LG Koblenz
Fundstelle:
NJW 2006, 45
Amtl. Leitsatz:
Der Kondiktionssperre
nach § 817 Satz 2 BGB können ausnahmsweise der Grund und der Schutzzweck der
Nichtigkeitssanktion (§ 138 Abs. 1 BGB) - hier: sittenwidriger, nach dem
Schneeballsystem organisierter "Schenkkreis" - entgegenstehen.
Zentrale Probleme:
Es geht um die Rückforderung von Zahlungen in sog. "Schenkkreisen". Hierbei
handelt es sich um meist in 4 Stufen hierarchisch aufgebaute
Schneeballsysteme. Die Teilnehmer der untersten Stufe zahlen Geldbeträge an
die Teilnehmer der ersten Stufe, welche daraufhin aus dem System ausscheiden
(s. dazu beispielhaft die Sachverhaltsdarstellung in BGH NJW 1997, 2314; zur
Strafbarkeit nach § 6c UWG aF = 16 II UWG nF s. BGHSt. 43, 270). Die
"Schenkbeträge" variieren dabei offenbar zwischen 100 und 5000 € (zum
Hintergrund s. etwa die sorgsame Dokumentation unter
www.mlm-beobachter.de/mlm/schenkkreise.htm). Die Zahlenden rücken
daraufhin eine Stufe auf, müssen aber ihrerseits neue Teilnehmer auf der
Stufe unter ihnen anwerben, d.h. nach jeder “Spielrunde” sind für jeden
Beschenkten (meist) acht neue Geldgeber zu finden. Die Zahl der zu findenden
neuen Geldgeber steigert sich damit exponentiell mit der Existenzdauer des
Kreises. Das führt dazu, dass lediglich die Initiatoren sichere Gewinne
machen, spätere Teilnehmer aber aufgrund der großen Zahl der anzuwerbenden
Mitspieler (4096 Mitglieder in der 10. Runde, über 4 Millionen in der 20.
Runde!) kaum eine realistische Chance auf einen eigenen Gewinn haben,
sondern ihren Einsatz zwangsläufig verlieren. Ein Neueinsteiger, der schon
bezahlt hat, wahrt jedenfalls seine (nur theoretische) Chance, selbst einmal
"beschenkt" zu werden, nur, wenn er selbst neue Opfer findet. In den
vorliegenden Fallgestaltungen fordern solche neuangeworbenen Opfer den
jeweils an den in der Pyramide oben stehenden Teilnehmer gezahlten Betrag
zurück.
Der BGH
bestätigt zunächst das Berufungsgericht in der Ansicht, dass es sich bei den
"Schenkkreisen" um sittenwidrige Schneeballsysteme handelt und der zugrunde
"Spielvertrag" nach § 138 Abs. 1 BGB wegen Sittenwidrigkeit nichtig ist. Das
entspricht ganz h.M. in Rechtsprechung und Literatur und wird – soweit
ersichtlich – auch nirgends ernsthaft bestritten (aus der Rspr. s. nur BGH
NJW 1997, 2314 m.w.N.). Da somit die geleisteten Zahlungen rechtsgrundlos
erfolgt waren, bestand dem Grunde nach vollkommen unproblematisch ein
Rückzahlungsanspruch aus dem Gesichtspunkt einer Leistungskondiktion (§ 812
I S. 1 Alt. 1 BGB). Dieser ist, was der Senat in der gebotenen Kürze
klarstellt, nicht etwa bereits nach § 762 I S. 2 BGB ausgeschlossen: Diese
Regelung steht bei Spiel und Wette einer Rückforderung nur im Hinblick auf §
762 I S. 1 BGB, d.h. unter Berufung auf die Tatsache entgegen, dass eine
Verbindlichkeit nicht begründet wird. Leidet die damit immerhin als causa
für das Behaltendürfen taugliche Spielverbindlichkeit unter einem anderen
nichtigkeitsbegründenden Mangel (etwa Wettbetrug, Falschspiel, Anfechtung
etc.), steht einer damit begründeten Rückforderung aus Bereicherungs- oder
Deliktsrecht jedenfalls nicht § 762 I S. 2 BGB entgegen (s. dazu bereits
BGHZ 37, 363, 366 ff).
Damit war die
zentrale Frage diejenige eines Kondiktionsausschlusses nach § 817 S. 2
BGB. Dieser nach seinem Wortlaut nur auf den Rückforderungsanspruch aus
§ 817 S. 1 BGB bezogene Ausschlusstatbestand wird bekanntlich in zweifacher
Hinsicht erweitert ausgelegt: Einerseits findet er auch auf die "allgemeine"
Leistungskondiktion aus § 812 I S. 1 Alt. 1 BGB Anwendung, weil der
praktische Anwendungsbereich der Vorschrift sonst äußerst gering wäre (sog.
"Ausdehnungstheorie"). Weiter genügt entgegen dem Wortlaut ("gleichfalls")
für den Rückforderungsausschluss bereits Sittenwidrigkeit alleine auf Seiten
des Leistenden, was hier freilich wegen des beiderseitigen Sittenverstoßes
nicht von Bedeutung war (s. zum Ganzen nur Staudinger-W. Lorenz,
1999, § 817 BGB Rn. 10). Diese Ausdehnung hat nun freilich sogleich wieder
das Bedürfnis nach einer Einschränkung des Wirkungsgebiets dieser Vorschrift
unter teleologischen Gesichtspunkten geweckt. Der BGH hält § 817 S. 2 BGB
nämlich zu Recht für eine "dem Zivilrecht an sich fremde Regelung, die nicht
selten zu unbilligen Ergebnissen führen kann", weswegen sie "von ihrem Zweck
her" in bestimmten Grenzen gehalten werden müsse (BGHZ 75, 299, 305). Worin
immer man auch den Zweck der Vorschrift sehen mag (Sanktion für
sittenwidriges Verhalten, Prävention, Rechtsschutzverweigerung für den
sittenwidrig Handelnden, wobei die Rspr. des BGH häufig letzteres betont, s.
zuletzt BGH NJW 2005, 1490: Kauf eines Radarwarngeräts), so besteht doch
Einigkeit darüber, dass ihre Anwendung jedenfalls nicht dazu führen soll,
einen sittenwidrigen Zustand zu perpetuieren bzw. sittenwidriges Handeln zu
fördern. Hierfür ist auf den Schutzzweck der Nichtigkeitssanktion
abzustellen. Genau dies ist hier nach zutreffender Ansicht des Senats der
Fall: Ein Rückforderungsausschluss würde, wie der BGH zu Recht betont, das
"Spiel" in keiner Weise unterbinden, sondern wegen der dort praktizierten
Vorleistung de facto "legalisieren" und die Initiatoren solcher "Spiele" zum
Weitermachen geradezu einladen. Anders als etwa das OLG Köln (OLG
Köln NJW 2005, 3290) wendet der Senat daher § 817
S. 2 BGB nicht an und bejaht einen Rückzahlungsanspruch des "Mitspielers".
Die Entscheidung zeigt ein weiteres Mal, dass hinter §
817 S. 2 BGB zumindest auch ein dem Zivilrecht gerade nicht vollkommen
fremder Gedanke der Generalprävention zu sehen ist (s. dazu etwa auch §§
241a, 661a BGB). Dieser gibt wesentlich mehr Anhaltspunkte für die Erzielung
überzeugender Einzelergebnisse als derjenige der Rechtsschutzverweigerung.
Das vorliegend erzielte Ergebnis überzeugt damit teleologisch wie
dogmatisch: Mitspieler sog. "Schenkkreise" dürfen nicht darauf vertrauen,
erhaltene Beträge behalten zu dürfen. Nach einer neueren Entscheidung gilt
das - aus eben diesen präventiven Gründen - nicht nur zu Lasten der
Initiatoren, sondern auch zu Lasten "gutgläubiger" Mitspieler, die selbst
Opfer der Initiatoren sind, s. BGH v. 13.3.2008,
III ZR 282/07 = NJW 2008, 1942. Zur Verjährung der Ansprüche s.
BGH v. 18.12.2008 - III ZR 132/08.
Zum Kondiktionsausschluss nach § 817 S. 2 s. auch die Anm.
zu BGH NJW
1994, 187,
BGH NJW 2005, 1490
sowie zu BGH v. 21.6.2012 - III ZR 291/11;
zum Verhältnis zur Vindikation s.
RGZ 145, 152. Zur Unanwendbarkeit von § 817 BGB
auf Fälle der Nichtleistungskondiktion s.
BGH NJW 2003, 582.
©sl 2005
Tatbestand:
Der Kläger verlangt die Rückerstattung eines Betrages, den er am 19.
November 2003 im Zuge der Teilnahme an einem sogenannten "Schenkkreis" an
die Beklagte gezahlt hat.
Die "Schenkkreise" waren nach Art einer Pyramide organisiert. Die an der
Spitze stehenden Mitglieder des "Empfängerkreises" erhielten von ihnen
nachgeordneten "Geberkreisen" bestimmte Geldbeträge. Darauf schieden die
"Beschenkten" aus dem "Spiel" aus; an ihre Stelle traten die Mitglieder der
nächsten Ebene, die nunmehr die Empfängerposition einnahmen. Es galt dann,
genügend Teilnehmer für neu zu bildende "Geberkreise" zu finden, die bereit
waren, den festgelegten Betrag an die in den "Empfängerkreis" aufgerückten
Personen zu zahlen. Die Anwerbung war Sache der auf der untersten Reihe
verbliebenen "Mitspieler".
In Kenntnis des vorbeschriebenen Systems trat der Kläger in einen
"Geberkreis" ein und zahlte an die Beklagte, die mit anderen den
"Empfängerkreis" besetzt hatte, 1.250 €. Er wollte weiter im Spiel bleiben
und selbst später "Beschenkter" werden.
Amtsgericht und Berufungsgericht haben dem Kläger die eingeklagten 1.250 €
nebst Zinsen und 13,70 € Auslagen zugesprochen. Mit der von dem
Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag,
die Klage abzuweisen, weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision ist unbegründet.
I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die den "Schenkkreisen" zugrunde
liegende Spielvereinbarung sei sittenwidrig und daher nichtig. Es habe sich
um ein Schneeballsystem gehandelt. Die "Schenkkreise" seien darauf angelegt
gewesen, den ersten "Mitspielern" einen sicheren Gewinn zu verschaffen,
während die große Masse der späteren Teilnehmer keine Chance auf einen
Gewinn gehabt habe und ihren "Einsatz" habe verlieren müssen; denn in
absehbarer Zeit habe die für das Aufrücken der - größer werdenden - Zahl von
"Gebern" in den "Empfängerkreis" notwendige, immer größer werdende Zahl von
"Schenkern" nicht mehr gewonnen werden können.
Den aufgrund der nichtigen Vereinbarung gezahlten Betrag könne der Kläger
unter dem Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung von der
Beklagten zurückfordern. Der Anspruch sei nicht gemäß § 817 Satz 2 BGB
ausgeschlossen, weil der Kläger - als Leistender - selbst gegen die guten
Sitten verstoßen habe. In dieser Phase des "Spiels" sei er noch passiv
gewesen. Im Übrigen sei es mit Treu und Glauben nicht zu vereinbaren, wenn
die Beklagte den durch anstößiges Verhalten erlangten Vorteil behalten
dürfte, während diejenigen, die sie wie der Kläger "beschenkt" hätten, Opfer
des Schneeballsystems würden.
II. Das Berufungsurteil hält der rechtlichen Prüfung stand. Der Kläger kann
von der Beklagten Zahlung von 1.250 € nebst Zinsen und Auslagen fordern.
1. Anspruchsgrundlage ist § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB. Dem Kläger steht
diese Leistungskondiktion zu, weil er 1.250 € ohne rechtlichen Grund an die
Beklagte gezahlt hat. Die Vereinbarung des "Schenkkreises" war, da auf ein
Schneeballsystem gerichtet, sittenwidrig und damit nichtig (§ 138 Abs. 1
BGB; vgl. BGH, Urteil vom 22. April 1997 - XI ZR 191/96 - NJW 1997, 2314,
2315). Das stellt auch die Revision nicht in Frage.
2. Der Bereicherungsanspruch scheitert entgegen der Annahme der Revision
nicht an § 817 Satz 2 BGB. Danach ist eine Rückforderung ausgeschlossen,
wenn dem Leistenden gleichfalls ein Gesetz- oder Sittenverstoß zur Last
fällt. Das Berufungsgericht hat dazu ausgeführt, es spreche zwar einiges
dafür, dass der Kläger sich der Sittenwidrigkeit der Spielanlage bewusst
gewesen sei oder sich zumindest dieser Einsicht leichtfertig verschlossen
habe. Mit der Zahlung an die Beklagte habe er indes nicht unmittelbar
sittenwidrige Ziele verfolgt; er sei in dieser Phase des "Spiels" passiv
gewesen. Ob dem zu folgen ist, kann dahinstehen.
Dem Berufungsgericht ist jedenfalls darin zuzustimmen, dass der Grund und
der Schutzzweck der Nichtigkeitssanktion (§ 138 Abs. 1 BGB) hier -
ausnahmsweise - gegen eine Kondiktionssperre gemäß § 817 Satz 2 BGB sprechen
(vgl. zu einer solchen Einschränkung des § 817 Satz 2 BGB im Hinblick auf
den Zweck eines Verbotsgesetzes in Verbindung mit dem Grundsatz von Treu und
Glauben: BGHZ 111, 308, 312 f einerseits, BGHZ [Senat] 118, 142, 150, [X.
Zivilsenat] 182, 193 und BGH, Urteil vom 14. Juli 1993 - XII ZR 262/91 - WM
1993, 1765, 1767 andererseits; s. ferner OLG Celle NJW 1996, 2660, 2661; OLG
Köln NJW 2005, 3290, 3291 f; MünchKommBGB-Lieb 4. Aufl. 2004 § 817 Rn. 13;
Erman/H.P. Westermann, BGB 11. Aufl. 2004 § 817 Rn. 15; Larenz/Canaris,
Lehrbuch des Schuldrechts Bd. II Besonderer Teil 2. Halbband 13. Aufl. 1994
S. 166).
a) Die im Streitfall zu beurteilenden, nach dem Schneeballsystem
organisierten "Schenkkreise" waren anstößig (§ 138 Abs. 1 BGB), weil die
große Masse der Teilnehmer - im Gegensatz zu den initiierenden
"Mitspielern", die (meist) sichere Gewinne erzielten - zwangsläufig keinen
Gewinn machten, sondern lediglich ihren "Einsatz" verloren. Das "Spiel"
zielte allein darauf ab, zugunsten einiger weniger "Mitspieler"
leichtgläubige und unerfahrene Personen auszunutzen und sie zur Zahlung des
"Einsatzes" zu bewegen (vgl. BGH, Urteil vom 22. April 1997 aaO). Einem
solchen sittenwidrigen Verhalten steuert § 138 Abs. 1 BGB, indem er für
entsprechende Vereinbarungen Nichtigkeit anordnet. Das würde aber, wie das
Berufungsgericht zu Recht ausgeführt hat, im Ergebnis konterkariert und die
Initiatoren solcher "Spiele" zum Weitermachen geradezu einladen, wenn sie
die mit sittenwidrigen Methoden erlangten Gelder - ungeachtet der
Nichtigkeit der das "Spiel" tragenden Abreden - behalten dürften.
b) Der vorstehenden, § 817 Satz 2 BGB einschränkenden Wertung steht nicht
entgegen, dass das aufgrund eines Spiels Geleistete gemäß § 762 Abs. 1 Satz
2 BGB nicht zurückgefordert werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 22. April 1997
aaO). Diese Vorschrift greift nur dann Platz, wenn die Rückforderung auf den
Spielcharakter gestützt wird. Ist die "Spielvereinbarung" - wie hier - gemäß
§ 138 Abs. 1 BGB nichtig, gelten die allgemeinen Regeln (§§ 812 ff BGB; vgl.
OLG Bamberg NJW-RR 2002, 1393, 1394; LG Trier NJW 1990, 313; LG Freiburg
NJW-RR 2005, 491, 492; Staudinger/Engel, BGB [2001] § 762 Rn. 26; Janoschek
im Bamberger/Roth, BGB 2003 § 762 Rn. 17; MünchKommBGB-Habersack 4. Aufl.
2004 § 762 Rn. 13 und 24; Palandt/Sprau, BGB 64. Aufl. 2005 § 762 Rn. 10). |